Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Die Rangen von Nedderdorf

Böse Beispiele verderben gute Sitten. Drei Tage nach Lenis verunglückter Verkleidung erschien Suschen zur Schulstunde in einem fast nur noch aus Fetzen bestehenden Anzug von Fränzchen, der ihr bis auf die Füße herabhing.

Entsetzt schaute Leni sie an. Grundgütiger – das Kind sah ja völlig verändert aus! Was hatte es denn bloß mit dem hübschen Lockenkopf angestellt?

Große Löcher waren in die goldene Pracht hineingesäbelt; es sah aus, als ob die Motten in Suschens Haaren gehaust hätten.

»Himmel – Susing – Lüttes – was ist denn bloß mit deinen Haaren passiert?« Leni fuhr aufgeregt durch die verwüsteten seidenweichen Löckchen.

»Och, nix nich – ich hab' mir man bloß die ollen langen Locken 'n bißchen kürzer geschoren. Ich will auch lieber 'n Junge sein; das is viel hübscher,« antwortete Suschen mit strahlendem Gesicht.

Der jungen Lehrerin stieg die Röte des Zornes und der Beschämung in die Wangen; das hatte sie sich selbst zuzuschreiben!

»Schämst du dich denn gar nicht, du unnützes Gör? Erstens sollst du überhaupt keine Schere anfassen, und dann – wie kannst du es wagen, deine Haare allein abzuschneiden!« Dornröschen war sehr böse.

»Sie gehören mir doch,« wandte die Kleine erstaunt ein.

Dagegen war nichts zu sagen, und die abgeschnittenen Locken ließen sich nicht wieder ankleben; aber sonst war Suschens vogelscheuchenartiger Anblick wenigstens zu verbessern.

»Sofort ziehst du dich um,« befahl Leni streng.

Susing schob die Unterlippe vor.

»Nee, du bist ja neulich auch als Jung rümmergelaufen! Denn will ich auch – ich will kein Mädel mehr sein und immer von den ollen Jungs Wichse kriegen; ich will sie selbst verkloppen – aber doll!« Suschen reckte ihre kleinen Arme unternehmungslustig, und ihre Blauaugen blitzten; unwillkürlich mußte Leni dabei an ihr eigenes Spiegelbild als schneidigen Jüngling denken. Sie schämte sich vor dem Kinde.

»Komm, Susing, sei verständig; mit dem zerrissenen Anzug kannst du doch gar nicht gehen,« versuchte sie zu begütigen.

Aber Suschen nahm sich in allem an der großen Schwester ein Beispiel, auch im Eigensinn. Sie fing an zu weinen und trat mit dem Fuß auf. »Nee – du bist ja auch als nüdlicher Jung rümmer gelaufen,« begann sie von neuem.

Diese beständige Erinnerung an ihre eigene Heldentat war Leni durchaus nicht angenehm.

»Donnerwetter, jetzt aber hinauf mit dir, du Gör! Nu rohr (weine) bloß nicht noch! Ich will dich nicht eher wieder sehen, als bis du dich anständig angezogen hast.«

»Und ich will dich auch nicht sehen,« schrie das Trotzköpfchen. »Nein, ich will dich gar nicht mehr sehen! Du bist jetzt überhaupt immer so schlecht zu mir!« Damit schmetterte der kleine Wüterich die Stubentür hinter sich ins Schloß.

Leni hätte jetzt eigentlich hinterdrein laufen müssen und der Kleinen einen Klaps verabfolgen, denn den hatte sie redlich verdient. Aber die letzten Worte des Schwesterchens trafen sie tief.

Hatte Suschen recht? War sie jetzt wirklich schlecht zu ihrem kleinen Liebling? Leni ging scharf mit sich ins Gericht. Na ja, sie fuhr sie öfters einmal an als früher; sie war auch wohl noch ungeduldiger als sonst in den Schulstunden. Daran war eben ihre große Überbürdung schuld. Aber sie hatte doch das lütte Ding so lieb, geradezu mütterlich lieb! Oder hatte sie sich etwa die Zuneigung der kleinen Schwester durch ihre Sorgen und Arbeitslasten verscherzt? Hatte sie über neuen Pflichten ihre alten, hauptsächlichsten versäumt?

Die Schulstunde verrann. Leni saß noch immer in Gedanken an das Schwesterchen vor Suschens Fibel und blickte zärtlich auf den gemalten Esel, der den Buchstaben E einleitete, während Suschen längst schon ihre häßlichen Worte, die Schulstunde und Dornröschen droben in der Kinderstube über ihrem Püppchen vergessen hatte.

Ganz freisprechen konnte sich Leni von einem Unrecht an der Kleinen nicht. An dem heutigen Unfug trug sie doch jedenfalls die Hauptschuld!

Ja, das gute Beispiel! Nichts erzog so, wie gerade dies – kein Lob und kein Tadel. Dahinter war Dornröschen längst schon gekommen. Trotzdem wurde es ihr immer noch schwer, sich jungenhafte Ausdrücke zu verkneifen, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren. Erst wenn sie ihr aus dem Munde des Schwesterchens entgegentönten, das alles aufschnappte, empfand sie, wie häßlich derlei bei einem Mädchen klang; den Jungen mochte es ja noch eher hingehen. Seitdem bemühte sich Leni, etwas mehr auf ihre Ausdrucksweise zu achten, leider allerdings nicht immer mit Erfolg.

Das wurde ihr erst wieder einmal deutlich klar, als sie ihre liebevollen Blicke schließlich von dem Esel löste und die Fibel zuschlug. Sie erschrak, als sie sah, wie lange sie gedöst hatte. Suschen aber, das Schlauköpfchen, hatte sich natürlich die Sache zunutze gemacht und schwänzte einfach den Unterricht!

Leni eilte zum Kinderzimmer. An der halbgeöffneten Tür blieb sie stehen. Suschen saß mit zornig gerötetem Gesicht auf ihrem Kinderstuhl, vor sich ihr Lising, dem sie die Flachshaare ratzekahl abgeschoren hatte, und das in die viel zu kleinen Hosen des Puppenjungen gezwängt war.

»Donnerwetter, rohr nicht! Schämst du dich nicht, du unnützes Gör, dir deine hübschen Locken allein abzuschneiden? Marsch, zieh dir ein anderes Kleid an!« So herrschte die Kleine aufgebracht das völlig geknickte Puppenkind an. Aber noch viel geknickter war die Lauscherin an der Wand, denn ach, sie hörte ja ihre eigene Schande!

»Pfui, Susing, wer wird Donnerwetter sagen? Das ist doch gar nicht schön!« Leni trat aus ihrer Unsichtbarkeit hervor.

»Worüm sagst du das denn immer, wenn es gar nicht schön ist?« erkundigte sich die Kleine verwundert.

Ja – ja, das Beispiel! Dornröschen verbarg ihr errötendes Gesicht in den spärlichen Überresten von Suschens Locken.

»Susing, die schöne Puppe hast du auch verdorben! Solchen Ärger machst du mir heute! Na, hast du mir gar nix zu sagen, nachdem du so unartig warst?«

Trotzköpfchen stand da und bockte.

»Nee,« sagte es schließlich nachdrücklich.

»Aber, Susing, hast du dein Dornröschen denn kein bißchen mehr lieb?« Leni sah wahrhaft bekümmert drein. Wie schwer war es doch, Kinder zu erziehen!

Die Kleine schlang ungestüm die Arme um der Schwester Hals und preßte den vermotteten Blondkopf an ihre Brust.

»Lieb hab' ich dich dölling, Dornröschen, wenn du mich auch anfährst, und die ollen kaputigen Hosen kann ich mir ja ausziehen, und die Locken können meinetwegen wieder wachsen; aber abbitten tu' ich nich – nee! Die Jungs sagen, das is feige – abbitten tu' ich nich!« Suschen rief es voll Heftigkeit.

Wieder fühlte sich Leni durch die Worte des Kindes getroffen. Sie war ja noch ebenso unreif; sie brachte es auch nicht über sich, einzugestehen, wenn sie ihr Unrecht fühlte! Sie hatte noch heute denselben Starrkopf wie das lütte Ding, das kaum den dritten Teil so alt war wie sie. Und da wollte sie erzieherisch einwirken? Erst mußte sie bei sich selbst anfangen!

»Na, dann versprich mir wenigstens, daß du es nicht wieder tun willst,« sagte Dornröschen schließlich, nachdem sie sich mit den lästigen Erwägungen, ihre eigene Person betreffend, so ziemlich abgefunden hatte.

Dazu ließ Trotzköpfchen sich herbei, denn das war ja kein Abbitten. Der Frieden war wieder geschlossen.

Mit schmerzlichen Gefühlen versuchte Leni wenigstens etwas Gleichmaß in den verwilderten Schopf des Schwesterchens zu bringen. Der Dorfschneider, der gleichzeitig Barbier war, würde wohl auch kaum kunstgerechtere Erfolge erzielen als sie; deshalb machte sie es lieber selber. Aber bei jeder Locke, die der quietschenden Schere zum Opfer fallen mußte, gab es Leni einen Stich ins Herz,

Endlich stand Suschen da – ratzekahl wie ihr Puppenkind. Leni hätte weinen mögen über die entstellende Verwandlung, die mit ihrem Herzblatt vorgegangen war. Suschen aber sprang selig im Zimmer umher.

»Nu kannste mich wenigstens nicht mehr so eklig ziepen – und nu bin ich doch 'n Junge, wenn ich auch Mädchenkleider trag'! Nu brauch' ich aber auch keine Strickstunde zu haben; Jungens stricken nicht!« Die Handarbeitstunde war dem lebhaften Kinde stets ein Graus.

Leni hatte aber bereits nach dem Strickkörbchen gegriffen. Um den Schreibunterricht war die Krabbe schon gekommen; heute gab es aber kein Schwänzen mehr.

»Wenigstens im Garten, ja, Dornröschen? Draußen!« bettelte die Kleine, als sie sah, daß es ihr nichts nützte.

Leni war einverstanden.

Stickig heiß war es in den gegen die Sonne verdunkelten Zimmern; draußen aber unter dem großen Apfelbaum wehte erquickende Kühle. Trotzdem rannen Lütt-Susing die Schweißtropfen von der Stirn, während sie den schmutziggrauen Seiflappen fest wie Eisen zwischen ihre kleinen Finger preßte, und die Stricknadeln mißmutig dazu klapperten.

Die Lehrerin saß daneben, putzte Stachelbeeren zum Nachtisch und blickte von Zeit zu Zeit wehmütig auf Suschens glattgeschorenen Jungenkopf. Was würde Mutting bloß sagen?

Über dem Gartenzaun wurde eine blaurote Mütze sichtbar. Bald darauf hörte man das Aufschlagen eines derben Knotenstockes auf den Steintreppen. Oll Grawert, der Landbriefträger, erschien auf der Bildfläche.

»Susing, spring mal eben und sieh, was oll Grawert bringt!«

Das ließ sich Suschen nicht zweimal sagen. Aufatmend schleuderte sie das verhaßte Strickzeug ins Gras und sprang vergnügt davon, während die Maschen ebenso vergnügt von der Nadel hüpften.

Einen großen Pack Geschäftsanzeigen, Zeitungen und leider auch Rechnungen in der Schürze, so kam sie wieder zurück. Leni legte die Rechnungen für Sämereien und Gerätschaften leise seufzend beiseite. Aber ihr Gesicht hellte sich auf, als sie jetzt unter der Zeitung einen umfangreichen Brief aus knisterndem überseeischem Papier hervorzog.

»Miß Ellen Sürsen« stand darauf. Lieber Himmel, wie lange war das her, daß sie so in London geheißen hatte? Eigentlich erst fünf Jahre, aber eine wahre Ewigkeit schlossen diese Jahre in sich!

Leni wurde es warm ums Herz, als sie den Umschlag öffnete. Von Lizzie, ihrer ollen, lieben Dirn! Na, was schrieb sie denn?

Das junge Mädchen vertiefte sich in die steilen Schriftzüge der Base, während Suschen Strickzeug Strickzeug sein ließ und es vorzog, den Stachelbeeren die grünen Schwänzchen auszureißen.

Nein so was! Vetter Bobby ging zum ersten Oktober nach Hamburg, um das großkaufmännische Exportgeschäft auch in Deutschland kennen zu lernen. Ob er dann nicht einmal nach Nedderdorf herüberkam? Es war ja nicht weit! Sie würde sich wirklich herzlich freuen, denn zuletzt waren sie doch eigentlich prächtig miteinander ausgekommen, wenn er zuerst auch so greulich zu ihr gewesen war! Wie mochte der Junge sich wohl entwickelt haben?

»Nein!« Lene stieß es laut hervor und beachtete Suschens neugierigen Einwurf: »Was ist denn los?« ganz und gar nicht. Es war aber auch zu interessant, was Lizzie da schrieb! In Pension sollte sie und kam mit Bobby nach ihrem geliebten Deutschland herüber! Himmelhoch hatte sie die Eltern gebeten, sie nicht in ein englisches Pensionat zu geben, bis sie es schließlich durchsetzte. Am liebsten wäre sie ja natürlich wieder zu ihrer Leni nach Nedderdorf gekommen, wo sie vor vier Jahren die schönste Zeit ihres Lebens zubrachte. Vater hätte ja vielleicht auch eingewilligt, aber Mutter wollte nichts davon hören. »Weißt Du, Dornröschen, eigentlich hat Mama auch recht,« schrieb Lizzie, »daß meine Bildung durch das viele Kranksein und den immerwährend unterbrochenen Unterricht große Lücken aufweist. Aber auf Nedderdorf wäre den Gänsen und Schweinen meine Bildung höchst gleichgültig. Ach, könnte ich zu Dir!«

Leni kam die Spaßhaftigkeit der innigen Zusammenstellung ihrer eigenen Persönlichkeit mit den Gänsen und Schweinen des Gutes nicht so recht zum Bewußtsein, denn sie war tief gerührt durch die Anhänglichkeit und Zärtlichkeit der kleinen Base. Klein? Nein, Lizzie mußte inzwischen fast sechzehn Jahr geworden sein! Ja, ja, man wird nicht allein alt!

Also nach Berlin ging's in Pension? Na, ein schöner Katzensprung von der Hauptstadt des Deutschen Reiches bis nach Nedderdorf! Fast alle Sonntag herüberkommen? Sie war doch noch ein Kindskopf, die Lizzie! Neunzehn Jahr zählte Leni selbst jetzt, und noch nicht einmal hatte sie den »Katzensprung« in die Kaiserstadt unternehmen können. Bittere Gedanken wollten kommen – aber Lizzies heiterer Briefton scheuchte sie schnell.

Suschen, der ihre landwirtschaftliche Tätigkeit inzwischen langweilig geworden war, warf einen scheuen Blick zur Schwester hin. Die war bis über die Ohren in ihren englischen Brief vertieft; die dachte vorläufig sicher nicht an Handarbeitstunde, lautlos entwischte das kleine Ding.

Aber selbst wenn Suschens Flucht geräuschvoller vor sich gegangen wäre, hätte Dornröschen wohl kaum darauf geachtet. Sie vernahm nicht einmal Dörthes liebevoll scheltende Stimme, die man doch, wie Bruder Karl Heinz immer sagte, bis nach Rostock hören konnte, und heute erschallte Dörthes Gekrächz noch besonders laut; sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen beim Anblick der Lütten. Auch nicht das wilde Jubelgeschrei der wegen Hitzferien heimkehrenden Brüder über das verwandelte Schwesterchen erreichte Dornröschens Ohr. Die saß augenblicklich nicht unter dem schattigen Apfelbaum daheim, sondern in London.

Wie war es nur möglich! Base Mary, die nicht älter war als sie selbst, mit der sie damals als Backfisch ausgetauscht worden war, die hatte so große, erhabene Ziele? Und ihre Freundinnen, May und Gerty, sie standen ebenfalls mittendrin im öffentlichen Leben, trieben Politik und redeten in Versammlungen? Lizzie schrieb zwar, Mary habe jetzt, was man in Mecklenburg so nen kleinen »Lüttiti« zu nennen pflegt. Sie warb Stimmen zu den politischen Wahlen, weil das augenblicklich in London höchst modern sei. Die jungen Damen wollten es durchsetzen, daß man auch den Frauen das Stimmrecht bei den Wahlen zubilligte . . .

Leni ließ verwirrt den Briefbogen sinken. Sie las kaum noch die Grüße, die Onkel und Tante anfügten; sie mußte sich erst in dem eben Erfahrenen zurechtfinden.

Dornröschen griff sich an den Kopf. Wie aus einer anderen, ganz fremden Welt muteten sie diese Mitteilungen Lizzies an! Was wußte sie denn von Wahlen, vom Stimmrecht und dergleichen hier auf ihrer Klitsche! Ihre Freundinnen, die standen im Leben, die strebten zu Hohem und Edlem!

Und sie – sie? Ein Gefühl des Zurückgesetztseins kroch langsam in Leni empor; sie war nicht stark genug, es niederzuzwingen.

Haha, ihr Gesichtskreis! Der bestand in Schweinekober und Rübensaat; ihr Interesse, das wurzelte in Wochenmarkt und in zerrissenen Kinderhöschen! Nahm sie sich wirklich einmal spät abends die Rostocker Zeitung vor oder gar ein landwirtschaftliches Buch, dann fielen ihr vor Erschöpfung und Müdigkeit fast die Augen dabei zu. Wie ein Bauernmädel! Was sie einst in England alles gelernt hatte, das war längst vergessen – versunken in dem Strome alltäglicher Arbeit.

Leni dachte es voll Groll, und Tränen der Erbitterung traten ihr heiß in die Augen.

Sie wollte es augenblicklich nicht sehen, das Große, Schöne und Segensreiche, durch das auch ihr Lebensweg führte, und das sie in Stunden der Befriedigung doch oft schon erkannte.

»Gibt es etwas Nutzbringenderes, als der Heimatscholle in emsiger Arbeit und heißem Mühen den Ertrag abzuringen?« So rauschten die grüngelben Halme im Mittagswind zu ihr herüber.

»Lohnt es nicht, des Vaters Edelobst, das er liebte, zu hegen und zu pflegen?« flüsterte der Apfelbaum über ihrem Haupte.

»Ist es nicht eine schönere Aufgabe, der Mutter wieder Freude am Dasein zu erschließen, dem Bruder sein Erbe zu halten, und in Haus und Hof Politik zu üben, statt da draußen in der Welt?« Leis und mahnend sprach es plötzlich eine Stimme in Leni selbst.

Und diese innere Mahnerin redete weiter: »Gibt es wohl eine segensreichere Tätigkeit, als die Erziehung der kleinen Geschwister zu nützlichen Mitgliedern der Menschheit –«

Dreistimmiges gellendes Kindergeschrei riß Leni plötzlich aus ihrem stillen Lauschen und Insichhineinhorchen. Ein rascher Blick zu Suschens Platz – der war leer!

Brief und Stachelbeeren flogen zu Boden; erschrocken eilte Leni den Jammerrufen nach.

Aus dem Hof schienen sie zu kommen. Da –

Ein erschreckender Anblick bot sich ihr. An der großen eisernen Speicherwinde, mit der die Getreidesäcke emporgewunden wurden, hoch oben zwischen Himmel und Erde, schwebte Suschen, jämmerlich schreiend und zappelnd. Unten aber, die schwere Kurbel zwischen den kleinen Händen haltend, standen, ebenfalls wie am Spieße brüllend, Hänschen und Fränzchen. Der Herr Kantor hatte ihnen am Morgen von den neuen Flugapparaten erzählt. Das hatte die beiden mächtig gepackt; ungewöhnlich aufmerksam waren die Schlingel gewesen, und als zukünftige »nützliche Mitglieder der Menschheit« setzten sie die Theorie sogleich in die Praxis um.

»Wir wollten man bloß einen Flugapparat für Susing erfinden,« heulte Hänschen, als er Dornröschens ansichtig wurde, und: »Flink – kommt bloß fixing! Ich kann nicht mehr halten – Hilfe – Hilfe!« zeterte Fränzchen.

Leichenblaß wurde Leni, als sie ihren Liebling in dieser furchtbaren Gefahr schweben sah; ihr Herzschlag stockte. Die Leute waren alle auf dem Felde – sie mußte ihre Geistesgegenwart zusammenreißen. Eine Minute des Zauderns und das Kind lag vielleicht zerschmettert auf den Steinen.

Mit drei Sätzen durchquerte Leni den Hof. Ein paar Pferdedecken, die zum Sonnen ausgebreitet lagen, raffte sie auf; dann ergriff sie mit starken Armen die Winde, die sich widerwillig quiekend zurückdrehte.

Langsam – ach, so langsam glitt das Tauende mit Suschen auf die Decken hernieder! Wenn das Schürzenband, mit dem das Kind an dem großen eisernen Haken befestigt war, nicht aushielt – wenn es riß – – Leni schloß die Augen, um sie gleich darauf wieder angstvoll aufzureißen. Jetzt schwebte das mit Armen und Beinen zappelnde Kind an der Scheunenluke vorüber – jetzt war es nicht mehr viel höher als die Stallungen, und nun – endlich – hielt Dornröschen ihr Herzblatt in den Armen. Fest, ganz fest!

»Bist du auch heil – ist dir nichts geschehen?« Immer noch bebend tastete Leni an dem Kinde herum, ob es auch gänzlich unversehrt sei.

Suschen lachte schon wieder unter Tränen.

»Eigentlich war es hellschen lustig, da oben wie so 'n Vogel herumzufliegen, ich hab' mich man bloß so gegrault, ob die ollen Jungs mich auch nicht fallen lassen,« erklärte die Kleine bereits völlig getröstet.

Die Jungs – richtig! Das Blut kehrte wieder in Dornröschens Antlitz zurück; zorngerötet wendete sie sich den beiden hoffnungsvollen Flugzeugbauern zu.

Ja, die waren längst heidi! Dachtest du wirklich, Dornröschen, daß die zwei so dumm sein würden, auf dich und deine Prügel zu warten?

Seufzend machte sich das junge Mädchen daran, die Stachelbeeren und die zerstreuten Briefschaften wieder aufzusuchen. Suschen ließ sie nicht mehr von der Seite. Aber um ihr mühsam erkämpftes Ausgesöhntsein mit ihrem Schicksal war es wieder geschehen . . .

Das Essen stand auf dem Tisch, und die Jungen erschienen nicht. Mutting hatte sich bereits von ihrem Staunen über den kegelkugelähnlichen Kopf ihres Nesthäkchens so ziemlich erholt, und noch immer blieben die beiden Plätze leer, wo die meisten Flecke auf dem Tischtuch prangten. Aber als Gusting nun den Grießpudding mit Himbeersoße auftrug und die beiden Flugmaschinenerfinder dessenungeachtet unsichtbar blieben, wurde Leni unruhig. Wo steckten sie denn bloß? Süße Nachspeise gab es jetzt auf Nedderdorf nicht alle Tage, die hatten die Brüder noch nie um einer lumpigen Tracht Prügel willen verschmäht.

Die Vesperstunde rückte heran, und die Sonne rückte gen Westen nach Staveneck zu. Noch immer geruhten die jungen Herren nicht zu erscheinen. Leni, die von der ausgestandenen Angst um Suschen wohl etwas aufgescheucht und erregt war, konnte ihre Unruhe und Sorge um die Brüder nicht länger bemeistern. Nicht umsonst nannte man die beiden bereits in der ganzen Umgegend »die Rangen von Nedderdorf«. Sie überließ Susing Dörthes Fürsorge und pfiff Cäsar.

Schweifwedelnd umkreiste der alte treue Bursche seine Herrin. Es kam jetzt nicht oft mehr vor, daß Dornröschen zu einem Spaziergang mit ihm Zeit fand. Dem Hunde erging es ähnlich wie Jürgens. Die Jahre machten sich auch bei ihm bemerkbar. Zwar hatte sein Gehör durch sein ehrwürdiges Alter nicht gelitten, wohl aber seine Nase. Der Geruchsinn, der früher, als Cäsar noch mit Vating auf die Jagd ging, geradezu vorbildlich war, hatte arg nachgelassen.

Leni bemerkte es voll Betrübnis. Denn so aufmunternd sie auch rief: »Allons – Cäsar – such – such die Jungs!«, er trottete zwar mit gesenktem Kopf voran, aber es war bloß Vorspiegelung falscher Tatsachen. Cäsar hatte von einer Fährte nicht die mindeste Ahnung. Kreuz und quer führte er seine junge Herrin, bis diese es schließlich für geratener hielt, ihn zu führen.

Auf den Feldern erklang die Sense.

»Dor geiht uns' gnä Herr,« spotteten die Arbeiter, als sie vorüber war, denn sie hatten die schneidige Antrittsrede noch nicht vergessen. Aber sie meinten es nicht bösartig. Lenis erster Eindruck hatte sich als richtig erwiesen; die Leute taten ihre Schuldigkeit und hatten guten Willen. Daß sie ihre Witze machten über den merkwürdigen Willkommen, der ihnen von dem gnä Frölen zuteil geworden war, konnte ihnen schließlich niemand verübeln.

Wenn sie die Jungen bloß erst wieder da hätte! Dornröschen kannte die Schlupfwinkel der Schlingel nur zu gut aus ihrer eigenen Kinderzeit her.

Dort das Weidengestrüpp und das Binsendickicht drunten am Dorfteich – sicherlich waren sie da! Ein Pfiff forderte Cäsar auf, das schlammige Gelände abzusuchen. Aber statt den Ernst der Lage zu erkennen, war der Hund töricht genug, sich damit zu belustigen, daß er den Padden und Fröschen nachblaffte. Leni ärgerte sich über ihn.

»Schafskopp,« fuhr sie ihn an, daß Cäsar erschrocken seine Jugendtorheiten aufgab und mit gesenktem Schwanz und hängenden Ohren zu ihr zurückkehrte.

Was half das alles? Hänschen und Fränzchen waren nicht zu finden.

Vor dem Dorfe, am Kreuzungsweg, wo es links nach Staveneck, rechts nach Staberow und geradeaus gen Rostock ging, stand der große steinerne Gemeindebackofen. Unter lichtweißen und zartrosa Akazienblüten hockte er da, der rußige, schwarze Geselle, so recht aufgeblasen und anmaßend.

Dornröschen hemmte ihren raschen Schritt. Hier drin hatte Karl Heinz dereinst das väterliche Strafgericht abgewartet, während sie getreulich davor Wache stand!

Karl Heinz! Die Sehnsucht nach dem guten Kameraden, nach ihrem lieben ollen Jung, wallte jäh in Leni empor. Sie legte die Hand über die Augen und spähte in die kupfrigrot beleuchtete Ferne, die lange, baumbestandene Straße hinab, als ob sie die Türme von Rostock dort hinten auftauchen sehen müßte.

Cäsar begann leise zu knurren. Dornröschen wurde aufmerksam. Er wollte sie wohl daran erinnern, der kluge Hund, über den fernen Bruder nicht die nächste Sorge um die fehlenden kleinen Brüder zu vergessen.

Sie trat an die runde Backofenöffnung und lauschte in das dunkle steinerne Häuslein.

»Hänschen – Fränzchen,« rief sie in die Höhlung hinein. Ein seltsames Knistern antwortete.

Sicher steckten die kleinen Burschen da drin!

Schon kniete sie auf der Ofenbrüstung und schob den Kopf in die gähnende Finsternis hinein, den rechten Arm vor sich ausstreckend, um die Schlingel zu fassen.

Da fuhr sie laut schreiend zurück. Ein graues Etwas war ihr dicht am Kopf vorbeigesprungen: ein harmloses Feldmäuschen, das im Backofen ein wenig Teig zu erhaschen hoffte! Sonst alles leer!

Seufzend machte sich Dornröschen auf den Rückweg.

Als sie den Obstgarten durchschritt, hörte sie plötzlich ein verdächtiges Rascheln in den Baumkronen. Sie lugte hinauf – hallo, da oben auf dem Goldparmänenbaum wurde ein langes rotes Storchbein sichtbar! Das gehörte zu Hänschen! Und dort aus dem großen Nußbaum schimmerten Fränzchens zerlöcherte Strümpfe hervor. Leni atmete auf.

Die beiden Tunichtgute vertrieben sich die Zeit durch ein kleines Kreuzfeuer mit winzigen unreifen Früchten.

»Wollt ihr woll gleich 'runterkommen?« Dornröschen rüttelte an dem Baum, als ob sie die Jungen wie Maikäfer herunterschütteln könnte.

Aber der Erfolg war nur, daß kleine, grüne Kugeln in bedrohlicher Weise herabsausten.

»Ja, wenn de uns nich haust,« leitete Fränzchen aus dem Nußbaum die Friedensverhandlungen ein.

»Ich werde euch nach allen Regeln der Kunst verhauen,« versprach Leni im Andenken an den jüngsten Streich der Brüder.

»Dann bleiben wir hier oben, bis wir verhungert sind!« Gleichmütig machte sich Hänschen wieder ans Werk, die Beine seines Bruders mit niedlichen Goldparmänchen zu treffen.

»Wie könnt ihr euch unterstehen, mir die Früchte abzureißen? Gleich hört ihr auf – – –!«

»Aber wir spielen doch Orang-Utan und Schimpanse –«

»Mädel haben eben zu wenig Sinn für Naturwissenschaften,« schrie der zweite Frechdachs dazwischen.

»Also – werdet ihr jetzt sofort kommen?«

Zweistimmiges »Nee!«

»Dann hole ich euch . . .«

Hohngelächter ertönte aus den Bäumen. »Du kommst gerade 'rauf!«

Das ließ sich Dornröschen nicht sagen – das nicht! Sie, die mit Karl Heinz um die Wette sogar auf die Straßenpappeln geklettert war!

Ein scheuer Blick durch den Garten – er war leer. Schon klomm Dornröschen am untersten Ast empor. Hoppla – drin saß sie in dem dichten Gezweig! Es ging noch fein, wenn auch die langen Kleider hinderlich waren. Leni kletterte lustig weiter. Die Sache machte ihr riesigen Spaß; sie vergaß ganz den pädagogischen Zweck ihrer Kletterei.

»Kiek man! Sie sitt in 'n Appelboom un plückt all Appel.«

Aber während sie auf der einen Seite emporstieg, rutschte es von der anderen wie der Wind hinab. Hänschen stand unter dem Baum und hielt sich krampfhaft eine große Klaffwunde in den Hosen zu.

»Nu hau uns doch!«

Unter dem Nußbaum stand auch Fränzchen und hielt sich den Leib vor Lachen über die kühnen Klettersprünge der Schwester.

»Wo ist dat gnä Frölen?«

Das war die Stimme des ollen Riebensam! Was wollte denn der von ihr? Das heitere junge Menschenkind da oben im lustigen grünen Wipfel verwandelte sich plötzlich wieder in die besorgte Gutsherrin.

Wenn sie den Jungen den Mund nur stopfen könnte. Wenn die bloß nichts verrieten!

»Kiek man tau Höchten (guck mal hinauf)! Sei sitt in 'n Appelboom un plückt all Appel; sei sün man noch nich rip (reif)!« Weg waren sie, die Schlingel.

»Wat?«

Oll Riebensam schob bestürzt seine Mütze ins Genick und schaute empor. Da wuchsen zwei derbe Mädchenstiefel zwischen grünen Blättern.

»Gnä Frölen, et is man von wegen de Utzahlung; de Lüd täuwen (warten) all.«

Der Apfelbaumast knackte bedenklich. Sie griff sich an die Stirn; es war ja Sonnabend heute – der Wochenlohn! Das hatte sie über den Rangen vollkommen verschwitzt!

»Geht man immer, Riebensam; ich komm' gleich nach,« tönte eine gepreßte Mädchenstimme aus luftigen Höhen.

Das Herabsteigen war aber doch nicht so einfach. Vorsichtig, von Ast zu Ast tastend, begab sich Dornröschen auf die Rückreise. Mit zerschundenen Händen und zerzausten Haaren langte sie endlich wieder glücklich unten an.

Im Hof standen die Leute in Gruppen zusammen. Hatte oll Riebensam geklatscht und ihren Apfelbaumausflug zum besten gegeben? Was grinsten denn alle schon wieder?

Die heitere Stimmung wurde so arg, daß Leni sie beim besten Willen nicht mehr übersehen konnte.

»Na, was gibt's denn so Lustiges?« fragte sie den Nächststehenden nicht unfreundlich.

Der biß sich auf die Lippen, schwieg und stieß seinen Nachbar an. Dann platzten sie wieder alle lachend miteinander los.

Da erschien zum Glück Jürgens mit dem Auszahlbeutel,

»Jürgens, weißt du, was de Lüd (Leute) haben?«

»Nee, Klüt hewen wi hüt nich (Klöße haben wir heute nicht)!« Der Alte hatte wieder seinen tauben Tag.

Ratlos wandte sich Leni dem schwerhörigen Graukopf zu und wiederholte mit verstärkter Stimme ihre Frage. Da begann es auch in dem faltenreichen Gesicht des getreuen Alten zu zucken.

»Dat wird man sin, mit Respekt zu mellen (melden),« stieß er schließlich hervor, »dat dat Frölen woll swarten (schwarzen) Peter spelt (gespielt) hat; dat Gesicht is ja noch ganz insmert (eingeschmiert) von!«

Jetzt gab es kein Halten mehr bei den Arbeitern. Ohne Rücksicht lachten und prusteten sie los.

Das Fräulein Inspektor aber fuhr sich unsicher mit der Hand über das Gesicht. Die war voll Ruß.

Lenis erste Eingebung war – davonzulaufen! Aber nein! Dem Vogel Strauß nachzuahmen, erschien ihr feige. Wie der Soldat im Kugelregen, so mußte sie tapfer den spottlustigen Augen der Arbeiter standhalten, und wurde es ihr auch noch so schwer!

»Ich habe mich wohl schwarz gemacht,« sagte sie mit ziemlich verunglücktem Lachen. Dann begab sie sich ernsthaft an das Berechnen und Auszahlen des Wochenlohnes.

Droben aber im Turmstübchen stand Dornröschen nachher entsetzt vor dem zierlichen, mit Rosenknospenmull umbauschten Spiegel. Ein kohlrabenschwarzes Gesicht – eine Erinnerung an den alten Gemeindebackofen – schaute ihr daraus entgegen. Nein, wie sie sich schämte!


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