Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Fräulein Inspektor

Acht Tage waren seit jenem stürmischen Vormittag verflossen, acht schwere Tage für die arme Leni. Zuerst Muttings unzufriedene Miene und leises Klagen, was denn nun werden sollte! Ach, wußte denn Leni es selbst?

Dem einzigen, der helfen konnte, wagte Dornröschen keine Mitteilung über die Veränderung auf Nedderdorf zu machen. Das sonst so mutige Mädel fürchtete mit Recht Herrn Dürenfurts Vorwürfe wegen der Voreiligkeit. Erst mußte es ihm beweisen, daß es fähig war, das Gut ganz allein zu bewirtschaften; eher traute es sich nicht nach Staveneck. Aber so einfach war die Sache nicht.

Es gab nur noch wenige Tagelöhner aus dem Dorf von Vatings altem Stamm, die der Gutsherrschaft trotz der Fabriken in der nahen Stadt, die einen viel höheren Verdienst abwarfen, in alter Treue ihre Arbeitskräfte stellten. Der Nachwuchs war des Pflugs überdrüssig geworden. Der flog in der Frühe auf schnellem Zweirad die weiße Straße entlang bis zu den qualmatmenden schwarzen Fabrikschloten, oder das junge Volk aus Nedderdorf zog im Mai nordwärts in die allenthalben in die Höhe wachsenden Mecklenburger Seebäder. Dort gab es leichteren Dienst, als der zähen Erdscholle ihre Frucht abzugewinnen; den Fremden kam es überdies auf ein gutes Trinkgeld nicht an. So waren die Güter, soweit die eigenen Hofleute nicht ausreichten, auf die sogenannten »Wanderarbeiter« angewiesen. Das aber waren nicht immer die besten Brüder. Leni sollte schon bald ein Lied davon singen können!

Nedderdorf hatte während des Winters die größte Zahl seiner Knechte und Mägde entlassen; unnütze Brotesser durfte man jetzt dort nicht halten. Doch nun rächte sich das. Der Inspektor, der selbst derb und roh war, hatte es verstanden, die Leute in strammem Gehorsam zu halten. Aber vor dem lieblichen jungen Mädchen, das da mit ernsthaften Augen die Arbeit prüfte, verflog die mühsam aufrechterhaltene Zucht.

Gleich am ersten Tage zeigte es sich. Leni hatte kaum für die Leute das Essen ausgeteilt – denn auch eine Mamsell galt jetzt auf Nedderdorf als unerschwinglicher Luxus – und wollte sich nun selbst zu Tisch begeben, da erschien Jürgens.

»Hei is nu furt,« sagte er und kratzte sich bedenklich den kahlen Schädel.

»Schön,« sagte Leni gleichmütig, trotzdem sie es innerlich durchaus nicht schön fand, daß der Inspektor fort war.

»Je, Frölen Lening, wat soll dat nu blot warden?«

Leni zuckte ungeduldig die Achsel. Fing der etwa auch noch an?

»Na, Jürgens, ich denk', wir zwei beiden sind doch woll stark genug, um die Karre hier weiterzuschieben!« Dabei legte sie wie hilfesuchend die Hand auf die Schulter des Alten.

»I, Sei minen (meinen) de Meßkarr' (Düngerwagen)?« fragte der. »Je, wat uns Herr Inspektor is, de hett seggt, de Meß sullt (sollte) irst morr'n (erst morgen) up dat Feld fohrn (gefahren) warden.«

Leni seufzte. Da hatte sie sich ja einen netten landwirtschaftlichen Ratgeber ausgesucht! Jürgens war sein Lebtag nicht allzu sehr begabt gewesen, und heute hatte er obendrein seinen schwerhörigen Tag!

Er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, denn als Leni jetzt aus den Wirtschaftsräumen an ihm vorbei wollte, räusperte er sich, ein Zeichen, daß er eine längere Rede beabsichtigte.

»Na, wat is denn noch, Jürgens?«

»Je, Frölen Lening, dat is man nur von wegen de Lud (Leute) – wat de nu dauhn sulln (was die nun tun sollen) – wil (weil) doch uns' Herr Inspektor uns dat nu nich mihr seggen (sagen) künnt.« Er besah sich angelegentlich seine breiten Daumen.

Leni machte hilflose Augen.

»Sind sie denn schon mit dem Eggen fertig?«

»Ne, sei wulln ja irst eten, äwerst (aber) nach 'm Eten.«

»Herrje, ich meine doch nich Essen« – Leni fuhr sich verzweifelt in das weiche Haar – »ick frag' di, ob sei schon mit dat Eggen prat sünd?« Sie nahm jetzt ihre Zuflucht zum Plattdütsch; vielleicht verstand er sie dann besser,

»Jo – allens prat!« Jürgens' Ohren schienen wirklich auf seinen Heimatsdialekt besser eingestellt zu sein.

»Wirklich – allens?« Leni wollte an diese Tatsache durchaus nicht glauben.

»Jo – allens,« wiederholte der Alte stolz, »aber wat sullen sei denn nu dauhn?«

»I, Jürgens, da lat se man –« Leni sagte es möglichst großartig, machte jetzt aber doch eine kleine Kunstpause, denn sie wußte selbst noch nicht recht, was er sie tun lassen sollte, »Je, da lat se man –« sie blickte suchend zu dem Quergebälk der Deckenwölbung empor – »na, Jürgens, weißt denn du dat nich, wat wir se hüt (heute) dauhn laten möten (müssen)?«

»Ne, dat hett uns ümmer uns' Herr Inspektor seggt (gesagt),« antwortete der Alte etwas unbehaglich.

»Ja, der is aber nu nich mehr da!« Leni wurde sonst dem grauhaarigen Freund ihrer Kindheit gegenüber niemals gereizt, aber das Wort »Inspektor« war für sie heute wie ein rotes Tuch. »Du büst doch nu würklich lang genug hier up 'n Hof; du möt doch dat weiten (wissen), wat se dauhn sullen!«

»Bullen« – Jürgens hatte die Hand ans Ohr gelegt – »de Bullen sünd all up de Weid', Frölen; äwerst wenn sei wedder rin sullen –«

»Ne, Jürgens –« Lenis ohnedies nicht große Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt; mit dem Alten war heute mal wieder gar nicht zu reden. Es gab bestimmt Regen!

Aber da draußen warteten die Arbeiter auf Anweisungen; sie mußte es noch einmal versuchen. Ach, wenn sie doch selbst etwas mehr davon verstünde!

»Nu sag mal, Jürgens,« begann sie von neuem, »wenn nu du de Herr Inspektor wärst –« es half nichts, sie mußte jetzt selbst das Wort aussprechen – »wat würdst denn da de Lüd dauhn laten?«

Jürgens reckte sich aus seiner Zusammengesunkenheit empor und nahm eine forschere Haltung an. Er besah sich seinen grisigen Flausrock, der älter war als Leni, zupfte an einem Halstuch, das gar nicht da war, und räusperte sich.

Er – der Herr Inspektor? So kühne Träume hatte Jürgens sein ganzes langes Leben nicht gehabt; es war ihm zumute, als habe man ihm die Kaiserkrone von Deutschland angetragen, und unter dieser Last sank er wieder in sich zusammen.

»Ne, Frölen Lening, dat geiht (geht) denn doch nich,« wehrte er bescheiden ab.

»Je, Jürgens, ick mein' ja dat man blot so!« Das Fräulein war der Verzweiflung nahe.

»Jo denn« – er richtete sich wieder auf – »i, denn würd' ick sei up dat Weitenfeld (Weizenfeld) schicken oder ok (auch) in 'n Haber, oder ick let sei Torp stecken (Torf stechen) oder ok Meß klütern (Dünger auswerfen). Äwerst (aber) de Schapdung (Schafdünger) möt (muß) ok up'n Raps fohrn (gefahren) warden, un de Wies' is ok all tau'm Sniden (Mähen).«

Jürgens schwieg erschöpft; er hatte nun als Inspektor genug getan, Leni war so klug wie zuvor,

»Je, wat würd' denn uns' Herr Inspektor seggen, wenn hei (er) noch hier sein tät, wat de Lüd irst dauhn sullen?« begann sie von neuem.

»De hett hüt (heute) morgen jo seggt, sei sollen nach'm Eten up dat Tüftenland (Kartoffelacker) und de Frühtüften behacken.«

»Minsch, un dat seggst mi jetzt irst!?«

Jürgens sah das Fräulein an und machte sein schlauestes Gesicht. Da hielt Lenis Ärger nicht stand. Sie lachte hellauf. Es war gleichzeitig ein erleichtertes Lachen.

»Na, Jürgens, denn segg man de Lüd, dat de Inspektor furt is, un sei sullen ins Tüftenland und da ehr Sak maken (ihre Arbeit besorgen)!«

Mit einem befreienden Atemzug lief das junge Mädchen die Treppe hinauf, wo Suschen schon seit geraumer Zeit rief, daß die Suppe auf dem Tisch stehe. Jürgens aber sah mit verdutzter Miene hinter dem Fräulein her. Hatte er recht gehört?

»Frölen Lening – Frölen Lening!«

Ja, die schöpfte bereits droben die Suppe aus! Jürgens kratzte sich bedenklich das rechte Ohr. Dann aber ging er hinaus auf den Hof und teilte den Leuten mit, daß »uns' Herr Inspektor« weg sei und das Frölen gesagt habe, sie sollten »man nach dem Tüftenland gehn und da 'nen lütten Snak maken (einen kleinen Schwatz halten).«

Da lachten die Arbeiter und machten ihre Witze über das Fräulein Inspektor; die alten treuen Tagelöhner aus dem Dorf aber schüttelten bestürzt den Kopf. Wo sollte das hinaus?

Nachdem Leni dem Handpferd, das in Behandlung des Tierarztes stand, ihren Besuch im Stall gemacht hatte und Hänschen und Fränzchen, denen von dem frühzeitigen Zigarettengenuß kreuzelend geworden, Krauseminztee mit einer Tracht Prügel verabfolgt hatte, nachdem Butter- und Eierertrag mit Dörthe verrechnet und ein übermütiger Hahn aus dem Nutzgarten gejagt war, gedachte Leni ihrer neuen Inspektorpflichten. Sie mußte sich darum kümmern, daß die Arbeiter ihre Schuldigkeit taten.

Es war ein wonniger, sonniger Lenztag, so recht geschaffen zu Frohsinn und Jugendlust, zu Lachen und Singen. Die Maiensonne strahlte denn auch vom Himmel herunter, und die blauen, roten und gelben Blümelein, mit denen die Wiese sich geschmückt hatte, zeigten ihre neuen, bunten Frühlingskleider. Die Drossel sang, der Pirol flötete, und die Heimchen geigten; das zirpte, surrte und summte! Selbst die Telegraphendrähte sangen und klangen im Winde. Und das junge Menschenkind, das da so taufrisch und blühend durch das schwellende Frühlingsgelände schritt, das ganz besonders zu Lachen und Singen geschaffen schien, ging so still seines Weges?

Leni starrte auf die Wiese, auf die ihr zunickenden Himmelschlüsselchen, Glockenblumen, Vergißmeinnicht und Dotterblümchen, auf Löwenzahn und Federnelke und dachte, daß Jürgens recht hatte; die Wiese war bald zum Schneiden.

Die nutzbringende Arbeit mit ihrem grauen Werktagkleid stellte sich breitspurig und herrschsüchtig vor das Schönheitsempfinden des jungen Mädchens. Leni hatte keine Zeit, sich an des lieben Herrgotts Frühlingsgarten zu erfreuen. Die war mit ihren Gedanken schon wieder bei dem morgigen Dungfahren. Die Leute mußten ja mit dem nicht allzu großen Kartoffelacker sicher bis Feierabend fertig werden. Wie gut, daß die Arbeit für den morgigen Tag bereits vorgesehen war!

Plötzlich blickte sie erstaunt um sich. Hatte sie den Weg verfehlt? Aber sie kannte doch auf ihrem Boden jeden Acker, jeden Getreideschlag und das hier vor ihr war unbedingt das Frühkartoffelland!

Da blitzten ja auch ein, zwei, drei, vier, fünf Eisenhacken im Sonnenlicht. Aber wo waren die anderen? Sie hatte doch an zwanzig Mann hinausgeschickt?

Je näher Leni kam, um so rätselhafter wurde ihr die Sache. Kaum der fünfte Teil des Ackers war bearbeitet; nur ein paar alte Tagelöhner aus dem Dorf waren am Werk. Leni zerrte ihre Uhr hervor. Vesperzeit war längst vorüber! Eine tiefe Falte grub sich in die weiße Mädchenstirn. Wagte man offenbaren Ungehorsam? Wurden ihre ersten Anordnungen gleich mißachtet?

»Riebensam, wo sind de Lüd (Leute)?« Sie blieb bei den verlegen an den Mützen rückenden Tagelöhnern stehen.

Oll Riebensam stützte beide Hände auf seine Hacke und machte mit seinem stoppeligen Kinn eine Bewegung in die Luft.

»Do drüwen seten (drüben sitzen) sei jo!«

»Potzwetter – wat arbeiten se denn nich?« Leni hielt es für angemessen, möglichst die kernige Sprache des Inspektors nachzuahmen.

»Je, sei roken (rauchen) do wull ehr Pip (Pfeife) Tobak und snaken (plaudern) eins.«

Das Fräulein starrte den sonst so bescheidenen Mann, der in Gutsdiensten ergraut war, ob solcher unglaublichen Keckheit mit offenem Munde an.

»I, da slag doch – ich schick' sie zum Tüftenhacken und sie legen sich auf die Bärenhaut! Da sull doch –« Die Worte fehlten ihr vor Entrüstung.

»Je, dat hew ick ehn jo ok seggt (hab' ich ihnen ja auch gesagt)! Kinnings (Kinder), hew ick seggt, wie wulln man Tüften hacken, hew ick seggt – äwerst sei seggen jo denn, Jürgens hett sei seggt, dat Frölen hett seggt –« Der alte Mann sah halb mitleidig, halb unzufrieden auf das junge Ding, das er von klein auf kannte.

»Wat hew ick seggt?« unterbrach Leni die langatmige Auseinandersetzung ärgerlich.

»Wie sulln man 'n bischen up dat Tüftenland gahn un da 'n lütten Snak maken!«

»Wat?« Vor Lenis Augen riß plötzlich ein Schleier; Jürgens mit seiner Schwerhörigkeit hatte die ganze Geschichte angerichtet! Nun war es gleich im Anfang um ihr Ansehen geschehen!

»Jürgens hat mich falsch verstanden! Aber Ihr, wie konntet Ihr denn bloß so grützdämlich sein und denken, ich schick' euch, um euch wat zu vertellen (was zu erzählen), aufs Tüftenland?«

»Je, Frölen, dat hew ick ehn jo ok seggt; äwerst sei seggten jo denn – – –«

Leni hörte nicht mehr auf ihn. Sie eilte mit hastigen Schritten zu den an der Waldgrenze im Buchenschatten gemütlich ihre Pfeife rauchenden Männern.

»Geht an die Arbeit, Leute! Jürgens hat falsch gehört; künftig werd' ich euch selbst sagen, was ihr zu tun habt.«

Sie suchte möglichst viel Festigkeit in ihre Stimme zu legen. Einige der Arbeiter erhoben sich auch brummend. Andere blieben in aller Gemütsruhe liegen und qualmten weiter wie die Schornsteine. Einer spitzte sogar die Lippen und pfiff vor sich hin, als ob sie gar nicht da wäre.

Leni hatte es für ersprießlich gehalten, möglichst im guten mit den Leuten auszukommen. Aber das durfte sie sich doch nicht gefallen lassen; sie vergab ihrer Stellung zu viel.

»Wird's bald?« Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so sicher wie im Anfang.

»Dat lohnt sich doch schon gar nich mehr anzufangen,« murrte einer. »Dat is ja bald Feierabend,« kam's von der anderen Seite.

Die Gefährten schmunzelten; man sah es ihren schadenfrohen Mienen an, daß sie nur zu gern Jürgens Worten Folge geleistet und ganz gut gewußt hatten, daß es bloß ein Mißverständnis sein konnte. Leni stieg das Blut ins Gesicht. Ihre Stimme schwankte vor Erregung; vergebens suchte sie, ihr Festigkeit zu geben.

»Wenn sich das für euch nicht mehr lohnt, dann werdet ihr eben eine Überstunde machen, da ihr ja schon vorher Feierabend gehalten habt.«

Sie wandte sich zum Gehen; hinter ihr erscholl es in unterdrücktem Gemurmel: »I, dat wär' ja noch schöner! So 'n Kiekindiewelt soll sich man nich zu viel rutnehmen!«

Leni beschleunigte ihre Schritte, sie wollte nichts mehr hören. Aber so schnell sie auch ging, ein gepfiffenes Lied verfolgte sie unbarmherzig: »Du bist verrückt, mein Kind!« Ach, nur zu gut erkannte die junge Gutsherrin das Ständchen, das man ihr brachte.

Sie eilte an den fleißig die Hacke schwingenden Dorfleuten vorüber. Sie gewann es nicht mehr über sich, oll Riebensam, den sie vorhin in ihrer Entrüstung gekränkt, und der dabei doch treu und redlich seine Pflicht getan hatte, ein freundliches Wort zu sagen. Sie schlug den Weg in den Wald ein, immer weiter, als ob sie der Schmach entlaufen könnte, die man ihr anzutun gewagt hatte.

Im Waldesdickicht warf sich das Fräulein Inspektor nieder, verbarg den brennenden Kopf in das kühle moosige Samtpolster und weinte – weinte. Der Buchfink, der in den sonnendurchflirrten Zweigen, unter denen Dornröschen sich ihren Schmerz von der Seele spülte, seine Wohnung hatte, flatterte erschrocken ein Stockwerk höher hinauf. Aber als das große Menschenkind so still dort unten liegen blieb und nur manchmal ein leises Zucken, ein unterdrücktes Schluchzen die schlanke Gestalt durchzitterte, hüpfte der kleine Gesell wieder zutraulich näher. Er wetzte den Schnabel und begann seine kunstvolle Weise, so zart, so süß und lieblich, als wolle er das weinende Mädchen trösten.

Und richtig – das junge Fräulein dort unten hob das tränenüberströmte Gesicht und lauschte dem Finkenschlag! Und je länger Dornröschen dem holden Vogellaut zuhörte, um so weniger vernahm sie das häßliche Pfeifen, das ihr noch immer in den Ohren klang. Sie wurde ruhiger. Mit heißen Augen blickte sie um sich.

So still, so friedlich und schön war die Welt! Die Blätter säuselten leise; ein kaum hörbares Klingen durchschwirrte die Luft, wie aus Tausenden von Blumenglocken. Der Waldeszauber mit seinem grüngoldenen Dämmerlicht spann das Dornröschen ein.

Sie wußte nicht, wie lange sie so saß, nichts dachte, nichts fühlte; nur der stille Wunsch erfüllte sie, daß diese Märchenschönheit ewig dauern möge.

Horch – der Buchfink verstummte jäh. Die unsichtbaren Glöckchen hörten auf zu läuten. Eine andere Glocke durchklang die Waldesstille, von Menschenhand gezogen – Abendläuten vom Dorfkirchlein!

Dornröschen sprang aufgeschreckt auf ihre Füße und eilte unter dem grünen Buchendach dahin – hinaus auf die Felder, denen die Abendsonne ein güldenes Gewand überstreifte – zurück zu ihrer Pflicht. Aber den stillen Frieden trug sie mit heim aus dem Waldeszauber.

Dornröschen lauschte dem Finkenschlag.

Auch als sie die Leute, denen sie eine Überstunde anbefohlen hatte, ihren Worten zum Trotz bereits vollzählig um die Abendsuppe versammelt sah, ging sie schweigend an ihnen vorüber. Selbst Hänschen und Fränzchen, die den auferlegten Hausarrest bis auf die Pferdeställe ausgedehnt hatten, da sie eine innige Freundschaft mit dem Pferdejungen verband, kam Dornröschens Friedensstimmung heute zugute. Unbehaglich betrachteten die kleinen Schlingel die Schwester. Sie hatten lieber ihr Teil fort.

Bis nach zehn Uhr mußte Leni heute noch die Hände fleißig regen; die Nachmittagstunden wollten wieder eingebracht sein.

Am anderen Morgen war sie mit dem Glockenschlage fünf schon auf ihrem Posten, Ja, solch Inspektor hatte es nicht leicht! Da mußte man Futterkorn zumessen, die Gäule zum Dungfahren ausmustern und die Knechte in den Ställen beaufsichtigen. Die Arbeiter waren bereits auf dem Kartoffelacker; wenigstens gab es heute kein Kopfzerbrechen für Leni, was wohl die notwendigste Arbeit sei.

Dabei der ganze innere Betrieb des Gutes! Die Milchwirtschaft hatte Dörthe ihr ja so ziemlich abgenommen, aber den Geflügelhof betrachtete Leni als ihr eigenstes Gebiet. Der Zier- und Nutzgarten, der Obstbau, all das war ihrer Pflege unterstellt, selbst die Kälber. Endlich verlangte die Kinderstube droben auch ihr Recht. Da balgten sich Hänschen und Fränzchen, bis ihnen die Nasen bluteten, und Suschen schrie: »Dornröschen soll kommen – Dornröschen soll mir die Locken auskämmen; Gusting ziept so dölling (zerrt so heftig)!«

Zu gleicher Zeit rief Mining: »Gnä Frölen, sull ick irst Spargelstechen gahn oder irst dat Swinefutter kochen?« Ehe Leni noch antworten konnte, stampfte schon Jürgens über den Hof auf sie zu und meldete: »Je, Frölen Lening, hei humpelt noch ümmer up sin Achterbein (Hinterbein).«

Da mußte das junge Mädchen, das nun auch nach dem Frühstück verlangte, erst eigenhändig für die Schweine das Frühstück besorgen, denn die Mädchen sollten alle ans Spargelstechen. Der Nedderdorfer Spargel war weiß wie Glas; der wurde in der Stadt gut bezahlt. Dann kam Peter, das Handpferd, heran, das noch immer den Hinterfuß nachzog. Schweren Herzens mußte sich Leni entschließen, den Tierarzt noch einmal rufen zu lassen. War es ihr da zu verdenken, daß ihre gestrige Friedensstimmung auf und davon flog? Daß sie Susings Locken nicht besonders liebevoll bearbeitete, daß sie die beiden Ringkämpfer, Hänschen und Fränzchen, schon am frühen Morgen mit dem Rohrstock begrüßte und nicht gerade frohen Auges zu Mutting an den Kaffeetisch trat?

»Na, mein' Dirn –« Mutting sah die schweigend in ihrer Tasse herumrührende Tochter aus überwachten Augen an – »du hast dir das doch woll leichter vorgestellt, als es nun ist?«

»Mein Himmel, Mutting –« Lenis Stimme klang ein wenig gereizt – »man muß sich doch erst einleben in solch neuen Pflichtenkreis! Die Leute müssen sich auch erst an mich gewöhnen.«

»Das werden sie nie! Unsere Dorfleut' vielleicht – das ist gute Art, wenn es solch altem Graukopf auch nicht zu verdenken ist, daß er einem jungen Ding, das er hat aufwachsen sehen und das weniger von der Sach' versteht als er, nun plötzlich gehorchen soll.«

»Ich werde die Leute schon im Zaum zu halten wissen!«

Leni stieß es kühn heraus und dachte dabei an ihren gestrigen kläglichen Rückzug. Mutting sah wieder teilnahmlos vor sich hin.

Leni hatte inzwischen damit zu tun, einen geheimen Streit zwischen den beiden Brüdern in Gestalt von unterirdischen Beinstößen zu schlichten, da Hänschen dem Fränzchen alle Obersemmeln weggegessen hatte.

»Die Wanderarbeiter, das ist eine böse Sorte,« begann da Frau Lisabeth aufs neue. »Uns' Vating hat das schon immer gesagt, und damals waren sie noch nicht, wie sie heute sind. Gib dich nur nicht mit denen ab, Kind! Die sehen doch ihr Lebtag nicht den Herrn in dir.«

Aus der Mutter trüben Augen traf ein verständnisvoll mitleidiger Blick die an ihrer Unterlippe beißende Leni.

»Du solltest weniger vorschnell handeln, Kind,« fuhr sie dann mit leiser Anklage fort. »Hättest du erst mit Herrn Dürenfurt Rücksprache genommen, er würde die Sache sicher gütlich geordnet haben.«

Leni hatte Mutting das Erlebnis mit dem Inspektor nicht in seiner ganzen Ausführlichkeit geschildert, um der Mutter den Ärger über ihre Jungen zu ersparen. So schwieg sie auch jetzt und warf einen vorwurfsvollen Blick zu der Ursache ihres Streites hinüber, so daß die beiden Jungen unbehaglich auf ihren Stühlen herumrückten.

Dornröschen hatte schon längst keine Zeit mehr zu einem gemütlichen Kaffeestündchen. Kaum hatte sie die Tasse leergetrunken, so war sie auch schon wieder davon. Mutting hätte sie manchmal ganz gern noch ein wenig um sich gehabt; sie nahm ihr ja förmlich die Ruhe mit. Wenn sie es auch nicht aussprach, tat ihr Lenis frische Art doch wohl. Aber die Mutter entschuldigte die Tochter auch vor sich selbst, daß eben gar zu viel auf dem jungen Ding lastete.

Das war jetzt natürlich noch viel schlimmer als je zuvor. Dornröschen wußte bald nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Ein Hin und Her war es, von den Wirtschaftsräumen in die Ställe und von der Küche auf die Felder. Aber sie konnte sich doch dem nicht verschließen, daß die Wirtschaft jetzt drüber und drunter ging.

Dazu hatte das Nedderdorfer Barometer, der alte Jürgens, richtig angezeigt; es gab Regen. Nicht gerade von morgens bis abends, aber doch jeden Tag so 'n »lütten Strämel«, gerade genug, um Lenis landwirtschaftliche Absichten zu durchkreuzen.

Was der Regen nicht tat, vollendeten die Wanderarbeiter. Ganz offen zeigten sie der jungen Gutsherrin, daß sie auch nicht die Spur Achtung vor ihr hatten. Schickte Leni sie aufs Rapsfeld, so gaben sie ihr dreist zur Antwort, dazu wäre jetzt noch nicht Zeit; erst müßten sie in den Haber. Das Fräulein könne das wohl nicht so gut auseinanderhalten. Fuhr Leni dann auf, so wurden auch sie aufsässig, oder was noch schlimmer war, sie machten ungeschminkt ihre Witze über das »Frölen Inspektor«.

Das schlimmste aber war, daß Leni nicht einmal fest auf ihren Anordnungen zu bestehen wagte, weil sie selbst unsicher war, ob es das richtige sei. Die alten Taglöhner aus dem Dorf gehorchten ihr, oder oll Riebensam wagte es allenfalls, wenn ihm das Ding gar zu putzig wurde, bescheidentlich vorzustellen, ob es nicht besser sei, »erst dit und dat tau dauhn«. Nur zu gern folgte Leni solchen Fingerzeigen des erfahrenen Mannes. Oft kamen dann nur die paar Dorfleute ihren Befehlen nach; die Wanderarbeiter taten auf eigene Faust, was sie gerade für richtig befanden. Daß dies dem Gut nicht zum Vorteil gereichte, war klar.

Auch zwischen den Tagelöhnern brach durch dieses Hü und Hot Unfrieden aus. Unzuträglichkeiten unter den Leuten aber muß allemal die Arbeit büßen. Leni konnte nicht daran denken, den Wanderarbeitern den Weg zu weisen und sie, wie sie es alle Tage wohl zehnmal wollte, ihr Bündel schnüren zu heißen. Sie war durch Schaden klug geworden. Die Leute waren jetzt, da es auf den Sommer ging, knapp; man mußte froh sein, wenn man überhaupt genügend Hände zu Gebote hatte.

»Schmutzwater (Wasser) löscht ok Füer (Feuer),« pflegte Jürgens, Lenis einziger Vertrauter und Ratgeber in dieser bösen Zeit, trostvoll zu äußern, wenn das Fräulein empört behauptete, daß sie es mit der Bande nicht mehr aushalte.

Ja, Jürgens! Der hatte den besten Willen und die allertreueste Absicht, seinem »leiwen Frölen Lening« ihr schweres Amt zu erleichtern; seine Schuld war es nicht, wenn ihm das so oft vorbeigelang. Daran waren nur seine Ohren schuld und allenfalls auch der Regen. Denn Jürgens' Schwerhörigkeit nahm mit jeder grauen Regenwolke zu. Er machte alles verkehrt.

Sollte er die Fohlen in die Koppel jagen, so machte er sich ganz sicher ans Aufladen der Kohlen. Schickte das Fräulein ihn in die Frühkartoffeln, so erschienen mittags auf dem Tisch vor der verdutzten Leni plötzlich Brühkartoffeln, und Mining, der Leni jetzt mehr überlassen mußte, entschuldigte sich damit, Jürgens habe ihr das so aufgetragen. Klewersaat, wie man im Mecklenburgischen den Kleesamen nennt, sollte er aus der Stadt mitbringen. Statt dessen hielt er bei der Heimkehr eine große Flasche Lebertran liebevoll im Arm; er hatte gedacht, der Tierarzt habe es für die »olle kranke Ackermähre« verordnet.

»Jürgens, sieh eins zu, daß du die Leute in den Raps bringst,« bat Leni eines Tages in hellem Ärger, da die Arbeiter wieder mal ihren Worten nicht Folge geleistet hatten.

Jürgens lachte über das ganze breite Gesicht.

»Dat will ick wull besorgen, Frölen Lening!«

Nach einer Weile erschien seine rote Kartoffelnase über dem Gartenzaun, an dem Leni gerade Tomaten pflanzte.

»Sei laten (lassen) sick ok velmals bedanken,« meldete er vergnügt.

»Was – wofür denn?« Leni witterte bereits wieder Böses. Sich noch obendrein bedanken, weil sie in den Raps sollten?

»Ick hew sei äwerst (aber) ok 'ne düchtige Buddel (Flasche) Schnaps spendiert!« Der Alte schmunzelte und leckte sich den Bart; er schien sich selbst nicht vergessen zu haben, denn er war seelenvergnügt.

»Du bist 'n ollen Schafskopp,« fuhr das Fräulein ihn an. Zur Belohnung für ihre Aufsässigkeit erhielt die Gesellschaft noch Schnaps, den sie sich ohnedies schon gerade genug zu Gemüte führte!

Jürgens hatte die Schmeichelei gar nicht gehört; selig vor sich hinlächelnd, stapfte er zu seinen Pferden. Leni aber hockte vor ihren winzigen Tomatenpflänzchen, lehnte den Kopf gegen die harten Gartenplanken und weinte wieder einmal bitterlich.

Sie wurde schlecht – ganz sicher! Sie fühlte es, daß ihr Charakter unter dieser Arbeitslast und Verantwortung verdarb. Da hatte sie dem alten, treuen Mann, der sie einst auf seinen Armen trug, solch häßliches Wort gesagt, das er noch dazu infolge seiner Schwerhörigkeit nicht verstehen konnte!

»Du sollst dem Tauben nicht fluchen!« Leni weinte heiße Tränen über ihre »Schlechtigkeit«. Mehr noch aber weinte sie über ihre Mißerfolge als Fräulein Inspektor.


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