Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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In der Schule für Landwirtschaft

Der erste Oktober hatte den Berliner Zug bis auf den letzten Platz gefüllt. In der vierten Klasse thronten derbe mecklenburgische Dienstmädchen, die ihr Glück in Berlin versuchen wollten, auf ihren Reisekörben. In der zweiten Klasse sah man manchen Rebhuhnflügel, manch Hasenpfötchen aus dem feisten Rucksack hervorlugen. Statt des Regenschirms machte sich die Flinte im Gepäcknetz breit – allenthalben luftgebräunte Weidgesellen, die wieder heimwärts zogen. Auch manch Mecklenburger Rittergutsbesitzer mit Frau und Töchterlein war dazwischen, der die »Saison« in der Hauptstadt verbringen wollte, um das Fräulein Tochter in die große Welt einzuführen.

Karl Heinz mit seinen beiden Damen fuhr dritter Klasse.

»Immer standesgemäß,« hatte Leni, deren Herbststimmung beim Anblick ihres strahlenden Karlings verflogen war, humorvoll geäußert, und Mieting war mit allem einverstanden. »Wir müssen sparen,« sagte sie wichtig, »eine verschwenderische Frau kann mein Fritzing nicht brauchen!«

Nun saßen sie, eingeschachtelt wie die Ölsardinen, in dem überheizten Abteil. Draußen schlug der Regen an die Scheiben, ein richtiger, ausdauernder Pladderregen. Aber den dreien war es urgemütlich. Karl Heinz gab seine Prüfungsnöte zum besten, und der Ladenjüngling an Mietings Seite sowohl, als auch der Reisende in Glühstrümpfen, der neben Leni saß, unterhielten sich köstlich. Man wußte gar nicht, wo die Zeit blieb.

Kleine, rankenumwehte Lattenhäuschen, wie Vogelnester in einem winzigen Stück Ackerland klebend, eines keine fünfzig Schritt von dem anderen entfernt, mit merkwürdigen Schildern, zogen Lenis Aufmerksamkeit auf sich. Solche Bauten waren ihr völlig neu.

»Das sind unsere Laubenkolonien,« belehrte sie der Reisende in Glühstrümpfen, auf eine Inschrift »Bei Mutter Jrün« weisend. »Hier finden unsere Arbeiter, die tagsüber im Fabrikdunst zubringen, abends und des Sonntags ihre Erholung. Hier fühlen sie sich als Rittergutsbesitzer.«

Solche Handvoll Acker hatte daheim auch der ärmste Tagelöhner, um seine Kartoffeln zu bestellen; das konnte auf Leni keinen großen Eindruck machen. Aber als der Zug mit dröhnender Schnelligkeit in die erleuchtete Bahnhofhalle einsauste, da begann das Landpomeränzchen doch über Berlin zu staunen.

Eine vielköpfige, schwarze Menschenmasse schob und stieß sich den Bahnsteig entlang. Hier lagen sich welche in den Armen, dort zankten sich andere herum; Kinder weinten, und Gepäckträger wetterten. Die schüchterne Mieting hängte sich fest in den Arm der Freundin, die voll Mißtrauen hinter dem Gepäckträger herlief, der ihnen die Sachen abgenommen hatte.

»Augen aufknöppen, Fräuleinchen!«

Da wurde sie von der anderen Seite angerempelt. Der Träger entschwand in dem Gewühl, Karl Heinz mit den Fahrkarten ebenso; am liebsten hätte Dornröschen es jetzt auch gemacht wie das plärrende Gör vor ihr.

Aber merkwürdigerweise, es fand sich alles wieder zusammen: ihr Karling-Bruder, der Mann mit dem Gepäck, sogar der uralte Familienkoffer, der auf hochbepacktem Wagen an ihr vorüber schwankte und griesgrämig aus seiner beschaulichen Ruhe auf das Hasten und Drängen des zwanzigsten Jahrhunderts sah.

»Wir nehmen ein Auto.« Karl Heinz winkte schneidig einem in seiner Umhüllung einem Kautschukmann ähnelnden Kraftfahrer.

»Du, Karling, fang nicht gleich so üppig an,« mahnte Dornröschen, die gewöhnt war, jeden Pfennig zweimal umzudrehen.

Aber da wurde ihr Gepäck bereits aufgeladen.

»Ihr erreicht sonst den Vorortzug nicht mehr, und das Übernachten im Hotel kostet bei weitem mehr,« beruhigte der praktische Reisemarschall die Schwester.

So rasten sie unter heulendem Getute vom Stettiner nach dem Potsdamer Bahnhof.

Es regnete noch immer. Der Asphalt und der Bürgersteig waren spiegelblank gewaschen. Zierliche Mädchenfüße trippelten unter leicht gerafftem Rock einher, aber die Gesichter verschwanden unter Hüten von gewaltigem Umfang. Unwillkürlich blickte Leni auf ihre derben Regenstiefel und griff sich an das kleine Pelzbarett. Lieber Himmel, sah sie unmodern aus! Mieting weniger, wenn sie auch nicht solch vierstöckiges Hutgebäude auf dem Kopf trug; sie bekam ihre Sachen zum Teil aus Hamburg geschickt.

Wie Perlschnüre reihten sich die rötlichweißen Bogenlampen aneinander; die Schaufenster warfen strahlende Lichter auf die feuchtblinkende Friedrichstraße. Mieting und Lening reckten sich die Hälse aus, um im Fluge etwas von den lockenden Geschäftsauslagen zu erspähen.

»Hier muß man einen gespickten Beutel haben,« bemerkte Mieting.

»Oder einen guten Kehrmichnichtdran,« erwiderte Dornröschen lachend.

»Ich werde Unterricht geben,« überlegte Karl Heinz aus demselben Gedanken heraus, »Dann hat man doch ein Taschengeld und braucht Mutting hauptsächlich nur zu den Studiengeldern in Anspruch zu nehmen.«

»Ich wünschte, ich könnt' es auch!« Dornröschen griff nach dem Geldtäschchen, das eine Summe für neue Anschaffungen enthielt.

Gegen ihren Willen hatte Mutting es ihr noch aufgedrängt. »Du wirst selbst sehen, daß du dich dort anders ausstatten mußt, mein Dirn!« Damit hatte sie jede Einwendung abgeschnitten.

Daran dachte Dornröschen, als es jetzt die Linden entlang ging, wo man selbst bei dem häßlichen Regenwetter fast nur schön und geschmackvoll gekleidete Frauengestalten im tageshellen Schein der elektrischen Lampen erblickte.

»Ich werde mir doch wohl ein paar anständige Kleider anschaffen müssen,« sagte sie.

»Wir bekommen ja dort nach Vorschrift gemachte Arbeitskleider, Dirn – alle gleich, wie die Gefangenen; aber für Sonntag will ich dir gern etwas schneidern, Dornröschen, wenn freie Zeit genug bleibt,« sagte die gute Freundin.

Leni griff dankbar nach Mietings Hand. Wie schön war es doch, daß sie beide gemeinsam ihre Studien aufnehmen konnten! Wer weiß, wie bald das Leben sie auseinander führte!

»Also auf Wiedersehen am Sonnabendnachmittag, mein Karling! Da haben wir frei, und du besuchst uns, ja? Und verlauf dich nur nicht nach deiner neuen Wohnung, mein Jung! Und komm bloß nicht unter ein Auto! Hast du auch Gummischuhe an?« Das Mütterliche brach jetzt bei Dornröschen durch, als sie, von Karl Heinz Abschied nehmend, den Vorortzug bestieg.

»Jawoll, und einen Gummilutschproppen im Mund! Dirn, ich bin doch kein Wickelkind,« neckte der Bruder lachend.

Leni stand am niedergelassenen Fenster und schaute hinaus, bis Karl Heinz' winkend hin und her schwingender Filzhut zum schwarzen Punkte zusammengeschrumpft war und eine spitznasige Dame das Fenster schloß mit den spitzen Worten: »Wir sind doch nicht mehr im Monat Mai!«

Die Fahrt dauerte nicht lange. Ein Wagen zum Abholen war nicht an der Bahn, da die beiden vergessen hatten, ihre genaue Ankunftszeit anzugeben.

Dornröschen, die seit langem gewöhnt war, selbständig zu handeln, wurde jetzt von selber zum Schutzengel der unsicheren Mieting. Sie gab ihr Gepäck in Verwahrung und nahm dann den Arm der Freundin.

»Los, auf Schusters Rappen!« kommandierte sie wohlgemut; sie hatte nicht mehr die Empfindung der Überflüssigkeit wie daheim.

»Woher weißt du denn, wo es hin geht?« Mieting hielt etwas zaghaft zurück.

»Weil das die Hauptstraße zu sein scheint; aber ich kann zu deiner Beruhigung nochmal jemand fragen, mein Mieting.«

Sie wandte sich an einen entgegenkommenden Arbeiter: »Geht es hier zur landwirtschaftlichen Frauenschule?«

»Landwirtschaftliche Frauenschule? Ach so, Se meenen, wo de Mächens det Bauernhandwerk lernen? Woll, det jeht hier raus, immer de Näse lang, und denn rechter und denn linker Hand und denn wieder jeradeaus.«

Leni dankte und zog Mieting, die sich ein wenig scheu im Hintergrund gehalten hatte, übermütig mit sich fort.

»Also zwei Handwerksburschen sind wir jetzt! So sehen wir übrigens auch aus, mit unseren bespritzten Stiefeln und ohne Gepäck. Komm, Mieting – man los!«

Sie gingen zuerst immer »de Näse lang«, dann rechter und dann linker Hand, und dann wieder geradeaus. Da standen sie auf freiem Felde. Ratlos starrten sie in das feinverzweigte kahle Geäst der den Weg umsäumenden Bäume, das wie ein zartes schwarzes Spitzenmuster gegen den rötlichgrauen Abendhimmel stand.

»Wir haben uns verbiestert,« sagte Leni etwas verwundert.

»Wir wollen denselben Weg zum Bahnhof zurückgehen, Dornröschen, und uns dort von jemand führen lassen; es war vorschnell von uns gehandelt, so aufs Geratewohl loszustiebeln.«

Vorschnelles Handeln war aber Dornröschens Gewohnheit und Umkehren gegen ihre vorwärtsstürmende Natur.

»Nee, Mieting! Kiek eins, da drüben liegt ja solch großes erleuchtetes Gebäude; das ist es ganz sicher.«

Sie stampfte der Freundin voraus, quer über den aufgeweichten Ackerboden, als ob es Nedderdorfer Gelände wäre.

»Dornröschen, wir können bestraft werden, wenn wir über fremdes Land laufen,« gab die besonnene Mieting zu bedenken.

»Bangbüchs – ich bin schon drüben!« Leni lachte sie aus.

Auch Mieting folgte jetzt mutig. Das große Haus mit seinen vielen hellblinkenden Fensteraugen, das war sicher die neue Heimstätte. Eine Inschrift ließ sich leider nicht entdecken.

Lehmbespritzt, windzerzaust und ziemlich durchweicht zogen die jungen Damen die Klingel am geschlossenen Portal.

Ein Mann öffnete und sah die beiden etwas verwahrlost ausschauenden Fräulein mit sichtbarem Erstaunen an.

»Wir sind die beiden neuen Zöglinge,« beeilte Leni sich darum zu sagen und ging stracks an dem erstarrten Pförtner vorüber, Mieting hinterdrein.

Da fühlte sie sich aber am Mantel zurückgezogen.

»Nee, Fräulein, det stimmt woll nich janz; soweit bis zu Damens haben wir's denn doch noch nich jebracht. Hier is die Kadettenanstalt!«

Er lachte dröhnend, und rings auf den Treppen lugten jetzt aus Uniformen neugierige Knabengesichter herunter, die die beiden Mädchen vorher noch nicht gewahrt hatten. Dornröschen stimmte fröhlich in das allgemeine Lachen ein. Mieting aber, der die Sache sehr peinlich war, wandte sich erklärend an den Pförtner: »Wir glaubten, das wäre hier die landwirtschaftliche Frauenschule.«

»Wir glaubten, das wäre hier die landwirtschaftliche Frauenschule.«

»Nee, da sind Se verkehrt jejangen, links rüber müssen Se,« und er wies ihnen den Weg.

Unter dem schallenden Gelächter der jungen Soldaten zogen die beiden neuen Zöglinge wieder aus der Kadettenanstalt ab und marschierten tapfer weiter.

Endlich standen sie vor dem weißen Schild, auf dem mit großen Lettern »Klugenhof, haus- und landwirtschaftliche Frauenschule« prangte.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, mit dem man ein Haus zum erstenmal betrachtet, das einem für längere Zeit die Heimat ersetzen soll. Was birgt es in seinen steinernen Mauern für den Einlaßbegehrenden? Frohe oder trübe Stunden?

Einen Augenblick standen die beiden Mädchen unter dieser Empfindung, dann siegte in beiden das Nächstliegende.

»Mächtig anständig,« flüsterte Dornröschen ihrer Begleiterin zu und zeigte auf das hinter einem großen Rasenbeet im geschmackvollen Villenstil erbaute Gebäude. Giebel, Erker, Balkone, Veranden und angebaute Terrassen schmückten malerisch das stattliche Haus; hell schaute von einem Türmchen die erleuchtete Uhr auf die Ankömmlinge hernieder. Sie zeigte gerade die siebente Stunde. Sie waren lange herumgeirrt.

Hier ließ man sie ein. Eine freundliche ältliche Frau führte sie sogleich in den großen holzgetäfelten Speisesaal im hochgelegenen Erdgeschoß, um den die Terrasse entlang lief.

Kleine, in die Deckentäfelung gefügte elektrische Glühbirnen verbreiteten eine festliche Helle, die in ihrer Pracht den beiden Ankömmlingen fast weh tat. An zwei langen Tafeln, auf denen je ein geschmackvoller Herbststrauß prangte, saßen etwa vierzig auf den ersten Blick ganz gleich ausschauende junge Mädchen. Sie trugen sämtlich einfache graubraune Kleider, halsfrei, mit einem schmalen Spitzenkragen herum, und große weiße Reformschürzen mit Stickereieinsatz. Blonde, braune und schwarze Mädchenköpfe waren über die Abendbrotteller geneigt; eine fröhliche Unterhaltung durchsummte den Raum.

Aber wie auf einen Schlag verstummte das muntere Gezwitscher beim Eintritt der beiden Neuen. Vierzig Augenpaare durchbohrten die Ärmsten und schienen von ihrem Äußeren recht wenig erbaut.

Mieting hätte sich am liebsten in ein Mausloch verkrochen; mit gesenktem Blick starrte sie auf die trübe kleine Regenlache, die Dornröschens Schirm auf dem schönen Parkettfußboden entstehen ließ. Dornröschen selbst aber blickte stolz und frei mit ihren großen Kornblumenaugen in die prüfenden Gesichter und schritt dann mit erhobenem Kopf zu dem einen Ende der Tafel. Eine schwarze, schlangenartige Regenspur zog sich hinter ihr her. Die Dame dort oben, wohl etwa fünfzig Jahre alt, mit graublondem gescheiteltem Haar und gütigen grauen Augen, das war sicher Fräulein Doktor Kluge, die Leiterin der Anstalt.

Da erhob sie sich auch schon und trat Leni ein paar Schritte entgegen, ihr mit warmer Herzlichkeit die Hand hinstreckend. Es war eine kleine, zierliche Dame; sie ging der hochgewachsenen Leni kaum bis zur Schulter.

»Willkommen auf Klugenhof, mein liebes Fräulein! O weh, so durchnäßt? Ich hätte ja gern den Wagen zur Bahn geschickt, aber zu welchem Zuge? Haben Sie denn zu uns herausgefunden?« Sie schüttelte jetzt auch der langsam nähertretenden Mieting die Rechte.

»Jawoll, nach einigen Irrfahrten,« gab Leni, da Mieting eingeschüchtert schwieg, mit ihrer hellen Stimme zur Antwort. »Erst sind wir in die Kadettenanstalt geraten.«

Mieting zupfte Dornröschen erschrocken am Ärmel. Der ganze Saal aber hallte jetzt von jungem Lachen wider. Vergessen war der erste, wenig einnehmende Eindruck; das schien ja ein riesig nettes Mädel zu sein!

Mit dieser unbefangenen Äußerung hatte sich Dornröschen, ohne es zu wissen, zum Liebling der landwirtschaftlichen Schule gemacht; die durchbohrend prüfenden Blicke waren in lächelnd entgegenkommende gewandelt.

»Nun aber erst in trockene Sachen, meine jungen Damen! Ihr Gepäck ist wohl noch nicht da? Na, wir helfen aus unseren Vorräten aus. Baroneß Silvia, zeigen Sie Fräulein Dürenfurt und Fräulein Sürsen ihr gemeinsames Zimmer, und Sie, liebe Müllern, sorgen Sie für trockene Kleidung,« schloß Fräulein Doktor Kluge, sich liebenswürdig an die bescheiden in der Tür stehende Dienerin wendend, die Leni und Mieting hineingeführt hatte. Die »Müllern«, wie sie allgemein genannt wurde, war das »Mädchen für alles« und die Seele des Hauses.

Ein hochaufgeschossenes, in der Taille zum Umbrechen dünnes Fräulein von vielleicht siebzehn Jahren erhob sich mit mißmutigem Gesicht. Auf Mietings Worte: »Es tut mir leid, daß wir Sie beim Abendbrot stören,« zuckte die Baroneß kurz und stumm die Achsel.

»Gräßlich, daß wir mit dem Grasaff zusammen hausen müssen«, flüsterte Leni, »Aber Fräulein Kluge ist ein sehr nettes Frauenzimmer!«

Mieting erschrak, als Dornröschen auf der Treppe ihrem Herzen mit gedämpfter Stimme Luft machte, und legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Mund, denn sie hatte es wohl gesehen, wie die vorangehende Baroneß bei der schonungslosen Beurteilung zusammengezuckt war.

In einem hübschen, geräumigen Erkerzimmer ließ diese dann das elektrische Licht aufstrahlen. Lichtblau getünchte Ölwände, drei weiße Eisenbettstellen, ein großer weißlackierter Kleiderschrank, drei schmale Waschtische, ein Eckspiegel und einige Rohrsessel um den Tisch gaben dem Raum ein freundliches Gepräge. Aber dazu stimmte schlecht die sauertöpfische Miene ihrer jungen Führerin.

»Nun wollen wir uns erst mal richtig miteinander bekannt machen, wenn wir so eng zusammen hausen sollen, und denn – auf gute Freundschaft!«

So sagte die gutherzige Mieting in das schwüle Schweigen hinein. Sie nannte Lenis und ihren Namen und streckte der neuen Zimmergenossin, auf eine Gegenvorstellung wartend, treuherzig die Hand entgegen. Doch da konnte sie lange warten. Die Baroneß legte zwar höflich die Fingerspitzen ihrer schön gepflegten Rechten, die eher nach jeder anderen Tätigkeit als nach Landwirtschaft aussah, in Mietings kleine Hand, zog sich aber dann mit den Worten: »Sie brauchen mich wohl nicht mehr?« schnell zurück.

»Sie brauchen mich wohl nicht mehr?«

»Hochnäsiges Huhn,« murrte Dornröschen aus tiefstem Herzensgrund hinter ihr her.

»Die ist tücksch, daß sie mit uns zusammenwohnen muß; vielleicht wird sie mit der Zeit genießbarer,« sagte Mieting kleinlaut.

»Adelsnücken hat sie, das Rackerzeug! Na, wart! Gleich nachher reib' ich ihr unter die Nase, daß du mit einem Herrn von Staberow verlobt bist – ältester mecklenburgischer Adel; das wird ihr schon imponieren, der dämlichen Dirn, und denn lassen wir sie aber links liegen!« So zankte Leni, während sie in die neue graubraune Kleidung hineinfuhr.

»Vielleicht irren wir uns; hast du nicht auch von meinem Schwager Hans vorher behauptet, er bilde sich auf seinen Adel recht viel ein? Na, siehste!«

Mieting legte immer alles möglichst zum guten aus. Für Dornröschen war jedoch diese Erinnerung nicht angenehm, denn darin hatte sie sich doch wirklich getäuscht.

»Wir sehen aus wie die Maikäfer,« sagte sie, schnell ablenkend und auf die neuen Gewänder weisend.

»Surre man bloß nicht davon, Dornröschen; erst noch die Schürze,« erwiderte Mieting, auf ihren Scherz eingehend.

Nun sahen sie genau so aus wie die anderen. Leni fand es eigentlich nicht in der Ordnung, daß man seine Persönlichkeit so aufgab und in der Allgemeinheit aufgehen ließ.

»Was machst du denn da?« Mieting, die ihr glattes Blondhaar vor dem Spiegel zurechtstrich, sah erstaunt, wie die Freundin ihr Taschentuch um den Arm knüpfte. »Bist du vor der Abreise noch geimpft worden, Dornröschen?«

»Nee; aber falls ich mich nicht wieder 'rausfinden kann aus der Maikäferschachtel, mach' ich mir man bloß 'n lüttes Erkennungszeichen,« sagte Leni mit ernstem Gesicht.

Mieting lachte hellauf und wollte die Freundin übermütig herumschwenken.

»Ich bün ja heilfroh, Dirn, daß ich dich bei mir hab', sonst würd' ich jetzt hier sitzen und mich graulen und allenfalls noch Trübsal blasen,« sagte sie zärtlich.

»Ist auch notwendig, daß ich mitgekommen bin. Dein Fritzing hat mir ja die Verantwortung für dich Kücken auf die Seele gebunden. Also das schickt sich nicht, min Frölen« – sie zog die Stirn in ernste Falten – »daß eine verlobte Braut hier wie ein Gör herumhopst und eine wohlbestallte Lehrerin an der landwirtschaftlichen Schule für Frauen auch noch zu solchem Unfug verleiten will.«

Dornröschen war geradezu wie ausgewechselt. Alles Sorgenvolle, alles über ihre Jahre hinaus Ernste und andererseits das Kratzbürstige war strahlender Heiterkeit gewichen. Das war wieder die sonnige Lening von Nedderdorf!

Die Mahlzeit war fast vollendet, als die beiden Freundinnen in den Speisesaal zurückkehrten. Man hatte ihnen an einem Ende des Tisches Plätze angewiesen, und bald war ein lebhaftes Gespräch im Gange. Die jungen Mädchen ringsum waren so zwischen siebzehn und fünfundzwanzig Jahren, aber die unter zwanzig schienen in der Mehrzahl.

»Was wollen Sie werden?« fragten die Nachbarinnen sofort die neuen Genossinnen.

Mieting schwieg errötend und deckte die Serviette über den schmalen Goldreif, Dornröschen aber entgegnete lachend: »Ich will ein tüchtiger Landmann werden, und meine Freundin hier eine glückliche junge Frau!« Dabei zerrte sie die Linke der widerstrebenden Mieting empor.

Da war das Geheimnis heraus. Die bescheidene Mieting war plötzlich zu einer sehr bestaunten Persönlichkeit geworden; als einzige Braut umschwebte sie ein gewisser Nimbus.

»Fräulein Sürsen, vielleicht sind Sie so freundlich, die Aufsicht beim Abdecken an Ihrem Tisch zu übernehmen; auch beim Tafeldecken und Servieren liegt die Sorge für diesen Tisch in Ihrer Hand,« ließ sich da Fräulein Kluge vernehmen.

Dornröschen wurde es etwas schwül zumute. Unwillkürlich mußte sie an daheim denken, wo sie mit Gemütsruhe ein fleckiges Tischtuch ausgelegt und sich nie darum gekümmert hatte, daß Gusting Salzfaß, Brotkorb und Wasserflasche wie ein Regiment Soldaten hintereinander aufmarschieren ließ und einem beim Herumreichen am Tisch mit der Schüssel fast den Schädel einrannte. Und nun sollte sie hier die Oberaufsicht führen? Es war eigentlich zum Lachen!

Aber Dornröschen lachte nicht, sondern ahmte möglichst Miß Browns, ihrer einstigen Erzieherin, hoheitsvolle Miene nach und sagte im gleichen Ton, wie sie es eben drüben von dem anderen Tisch vernahm: »Die Ordnerinnen abdecken!«

Vier junge Mädchen, welche die hauswirtschaftliche Abteilung der Anstalt besuchten, erhoben sich sofort. Die eine nahm die Teller zusammen, die zweite sammelte die Bestecke in einen Korb, die dritte stellte die Gläser auf ein Brett, die letzte räumte den Rest fort und legte sorgsam das Tischtuch wieder in Falten.

Die übrigen jungen Mädchen hatten bereits den Speisesaal verlassen. Die »Oberaufsicht« aber stand, anstatt andere zu belehren, mit großen lernbegierigen Augen dabei und sah zu, wie man es machte. Nun, der Gusting würde sie aber daheim den Marsch blasen, wenn sie einmal wieder das Tischtuch wie einen Scheuerlappen zusammenknautschte!

Unter Dornröschens Schülerinnen war auch ihre Zimmergenossin. Die rötlichblonde Baroneß lehnte, während die übrigen drei eifrig im Saal zu fegen begannen, mit verächtlicher Miene an dem großen, schweren eichenen Anrichttisch und rührte sich nicht.

»Wollen Sie so freundlich sein und sich beteiligen?« wandte sich Dornröschen zu ihr.

»Nein!« Die junge Dame schmetterte ihre Geräte auf den Fußboden, daß sich häßliche Schrammen auf dem schön gebohnten Parkett zeigten, und lief eilends davon.

Ratlos sah Leni hinter ihr her. Die anderen lachten.

»So macht sie es immer, Fräulein Sürsen, sobald ihr etwas gegen ihre siebenzackige Krone geht,« sagte ein junges, frisches Mädel mit Wangen wie ein Borsdorfer Apfel.

Aha – also hatte sie sich doch nicht getäuscht! Und mit diesem hochmütigen Karnickel mußte sie zusammenwohnen?!

»Darum haben Sie Baroneß Silvia ja in Ihr Zimmer bekommen,« teilte der Borsdorfer Apfel etwas geschwätzig mit. »Uns hat sie so lange getriezt, bis wir ihre Arbeit noch besorgten. Aber Fräulein Doktor sagt, Sie seien ja eine halbe Lehrerin; da wird sie so was nicht wagen.«

Die halbe Lehrerin, die sich inzwischen daran gemacht hatte, mit Schaufel und Besen aufzukehren, hielt erschrocken inne. Sie nahm ja der eingebildeten Krabbe bereits eine Arbeit ab – na, das konnte recht niedlich werden!

Im Musikzimmer waren die jüngsten Damen um Fräulein Doktor, wie man sie allgemein nannte, versammelt. Fast alle hatten eine feine Handarbeit vorgenommen. Fräulein Doktor winkte Mieting und Leni in ihre Nähe.

»Über die Fächer, die Sie zu belegen wünschen, reden wir morgen. Heute ist Feierabend. Nur so viel noch, daß jede Schülerin morgens früh ihr Bett selbst zu machen und abwechselnd immer eine Woche lang das Zimmer aufzuräumen hat. Baroneß Silvia wird die erste Woche in Ihrem Zimmer übernehmen, und Sie, Fräulein Sürsen, werden die Aufsicht führen.«

Die junge Baroneß, die diese Worte hörte, setzte ihre empörteste Miene auf.

»So, wer spielt, singt oder deklamiert uns nun heute etwas vor?« wandte sich Fräulein Doktor jetzt an ihren jugendlichen Kreis.

Ohne sich zu zieren oder sich irgendwie erst noch bitten zu lassen, erhob sich ein junges Mädchen mit blassem, unschönem Gesicht und schritt zum Flügel. Mit einer wunderbaren Altstimme sang es ein Lied, und es war merkwürdig zu sehen, wie das Gesicht sich bei dem schlicht-innigen Vortrag verschönte.

»Sind Sie auch musikalisch, Fräulein Sürsen?« wandte sich Fräulein Doktor, als die Sängerin geendigt hatte, an Leni.

»Nee – ich bin so unmusikalisch wie unser Hofhund daheim!« Dornröschen rief es fast erschrocken.

Man lachte von Herzen über ihre drollig-frische Art.

»Aber deklamieren – wie ist's denn damit? Etwas müssen Sie für die Allgemeinheit tun; niemand kommt drum rum,« erwiderte lächelnd die Vorsteherin.

»Ich werde doch woll zu nix nutz sein; ich bin eben ein Landpomeränzchen« – jetzt kam ihr das Wort, das sie einst so verletzte, selbst in den Mund – »ich kann nix weiter als Tüften buddeln und Plattdütsch snaken,« setzte sie hinzu, sich über sich selbst lustig machend.

»Großartig,« rief Fräulein Doktor mit ihrer noch jugendlichen Lebhaftigkeit. »Endlich jemand, der meinen Lieblingsschriftsteller nach allen Regeln der Kunst vorlesen kann! Den Reuter, Kinder – bringt den Reuter!«

Einige Mädel schleppten sämtliche Bände Reuter herbei. Mit kundiger Hand griff Fräulein Doktor die Stromtid heraus.

»Das paßt am besten für uns,« sagte sie.

Da saß nun das Landpomeränzchen, das keinerlei Talent hatte, als Mittelpunkt in dem neuen Kreise und las mit heller Stimme und mit lachendem Humor die goldenen Worte ihres Heimatdichters. Da wurde es so warm, so traulich in Leni; mitten in der Fremde erstand plötzlich die Heimat. Mietings Hand schmiegte sich leise in die ihre, um ihre Zugehörigkeit zu Mecklenburg auszudrücken.

Ein durchdringender Glockenton schrillte auf einmal in den ländlichen Frieden hinein, so laut und gellend, daß es selbst die ollen tauben Nüßler, von denen Leni gerade las, gehört hätten.

Zubettgehzeit! Dornröschen klappte das Buch zu; die jungen Damen legten ihre Arbeiten zusammen, und Fräulein Doktor dankte Leni für den genußreichen Abend. Dann hob sie die Sitzung auf.

Paarweis oder zu dreien zogen die jungen Damen in ihre Zimmer, Dornröschen und Mieting natürlich Arm in Arm, daneben die rotblonde Baroneß.

»Wie ein verlorenes Schaf läuft das arme Ding nebenher; sie scheint keine einzige Freundin hier zu haben,« flüsterte die gutmütige Mieting Leni zu, und aus ihrem weichherzigen Empfinden heraus reichte sie plötzlich der Fremden ihren freien Arm.

»Wollen Sie nicht mit uns gehen? Wir gehören ja jetzt zusammen.«

»Danke; ich bin lieber für mich,« kam es kühl auf die warmen Worte zurück.

»Verflixte Krabbe,« murrte Dornröschen in sich hinein, weil man ihr Mieting hatte so »abfallen« lassen.

Ziemlich einsilbig ging man zur Ruhe. Auch den beiden Freundinnen war durch die Anwesenheit der zurückhaltenden jungen Dame die Lust zu einem gemütlichen »Snak« vergangen.

Dornröschen hockte auf ihrem Bettrand und schaute mit großen Augen zu, was die junge Baroneß für Salbungen und Einreibungen mit ihrer Person vornahm. Die zarte Haut wurde mit einer Creme eingerieben, die Hände mit Glyzerin, die Lippen mit Pomade, der Hals mit Mandelmilchseife und die sanft gerötete Nase weiß gepudert. Baroneß Silvia sah jetzt aus wie ein Clown. Hellauf lachte Dornröschen, und Mieting stimmte wider Willen mit ein.

»Sie wollen sich wohl zur ägyptischen Mumie ausbilden, daß Sie sich so einbalsamieren?« rief Leni, die schwer etwas hinunterschlucken konnte.

Keine Antwort – verachtungsvolles Schweigen. Da kroch das Landkind achselzuckend ins Bett.

»'Nacht, Mieting – gute Nacht, schlafen Sie wohl!« Leni wandte sich, ehe sie sich in ihre Decke einkuschelte, gegen das Mumienbett.

Aber kein Gegengruß kam von dort. Die Baroneß tat, als ob sie bereits schliefe.

»Na, denn nicht; kann mir auch recht sein!« Das war der letzte Gedanke, den Dornröschen auf dem neuen Lager hatte, ehe der Traumgott sie in die Heimatgefilde entführte.


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