Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Im Dornröschenschlaf

Der graue Dornröschenturm hatte sein Festgewand, das tiefpurpurne Rosenkleid, angelegt. Niemand hätte den alten grisigen Gesellen in diesem verkörperten Blütenmärchen wiedererkannt. In einer dichten Hecke umwucherten die leuchtendroten Rosen das verwitterte Bauwerk. Sie kletterten zu den runden Fenstern empor und nickten Dornröschen ihren lachenden Gruß zu: ja, bis hinauf zum Dachfirst, wo die blaugrauen Schwälbchen nisteten, verstiegen sie sich. Über dem niedrigen Türeingang hing es wie ein Purpurregen. Dornröschen mußte sich tief bücken, wenn sie ihr Reich betrat.

Ihr Reich – ihr ureigenstes! Sie hatte es verteidigt wie eine Löwin ihr Junges. Denn ach, man wollte es ihr nehmen! Und noch dazu für den neuen Verwalter sollte sie es hergeben! Nein, sie tat es nicht, und wenn sich die ganze Welt auf den Kopf stellte!

Die Welt, die hatte anderes zu tun, als sich deshalb auf den Kopf zu stellen. Nicht einmal Mutting tat das; die sagte nur still und gedrückt: »Ja, Kind, dann werden wir woll Vatings Jagdzimmer herrichten müssen.«

»Nein, Mutting, das leid' ich auch nicht!« Dornröschen rief es ganz entsetzt. Die Mutter aus dem Paradies ihrer Erinnerungen vertreiben – wer konnte so grausam sein?

»Wie soll es denn aber sonst werden, Dirn? Du willst nicht aus deinem Turmzimmer 'raus – ich soll das Jagdzimmer nicht geben – ja, wir müssen dem jungen Staberow doch ein standesgemäßes Quartier zur Verfügung stellen.«

Standesgemäß! Das Wort ging dem jungen Fräulein gegen den Strich.

»Wenn er standesgemäß leben will, dann soll er auf seinem Adelsschloß bleiben und nicht eine Verwalterstelle annehmen,« rief sie,

Mutting schüttelte erstaunt den Kopf.

»Kind, der junge Mann hat doch keinerlei Wünsche geäußert; im Gegenteil, seine Ansprüche sind der bescheidensten Art. Aber gerade darum müssen wir ihm den Aufenthalt hier so behaglich als möglich gestalten.«

Leni setzte ihre trotzige Miene auf. Ja, die Bedingungen, die Herr Dürenfurt mit dem Verwalter vereinbart hatte, waren in der Tat durchaus bescheiden: freie Wohnung, Heizung und Licht, den Lebensunterhalt bei Familienanschluß, ein Reitpferd, Verpflegung des Hundes und eine bestimmte Beteiligung am Reinertrag. Trotzdem tat es ihr schon zehnmal leid, daß sie sich hatte erweichen lassen.

»In der Inspektorstube ist es unmöglich, ihn unterzubringen; da tanzen die Mäuse über die Dielen, und die Tapeten hängen in Fetzen von den Wänden,« überlegte Mutter aufs neue. »Außerdem können wir ihm nicht zumuten, im Gesindehaus zu wohnen. Im Turm, da wäre er für sich – –«

»Ja, aber in meinem Turm knistern auch die Mäuse, und die Wände sind mit Rosenknospenmull bespannt! Das ist doch kein Zimmer für einen Herrn; der würde schön darüber lächeln. Aber wenn du durchaus willst, nimm's – meinetwegen – wenn es auch das einzige ist, was mir überhaupt noch Freude macht!«

Mutting sah erschrocken in das heiße Gesicht ihrer Ältesten. Hatte sie nicht sogar Tränen in den Augen?

Frau Lisabeth lächelte schmerzlich, Tränen wegen eines Zimmers! Oh, sie hatte anderes hergeben müssen!

»Du hast recht, Kind. Der Turm müßte erst tapeziert werden, und dazu ist keine Zeit mehr; es würde auch zu viel kosten. Das Jagdzimmer liegt ebenfalls für sich. Ich mache mich gleich ans Auskramen.«

Damit begann Mutting auch schon den kleinen Nußbaumschrank aufzuschließen.

»Mutting, ich bin so schlecht – liebes, liebes Mutting, tu mir das nicht an, daß du hier hinausgehst! Ich hab' mir's nicht überlegt, was ich eben sagte – nimm mein Turmstübchen, ja, Mutting?« bettelte Leni zerknirscht.

»Du sollst kein Opfer mehr bringen, mein Mädchen – hast schon genug geopfert: deine Jugend! Es bleibt dabei!«

Das war Muttings Ton von ehedem, gegen den es keinen Widerspruch gab. Mit schwimmenden Augen und peinigenden Gewissensbissen half Leni Muttings heilige Andenken in das Wohnzimmer hinüberschaffen. Nun war Vaters Zimmer, in dem die Kinder, selbst die wilden Jungen, stets die Andacht einer Kirche zu durchschauern pflegte, leer von allen Andenken, von all den Bildern. Nur die Erinnerung hockte noch irgendwo in einer Ecke und spann unentwegt ihre Fäden in die Vergangenheit zurück. Die ließ sich nicht ausweisen, ob auch grelles Sonnenlicht jetzt in das sonst meist verdunkelte Zimmer flutete, ob auch Gusting mit Wassereimer und Scheuerbürste gründlich gegen alle Empfindsamkeit zu Felde zog.

Dornröschens Freude aber an ihrem Turm, die gerade zur Rosenzeit immer besonders groß war, gestaltete sich in diesem Jahr durchaus nicht ungetrübt. Wenn sie Vatings umkränztes Bild im Wohnzimmer sah, wenn sie Mutting aus dem ungewohnten Platz erblickte, dann hatte sie ein Gefühl, als ob sie die Eltern vertrieben habe.

Eine Woche ist, trotzdem sie stets denselben Zeitraum umfaßt, oft lang, oft kurz. Zur Winterszeit, wenn der Schnee bis über die Kellerfenster auf Nedderdorf lag, schlich sie dahin gleich einer mürrischen Alten. Im Sommer aber, wenn die Sense allenthalben erklang, dann entwischte sie einem lachend unter den Händen wie ein junger Springinsfeld.

Die Woche vor dem 1. Juli hatte nicht Tage genug für Leni. Was gab es alles bis dahin zu tun! Wie ein guter Dienstbote seinen Stolz darein setzt, seinem Nachfolger alles blitzblank zu hinterlassen, so wollte auch das Fräulein Inspektor dem Nachfolger im Amte die Wirtschaft bis aufs kleinste im Stand übergeben.

Jetzt erst sah Leni, wieviel daran fehlte. Wo sie hinkam, machten sich Mißstände breit, und die waren nicht immer in so kurzer Zeit abzustellen. Sicher kam auch noch der Vormund mit, um den neuen Verwalter einzuführen; da wollte sie sich nicht auslachen lassen, nicht um alles in der Welt! Sie wollte beweisen, daß sie was davon verstand, und daß sie eigentlich gar keinen Verwalter brauchte.

Von den Schweinekoben lief das Fräulein zu den Schafställen, ließ hier neue Streu aufschütten und zankte dort über die unsauberen Futtertröge. Sie fuhr die Knechte an, weil die Ackergeräte nicht blank genug waren; ja selbst Jürgens bekam sein Teil wegen einer schon seit Tagen herunterhängenden Holzlatte.

»Dat is jo rein, als ob der Düwel jetzt hier los is,« brummte der Alte, der jede Arbeit in gemächlicher Ruhe zu vollbringen pflegte, und blickte kopfschüttelnd hinter der davoneilenden Leni her.

Die war schon wieder dabei, die Raufen im Pferdestall zu besichtigen. Sie ging dem Pferdejungen, der die Gäule striegelte, nicht von der Pelle, so daß er mit schief abgewandtem Kopf scheu zu ihr hin blinzelte, aus Angst, es könnten ihm plötzlich ein paar unvorhergesehene Katzenköpfe um die Ohren brummen. Leni aber musterte tiefsinnig den Schimmel, die Braunen und den Fuchs! welchen von allen sollte sie als Reitpferd dem jungen Staberow stellen? Die Ackergäule kamen nicht in Frage; der Schimmel war zu alt, und lumpen lassen durfte sie sich nicht, weil der Verwalter vorläufig keine Barzahlung erhielt. Da blieb nur noch Vatings Fuchs.

Leni streichelte dem klug die Nüstern hebenden Tier den glänzenden Rücken, wie um Entschuldigung bittend, daß er, einst Vatings getreuer Begleiter, jetzt diesem Fremden ausgeliefert werden sollte. Die blauen Mädchenaugen und die schwarzen Pferdelichter sahen sich gegenseitig verstehend an. »Man muß Opfer bringen,« lasen die einen aus den anderen.

Ja, auch Dornröschen brachte Opfer. Vatings Schreibtisch wanderte, so schwer Leni sich davon trennte, zurück in das Jagdzimmer, denn ein Schreibtisch gehörte doch vor allem hinein. Sie selbst nahm wieder mit der noch einst von Karl Heinz mit Mull benagelten Holzkiste fürlieb. Darauf sahen die umfangreichen Wirtschaftsbücher seltsam genug aus. Aber Leni brauchte sich jetzt nicht mehr so arg von ihrer Mutter beschämen lassen, da auch sie sich von etwas trennte, das ihr lieb war.

Das Jagdzimmer stand empfangsbereit. Es schaute mit seinen Geweihen und Büchsen, dem kleinen Ledersofa, den blütenweißen Gardinen und der grünen Schreibtischlampe recht gemütlich drein.

»Viel zu schade,« fand Leni.

Dann lief sie schnell hinaus auf die Felder, um auch hier noch flink nach dem Rechten zu sehen. Aber daß die Gerste dünn stand, daß viele Haferhalme, vom Regen zerschlagen, die graugrünen Köpfe hängen ließen, das war leider nicht mehr zu ändern.

Der Juni hatte seine Siebensachen zusammengepackt und war ohne Sang und Klang abgezogen: aber er hatte seinem Nachfolger im Amt die Welt so blitzblank übergeben, wie das Fräulein Inspektor das auch gern mit ihrer Welt im kleinen getan hätte. Der Juli rückte mit frischen Kräften ein und ließ seinen Hitzeatem noch viel sengender über das Land ausströmen, als ob er den Leuten zeigen wollte, daß er das noch viel besser verstände als sein Vorgänger.

Schon am frühen Morgen hatte Leni Hilfstruppen angestellt. Suschen war mittels eines Pfennigs für eine Stange Lakritze dafür geworben worden, das Fallobst im Garten in Körbe zu sammeln und aus den Gemüsebeeten das Unkraut fein säuberlich zu entfernen. So klein das Ding auch war, es wußte genau Suppenkräuter, Mohrrüben, Spinat und Kohlrabi von den Schmarotzerpflanzen zu unterscheiden. Auch die beiden jungen Vagabunden hatten sich, in Aussicht auf eine Extrabelohnung, dazu bereit finden lassen, die Gartenwege mit dem großen Rechen zu bearbeiten. Von den Leuten fand niemand Zeit dazu. Die hatten alle noch in ihrem eigenen Gebiet zu rackern, denn heute machte es niemand dem Fräulein recht.

Aber als Leni jetzt von ihrem Rundgang durch die Wirtschaft zurückkehrte, atmete sie auf; sie konnte zufrieden sein.

Nun noch schnell den Küchenzettel für die nächste Woche mit Dörthe überlegt! Das Mittagessen machte ihr diesmal viel Kopfzerbrechen. Es ging auf Nedderdorf jetzt höchst einfach her, aber gar zu knickerig durfte man sich doch nicht zeigen, sonst erweckte man am Ende noch gar das Mitleid des Neuen. Anderseits war das Wirtschaftsgeld aufs äußerste beschränkt.

»Nee, Dörthe, Weißkohl wollen wir diese Woche nicht kochen, und Kohlrüben ist woll auch nichts Rechtes. Was meinst du, wenn wir mal in den Wald gingen und Pfifferlinge suchten?«

»Jo, Frölen Lening, dat könn' wi jo daun; aber Weißkohl und Kohlrüwen is 'n sehr schönet Eten. Wenn der jung' Herr Verwalter man sein Lebdag so wat hat! Wi könn' doch nich um so 'n adligen jungen Herrn wegen allens up 'n Kopp stellen!« Die Alte brummelte sichtbar ärgerlich.

Leni warf den Kopf zurück.

»Du hast recht, Dörthe! Wem es nicht paßt, der läßt es eben stehen. Wir machen das ruhig weiter, wie wir es gewöhnt sind. Also Montag Weißkohl, Dienstag Kohlrabi, Mittwoch Kohlrüben, Donnerstag Wirsingkohl, Freitag Blumenkohl, Sonnabend Rotkohl und Sonntag Rosenkohl!« So kohlte sich Leni durch die ganze Woche hindurch.

»Gar keen Obstgemüs nich?« gab Dörthe zu bedenken.

»Nee, diese Woche wird Kohl gegessen!« Dornröschen konnte es jetzt nicht einfach genug bekommen. Dem Verwalter wollte sie seine Adelsnücken schon austreiben. Denn daß er welche hatte, schien bombensicher.

Es war nach Tisch. Die Kinder machten Schularbeiten; die Mägde waren in den Wirtschaftsräumen, die Knechte auf dem Felde.

Durch den sonnenglühenden Garten schlenderte Dornröschen langsam ihrem Turme zu. Sie wollte die Rechnungsbücher noch einmal durchsehen. Wenn sie auch die feste Absicht hatte, sich das Zepter nicht ganz entwinden zu lassen und wenigstens die Wirtschaftsbücher weiterzuführen, um genaue Übersicht über alles zu behalten: einen Einblick in die Bücher mußte sie dem Verwalter doch zugestehen. Wie sollte er sich sonst über den Gang der Wirtschaft unterrichten?

Es war Leni ein unbehagliches Gefühl, einem anderen ihre Schreibereien und Rechnereien auszuliefern. Nach den gleichen Grundsätzen, nach denen sie das Gut geleitet hatte, führte sie auch die Bücher: alles kunterbunt durcheinander, wie es ihr gerade einfiel. Zwar hatte Herr Dürenfurt ihr die Bücher eingerichtet und die notwendige Anweisung gegeben. Aber das vielbeschäftigte Fräulein Inspektor hatte zuletzt wenig Muße zum Bücherführen gefunden; die Schrift sah manchmal aus, als ob die Hühner darüber gelaufen wären, und finstere Tintenseen gähnten allenthalben.

Vor dem Rosenturm blieb Dornröschen stehen. Märchenhaft schön sah der heute aus. Alle Knospen hatten sich geöffnet, blühten und glühten im Nachmittagssonnenstrahl. Tief versteckt unter der Rosenhecke stand das Turmbänkchen in kühlem Schatten. Dornröschen ließ sich müde und erschöpft darauf nieder.

Wahrlich, sie hatte ein paar Minuten Erholung heute verdient! Seit fünf Uhr früh war sie unausgesetzt auf den Füßen. Na, morgen konnte sie ja länger schlafen. Aber statt sich darüber zu freuen, empfand Leni das Neue, das ihr von mancher schweren Arbeit Erlösung bringen sollte, doch als eine Beeinträchtigung ihrer Rechte. Sie trennte sich ungern von ihren Inspektorpflichten, trotzdem sie fast unter der Last zusammengebrochen war. Es ging ihr so, wie es bei den Kindern zu sein pflegt: das verachtetste Spielzeug bekommt erst in dem Augenblick Wert, da ein anderes Kind begehrlich die Hand danach ausstreckt.

Ob sie wohl noch ein wenig hier verweilen konnte? Ach, sicher! Sie mußte zwar auch noch ihre Flechten frisch aufstecken und sich ein sauberes Kattunkleid überziehen, denn das heute getragene sah von den Rundreisen durch die Stallungen, Speicher und Scheunen lustig aus. Aber die Inspektoren waren immer erst kurz vor dem Abendessen zugezogen, um sich noch möglichst einen freien Tag zu machen. Der neue Verwalter kam sicher auch nicht früher, und gewiß fuhr er großartig mit dem Wagen vor und brachte hunderterlei Koffer und Krimskram mit. Aber die sollte er nur gefälligst auf den Boden stellen; dafür war kein Platz im Jagdzimmer.

Dornröschen kam nicht dazu, ihrer empörten Meinung über das mutmaßliche Reisegepäck des jungen Staberow Ausdruck zu geben. Denn der 1. Juli hatte seine Sache als des lieben Gottes Weltofenheizer so gut gemacht, daß selbst das tatkräftige Dornröschen sich vergeblich gegen seine erschlaffende Glut wehrte. Der schwüle Julidruck lastete schwer und schwerer auf ihren langbewimperten Augenlidern, bis sich diese schließlich über die blauen Sterne senkten.

Während Dornröschen sanft und friedlich hinter ihrer Rosenhecke am altersgrauen Turm in Schlaf gesunken war, hielt Johannes von Staberow seinen Einzug auf Nedderdorf.

Kein Wagengerassel, kein Peitschenknall meldete seine Ankunft. Der neue Verwalter kam allein und bescheidentlich zu Fuß. Den Koffer brachte ein Bäuerlein auf einem Karren abends nach. Nur Bubi, sein hellbrauner Teckel, folgte ihm getreulich und schnupperte, wie sein Herr Umschau haltend, in die neue Heimat.

Nirgends eine Menschenseele zu finden, genau so wie damals, als Johannes zum ersten Male das Gut betrat! Wie ausgestorben lagen die gerade Kirschenallee und die schön geharkten Wege im Ziergarten da. Alles still; kein Blatt bewegte sich, kein Vogel sang. Mit geschlossenen Fensteraugen träumte das große Gutshaus gegen das blendende Sonnenlicht.

Der neue Verwalter schritt um die Portalseite herum in den Hof. Auch hier alles leer und still. Kein Laut drang aus den Wirtschaftsräumen; nicht einmal ein Brummen der Kühe oder Grunzen der Schweine wurde aus den Ställen vernehmbar.

Dort im Schatten des Jungviehstalls, die Mistgabel kriegerisch im Arm, hielt der alte Jürgens sein Nachmittagsschläfchen. Er war bei der Arbeit eingedöst. Kopfschüttelnd betrachtete ihn Johannes: das mußte hier anders werden!

Vor der Hundehütte, mitten in der glühendsten Prallsonne, machte auch Cäsar sein Nickerchen, das zottige Haupt in beide Vorderpfoten vergraben. Kopfschüttelnd betrachtete ihn Bubi: das mußte hier anders werden!

Weiter ging der junge Herr von Staberow. Im Geflügelhof hatten die Hühner sich faul in den heißen Sand gebuddelt; der Hahn thronte regungslos auf dem Dunghaufen, und der Truthahn lag, zum großen Federklumpen geballt, irgendwo in der Sonne. Die Gänse und Enten hielten schläfrig die gelben Schnäbel gesenkt; die Täubchen auf dem Dach hatten die blauen Köpfe tief in das Gefieder versteckt. Ja, selbst die Fliegen an der Wand schliefen. »Das ist ja hier das reine Dornröschenmärchen,« dachte Johannes halb ärgerlich, halb belustigt. »Man kommt sich schier verzaubert vor. Aber wo mag sie selbst nur sein, das Dornröschen?«

Spähend betrat er den Nutzgarten. Da erblickte er am Ende des Gutshauses zum ersten Male den rosenumsponnenen Turm.

Es war lange her, daß seine Mutter daheim ihren vier wilden Jungen in der Schummerstunde Märchen erzählt hatte. Nach ihrem frühen Tode tat es kein anderer mehr. Darum aber bewahrte Johannes gerade diese Märchenerinnerungen der Kindheit wie ein Heiligtum in seiner Seele.

Und nun war das Märchen plötzlich vor ihm greifbar geworden; hatte Form, Gestalt und Farbe angenommen! Da stand der alte verwitterte Feenturm, von dem die Mutter einst erzählte, über und über mit Rosen behangen. Rosenhecken schoben sich dicht vor das niedrige Türlein und wehrten jedem den Eintritt.

Aber da – verborgen im rosenroten Blütenmeer – schimmerte es dort nicht wie von glänzendem Mädchenhaar? Leise, den Schall seiner Schritte dämpfend, trat Johannes von Staberow näher und bog die dichtverstrickten Purpurzweige zurück.

Da lehnte auf dem Turmbänklein, den Kopf auf Rosen gebettet, das Dornröschen in tiefem Schlummer. Der Mund war halb geöffnet, und die rosigen Wangen hatte der Schlaf noch purpurner gefärbt. Trotz der plumpen, bestaubten Schuhe, trotz des zerdrückten und beschmutzten Kleides und des zerzausten Haares erschien es wie eine junge Prinzessin.

Da lehnte auf dem Turmbänklein das Dornröschen in tiefem Schlummer.

Bubi, der tatenfrohe junge Bursche, den keine Märchenerinnerungen aus der Kindheit fesselten, besaß jedoch weniger Schönheitssinn als sein Herr. Dem fing die Sache an, langweilig zu werden. Er begann plötzlich mit seiner kalten, breiten Teckelnase die herabhängende Rechte der jungen Prinzessin zu beschnuppern.

Da fuhr Dornröschen erschrocken auf. Verschlafen rieb es sich die Augen.

»Erwacht, holdes Dornröschen! Der Prinz ist da,« neckte Johannes von Staberow, »wenn es auch nur ein vierfüßiger Prinz, nämlich mein Teckel, ist, der es wagt, der Märchenprinzessin ergebenst die Hand zu küssen.«

Da mußte Dornröschen doch wider Willen lachen, und der Empfang ging besser vorüber, als sie gedacht hatte.


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