Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Turmfräulein

Um den altersgrauen, von Kletterrosen umwucherten Turm des Nedderdorfer Gutshauses sauste übermütig der junge Maienwind. Unternehmungslustig spähte er zum runden Turmfenster hinein und pustete mit aufgeblasenen Backen wie ein rechter nichtsnutziger Gassenjunge die Rosenknospengardine an, daß sie sich ängstlich bauschte. Mit kecker Hand fuhr er dem jungen Mädchen, das da am Schreibtisch den hübschen Kopf tief über dicke Bücher und Stöße von Papieren beugte, über die glänzend braune Flechtenkrone. Aber Leni hob den Kopf nicht. Nur noch tiefer und mutloser neigte sich der dunkle Mädchenscheitel über das schwarze Zahlengewimmel.

Nanu – die Leni Sürsen, das Dornröschen von Nedderdorf, das einst gar fröhlich mit ihm um die Wette dahinjagte, heute so niedergeschlagen? Dem jungen Maienwind wollte das nicht in den krausen Sinn. Er zauste sie an den Nackenlöckchen, zupfte sie am Ohr, streichelte zärtlich ihre gefurchte weiße Stirn, und als ihm das alles noch nichts half, da küßte der Schlingel das junge Mädel dreist auf die Rosenwange.

Jetzt endlich hob das Turmfräulein die blauen Augen. Aber sie lachten den Maienwind nicht an, wie er das sonst von ihnen gewohnt war. Still und nachdenklich spazierten die Blicke des jungen Mädchens aus dem Fenster hinaus, in die sonnengoldene blühende Frühlingswelt.

»Potztausend nochmal – da verliere ein anderer nicht die Geduld dabei!« Der junge Sausewind griff ärgerlich in die aufgestapelten Papiere, die an Dornröschens trübseliger Stimmung schuld trugen, und – hast du nicht gesehen – wirbelte er sie im Turmstübchen ringsumher.

Mit einem Schrei, halb ärgerlich, halb belustigt, fuhr Leni aus ihrem Sinnen empor und hinter den Flüchtlingen her.

Hier – dort – allenthalben – über das kleine Rosenknospensofa, das mit rosigem Mull bespannte Nähtischchen, über die zierlichen Sessel ging die tolle Jagd. Dornröschens noch eben so nachdenkliches Gesicht wurde dabei wieder hell und frohgemut, Saatrechnungen, Reparaturenzettel, Wochenlohnlisten und Dungmittelanzeigen, ach, wenn sie doch alle davonflattern wollten! Was kümmerten sie die an solchem goldenen Maientag?

Tief atemholend trat Leni ans Fenster. Zum erstenmal sah sie heute, wie schön es draußen war, wie das grünte, blühte und duftete. Wo blieben da schwere Gedanken, düstere Sorgen? Die nahm der junge Maienwind, der sich zufrieden ins Fäustchen lachte, alle mit davon in die blaue Weite. Das Turmfräulein aber setzte sich mit helleren Augen wieder an Vatings Schreibtisch.

Wie kam dieser schwere, dunkle Männerschreibtisch nur hier herein in das zarte, rosenrote Mädchenstübchen? Selbst die Schwalben, die an dem alten Turm nisteten, hatten sich lange die Köpfe darüber zerbrochen, als sie im vorigen Jahre von ihrer Winterreise wieder auf dem Mecklenburger Gutshofe ihren Einzug hielten. Aber das war es nicht allein, worüber sich die Schwalben wundern mußten. Auch ihr Turmfräulein war verändert. Das sang und sprang nicht mehr jubelnd in Haus und Hof herum; still und gedrückt ging es in schwarzen Trauerkleidern einher, oder es schrieb und rechnete an dem großen Schreibtisch von Vating, der gar nicht in das duftige Turmstübchen hineinzupassen schien.

Nun wußten es die Schwälbchen, daß schweres Leid über den lieben Gutshof gezogen war. Dornröschens Vater, der fleißige, unermüdliche Gutsherr, der sonst an dem großen Schreibtisch saß, war für immer zur Ruhe gegangen. Da dämpften sie ihr fröhliches Gezwitscher, wenn sie ihre junge Turmherrin so emsig bei der ungewohnten Arbeit sahen.

Über ein Jahr verging seitdem. Die düsteren Trauerkleider waren verschwunden, aber das alte herzfreudige Lachen fand noch immer nicht wieder den Weg zu dem traulichen Gutshause. So fröhlich die Schwälbchen auch tirilierten, nur selten wurde ihnen ein leises Echo von roten Mädchenlippen. Dornröschen hatte jetzt anderes zu tun.

»Hundertsechsundsiebzig Mark und fünfundachtzig Pfennig für Aussaat – sechshundertfünfzig Mark ein Paar Kühe – vierzig Mark für Gemüsepflanzen – nanu, da hat sich Ruprecht ja schon wieder mal um hundert Mark verrechnet! Ich will es wenigstens zu seinen Gunsten annehmen, daß es nur ein Rechenfehler ist. Aber man muß dem Menschen schärfer auf die Finger passen! Erst gestern die Geschichte mit der doppelten Tierarztrechnung – wenn's nicht auf die Erntezeit zuginge, ich kündigte ihm am liebsten zu Johanni. Es ist wirklich ein Elend!«

Das junge Mädchen seufzte tief auf und machte sich dann aufs neue an die Nachprüfungen.

»Dornröschen – Dornröschen – du sollst zu Mutting kommen – aber fixing – und Dörthe läßt fragen, ob sie woll ein Schock Eier mit zum Verkauf nach der Stadt nehmen soll. Und was Mining is, die hat noch keinen Küchenzettel bekommen, und ich brauch' woll heut mal keine Strickstunde zu haben?«

So rief eine helle Kinderstimme aus dem Wirtschaftshof herauf.

Leni zog erschreckt die Uhr. Himmel, gleich neun? Da saß sie nun schon über zwei Stunden bei diesen vertrackten Büchern!

Sie trat an das eine der drei Turmfensterchen, das nach dem Gutshofe hinausging. Drunten stand ein allerliebstes, blondlockiges, kleines Mädchen von etwa sechs Jahren mit musbeschmiertem Gesicht. Der rechte Strumpf hing ihm über den Schuh hinab. Das blaubedruckte Kattunkleid zeigte ein klaffendes Dreieck; die graue Leinenschürze war wie eine Landkarte anzuschauen, mit Flecken geradezu übersät.

»Suschen – Dirn – wie siehst du bloß wieder aus! Was 'n Schmutzdeibelchen! Schämst du dich denn gar nicht, Lüttes, so einherzulaufen!«

Die große Schwester versuchte vergeblich, ihr Gesicht in strenge Falten zu legen. Die Freude beim Anblick der hübschen Kleinen schaute ihr aus den Augen.

Suschen kannte ihr Dornröschen. Sie sprang ungestüm die runde Turmtreppe hinauf und hing sich zärtlich an den Hals des jungen Mädchens. Dabei bekam auch Dornröschens rosenrotes Kattunkleid seinen Teil von den Pflaumenmusfingern des Schwesterchens ab, zum Glück auf den Rücken, wohin das Auge der Gerechtigkeit nicht reichte.

Leni nahm das kleine Mädchen, für dessen Erziehung sie jetzt fast allein Sorge zu tragen hatte, an die Hand. Sie mußte sich bücken, als sie durch die niedrige Turmpforte hindurch in den lachenden jungen Morgen hinaustrat. Schlankgewachsen, biegsam und dabei doch kraftvoll, so schritt Dornröschen wie der verkörperte Lenz unter dem rosenroten Blütenregen der Apfelbäume dahin.

»Dörthe, nimm man drei Schock Eier mit rein in die Stadt! Wir möten uns denn hier einrichten – das helpt nich – und laß dir nicht etwa wieder wat von der Butter abziehen! Gutsbutter bleibt eben Gutsbutter!« Dann kam Mining an die Reihe: »Ja, Mining, was kochen wir heut man wieder? Na, Löffelerbsen mit Speck für die Lüd (Leute), und für den Herrschaftstisch kannst von dem jungen Spinat nehmen; das dritte Beet steht schon recht hübsch. Susing, Lüttes, was fängst denn nicht immer an? Ich komm' schon nachher zur Strickstunde herüber.« Wenn Leni mit den Leuten sprach, verfiel sie öfters in das breite, gemütliche Mecklenburger Platt.

»Je, Frölen Lening, wat ick noch seggen wullt,« begann die alte Dörthe umständlich und kam, das Butterfaß in der Rechten, an das Fenster des Milchkellers herangehumpelt. Aber da stand längst kein Frölen Lening mehr. Leni, die Flinke, war, nachdem sie noch einen prüfenden Blick auf die Wäschebleiche geworfen, bereits zur Mutter ins Haus geeilt.

In Vatings kleinem Jagdzimmer, wo er immer am liebsten geweilt, hielt sich Frau Elisabeth seit dem jähen Tode ihres Gatten fast ständig auf. Nur selten kam sie hinaus ins Freie. Die frischen Wangen der einst so rüstigen Gutsherrin waren durch den Schmerz blaß und schmal geworden, das dunkle Haar silberweiß; die Augen hatten ihren hellen Glanz verloren. Sie erzählten von vielen durchweinten Nächten.

Auch jetzt saß sie vor dem mit Blumen umkränzten Bild ihres Mannes, der kraftvoll und lebensprühend in Lodenwams und Jagdhütchen aus dem Rahmen zu treten schien, tief in Erinnerungen versunken. So war er an jenem Morgen von ihr gegangen! so hatte sie ihn zuletzt gesehen, ehe es kam, das furchtbare Unglück . . .

Leni war an der Tür stehen geblieben; die Mutter hatte ihren Eintritt nicht bemerkt. Kopfschüttelnd trat das junge Mädchen näher.

Immer dasselbe! Immer das gleiche schmerzhafte Wühlen in dem, was dahin war! Nur die Vergangenheit schien für die Mutter noch zu leben, die Gegenwart war für sie tot und gleichgültig. Wer ihr doch wieder neue Lebensfreude geben könnte! Zärtlich umschlang die Tochter die Zusammenfahrende.

»Du hast mich rufen lassen, Mutting . . .«

Frau Lisabeth fuhr sich müde über die Stirn.

»Ja, Kind, wieder mal was Unangenehmes – woher sollte uns auch wohl was anderes kommen? Ruprecht war vorhin bei mir. Er hat sich über dich beklagt; du hättest ihm gegenüber gestern wegen irgend einer irrtümlichen Rechnung einen Ton angeschlagen, den er sich nicht gefallen lassen könne. Er hat mir zum 1. Juli gekündigt.«

Leni stand wie vom Donner gerührt. Eben erst hatte sie selbst diese Frage erwogen; aber jetzt, da der Inspektor ihnen den Stuhl vor die Tür setzte, überblickte sie erst die ganze Folgenschwere.

»Gerade zu Johanni? Himmel, was wird aus unserer Ernte!« Sie biß sich auf die Lippen.

Sie pflegte ihrem Mutting gegenüber alles Schwere und Drückende niederzukämpfen und ihr stets ein möglichst heiteres Gesicht zu zeigen. So schlug sie auch jetzt, trotzdem es ihr nicht leicht wurde, einen sorgloseren Ton an.

»Na, auf Ruprecht ist ja, Gott sei Dank, die Welt nicht gebaut. Es wird sich schon Ersatz schaffen lassen!«

»Ja, irgendein Hergelaufener, der Grund und Boden, Land und Leute nicht kennt! Was Gescheites ist jetzt im Sommer doch nicht aufzutreiben. Was ein tüchtiger Inspektor is, der geht vor der Erntezeit nicht von seinem Posten.« Frau Lisabeths Stimme, die im Anfang etwas lebhafter klang, wurde wieder matt und leise.

»Ja, Mutting, wir haben doch ihm nicht gekündigt, sondern er uns – wenn wir auch mehr als genügend Grund dazu gehabt hätten! Bitten werden wir ihn wahrhaftig nicht, zu bleiben!« Das war wieder die alte Leni, wie sie da entschlossen den Kopf mit den prachtvollen Flechten in den Nacken warf.

»Wenns nur nicht schon der fünfte Inspektor in den anderthalb Jahren wär', seitdem unser Vating von uns gegangen,« klagte Frau Lisabeth mutlos. »Mit keinem kannst du dich stellen, Kind. Bald ist es dies, bald jenes, und das Gut leidet darunter.« Sie seufzte kaum hörbar.

»Es würde noch viel mehr leiden, wenn ich nicht so hinterher wär' und auf alles acht gäbe« – Lenis Kornblumenaugen wurden noch tiefer und dunkler vor Erregung – »warum gehen sie denn?«

»Weil sie sich nicht allenthalben von dir dreinreden lassen mögen. Ruprecht hat darauf vorhin das Hauptgewicht gelegt. Von einem Gutsherrn wolle er sich gern befehlen lassen, sagt er, nicht aber von einem jungen Ding, das von der Landwirtschaft so gut wie nichts versteht. Ach, warum hast du uns allein gelassen!« Die Mutter blickte mit schwimmenden Augen auf das Bild in ihrer Hand.

Leni, die eben noch hatte auffahren wollen, wurde weich.

»Mutting, min leiw Mutting« – sie drückte den schneeweißen Frauenkopf liebevoll an ihre junge, stürmisch atmende Brust – »Vating wär' doch der letzte, der zugegeben hätt', daß was Unrechtes auf seinem Grund und Boden geschieht! In seinem Sinne ist es, daß ich die Oberaufsicht hier auf Nedderdorf übernahm, bis Karl Heinz mal so weit ist.«

Lenis Worte blieben nicht ohne Eindruck auf die Mutter.

»Es ist auch für dich zuviel, mein' Dirn; mit neunzehn Jahren schon solch schwere Last auf den Schultern in Haus und Hof! Ich hätt' dir eine andere Jugend gewünscht.«

Leni richtete sich auf und reckte die jungen Arme.

»Meine Schultern sind stark, Mutting; nicht umsonst hab' ich so viel mit Karl Heinz geboxt –« der Versuch zu scherzen wollte ihr aber nicht recht gelingen – »ich wünsch' mir nix Besseres, als für unseren Jung' hier die Hände zu regen. Und wenn du mich in der Wirtschaft wieder unterstützen könntest, Mutting – du warst doch früher die tüchtigste Landwirtin weit und breit oder wenn du dich ein bißchen mehr um die Gören (Kinder) kümmern wolltest, da könnt' ich am Ende auch meine landwirtschaftlichen Kenntnisse noch etwas erweitern.«

Leni hatte fast zaghaft gesprochen; sie wußte, daß die Mutter jeden Versuch, sie ihrem Hindämmern zu entreißen, mit krankhafter Heftigkeit zurückwies. Auch jetzt hob Frau Lisabeth abwehrend die Hände.

»Ich bin eine gebrochene Frau, – zu nichts mehr gut, als sein Andenken zu beweinen. Laßt mich doch! Ich tauge nicht mehr zur Wirtschaft noch zur Kindererziehung. Aber die Gören müssen ihr Recht haben; das seh' ich ein. Hier bekommen sie es nicht, und deshalb, Lening – es wird mir schwer, dir den Vorschlag zu machen – wäre es nicht besser, wenn wir von hier fortgingen? Irgendwohin in die Stadt, wo die Kinder eine ordentliche Erziehung erhalten können?«

Frau Sürsen sah sich in dem traulichen Jagdzimmer um, als ob es schon jetzt gelte, von jedem lieben Stück Abschied zu nehmen. Leni faßte sich nach der Stirn.

»Was – fortgehen – von Nedderdorf, von unserem alten Besitz – und das Gut – – –?«

»Man müßt' hier eben einen zuverlässigen, selbständigen Verwalter einsetzen, der es bewirtschaftet, bis der Jung' seine Studien beendet hat; dann wär' man auch den ewigen Ärger mit den Inspektoren los und hätte Ruhe.«

Die Mutter schloß ermüdet die Augen. Es kam nicht oft vor, daß sie so lange Auseinandersetzungen führte. Aber Leni, die sonst voll rührender Sorge um ihre Mutter war, beachtete ihre Abspannung nicht. All ihre feurige Natur, die ganze kernige Entschlossenheit, die sie von Vating und Mutting geerbt hatte, schlug ihr brennend zum Dache hinaus.

»Ja, Ruhe – Ruhe, und das Nachsehen dazu, das hätten wir! Jetzt sitzt Karl Heinz noch in Prima; dann kommt das Studium, und bis er fertig wäre, ist das Gut längst verwirtschaftet. Dann kann unser Jung' als Inspektor auf einer fremden Klitsche Sand buddeln gehen! Das soll aber nicht geschehen! Nein, das darf nicht – das lass' ich nicht zu! Vatings Nedderdorf halt' ich bis zu meinem letzten Atemzug für den Bruder!«

Leni zitterte am ganzen Körper vor Erregung. Frau Lisabeth griff sich gequält an die Schläfen.

»Was du noch immer ungestüm bist, Kind! Es war doch nur ein Vorschlag. Aber wie du willst; das ist ja alles so gleichgültig!«

Sie verfiel wieder in ihr früheres Nachgrübeln. Leni wußte nicht, ob sie gehen oder bleiben sollte. In ihr wogte und tobte es noch immer, aber die Mutter bedurfte der Schonung; sie hatte ihr schon mehr als zuviel zugemutet. Lautlos verließ sie das Zimmer.

Draußen preßte sie die Hände auf das wildpochende Herz. Mutting hatte recht; sie war noch heute mit ihren neunzehn Jahren geradeso ungestüm und aufbrausend wie früher als Backfisch, wo es gar oftmals was gesetzt hatte wegen ihres ungezügelten Wesens. Warum hatte sie der Mutter nicht ruhig und sachlich die Bedenken gegen ihren Vorschlag auseinandergesetzt? Weil sie eben die Leni Sürsen war, die immer gleich lichterloh brannte, die schnell mal ein unbedachtes Wort sprach, das ihr hinterher leid war! Heute aber nicht – nein, heute nicht! Das, was sie gesagt, hatte sie sagen müssen; nur das Wie hätte anders sein können.

»Ich darf Nedderdorf nicht preisgeben – ich hab' die Kraft, es zu halten!« Sie flüsterte es noch einmal wie ein Gelübde vor sich hin.

Die Kraft schon – aber auch den Mut, den frischen, fröhlichen Mut? Der wollte ihr nicht kommen, wenn sie an die Kündigung des Inspektors, an Johanni und die schwere Erntezeit dachte!

Droben im Kinderzimmer wartete Suschen auf ihre Schulstunde. Leni hatte es übernommen, dem Schwesterchen die Anfangsgründe beizubringen, denn an eine Erzieherin konnte man nicht denken. Vating war zu jäh aus seinem Schaffen herausgerissen worden. Das Sürsensche Vermögen lag einzig und allein in der Scholle; da mußte man sich jetzt an allen Ecken und Enden einschränken, war doch der Ertrag des Gutes unter fremder Hand bereits zurückgegangen.

Es war Leni in ihrer augenblicklichen Verfassung nicht möglich, die krummbeinigen M und buckligen O des Schwesterchens zu begutachten, ausgerissene Maschen zurückzuholen oder gar der Kleinen die Geheimnisse des Rechnens klarzumachen. Sie mußte erst mit sich selbst im klaren sein. Das junge Mädchen dachte nicht daran, daß die Regelmäßigkeit der Pflichterfüllung am schnellsten das seelische Gleichgewicht wiederherstellt.

»Susing, hilf man eben Mining in der Küche oder bleib bei Gusting auf dem Wäscheplatz! Du hast heut mal Ferien,« sagte Leni und öffnete die Tür zum Kinderzimmer.

Da schob das Schwesterchen, ein leises Schlummerlied singend, ihren Puppenwagen hin und her, in den sie den vier Wochen alten, jämmerlich mauzenden kleinen Kater gepackt hatte. Wider Willen mußte Leni lachen, so wenig ihr auch danach zumute war. Merkwürdig: das Schwesterchen verstand es stets, sie wieder heiter zu stimmen! Das Kind war ihr Sonnenschein geworden während der trüben, grauen Zeit seit dem Tode des Vaters.

Auch jetzt ließ es sein Katerbaby im Stich und turnte mit einem hellen Jubellaut an der großen Schwester empor.

»Du bist mein liebstes, bestes, einziges Dornröschen,« schmeichelte die Kleine, »und wenn du mich nicht mehr alle Tage mit der ollen Stunde quälst, dann hab' ich dich noch tausendmal lieber.«

»Faulpelz!« Leni gab ihr einen liebevollen Klaps und versuchte das zärtliche kleine Ding von sich abzuschütteln. Aber es gelang ihr nicht; Suschen hielt fest.

»Ich will bei dir bleiben, ja, Dornröschen? Bitte – bitte! Gusting ist immer so doll brummig, und Mining, die sagt auch in einsweg: ›Mak, dat de furtkummst; stah mi nich äwerall (überall) in'n Weg un grawwel mi nich mang min Potts (zwischen meine Töpfe)‹«

Es klang drollig, wie das Plappermäulchen die derbe Küchenfee nachahmte; aber Leni lächelte wehmütig. Ihr tönte daraus die Vereinsamung des kleinen Mädchens entgegen, seitdem die Mutter sich nur wenig um das Kind kümmerte und sie selbst durch ihre vielfachen Pflichten anderweitig in Anspruch genommen wurde. Das Nedderdorfer Nesthäkchen, das einst von den Eltern so verhätschelt wurde, war sich jetzt oft selbst überlassen. Wäre die alte Dörthe nicht gewesen, dann hätte Leni in ihrem Dornröschenturm wohl kaum eine Minute vor dem kleinen Wildfang Ruhe gefunden. Jetzt hatte sie nur dagegen zu steuern, daß Dörthe die Kleine nicht allzusehr verzog. »Verzogen« hatte die treue Alte eigentlich alle Kinder des Nedderdorfer Gutshauses. Leni wußte es noch aus ihrer eigenen Kinderzeit her, wie sie sich mit allen ihren Wünschen hinter die gute Dörthe gesteckt hatte. Aber je älter Dörthe wurde, um so nachgiebiger wurde sie auch; sie ließ dem Kinde allen Willen, und Suschen hatte sich sowieso schon ein Trotzköpfchen angewöhnt.

Das machte sich auch jetzt wieder geltend, als sie durchaus nichts davon hören wollte, daß Dornröschen keine Zeit für sie habe.

»Warum mußt du denn immer bloß arbeiten? Du sollst mit mir spielen; ich habe doch man bloß eine Schwester.« Sie schob die Unterlippe vor wie immer, wenn sie beleidigt war.

»Hänschen und Fränzchen kommen bald aus der Schule; dann bist du nicht mehr allein,« tröstete Leni und befreite den herzbrechend miauenden kleinen Kater aus seiner Gefangenschaft.

»Och, die ollen Jungs! Die machen ja doch nix als Dummheiten mit mir, und ich krieg' nachher die Haue!«

Jetzt konnte sich Leni doch nicht helfen; sie mußte laut auflachen über das kleine Ding, das da so philosophische Betrachtungen anstellte. Suschen hatte wieder mal gewonnenes Spiel.

»Na, dann komm meinetwegen mit mir! Aber mucksstill verhalten – verstanden, Susing? Erst muß ich dich übrigens einigermaßen menschlich machen.«

Leni zog die Wadenstrümpfe hoch, entfernte mittels eines Seiflappens den Musbart der Kleinen und zog ihr ein sauberes Kleid über. Den zerrissenen Kattunhänger nahm sie mit; das war Feierabendarbeit.

Aber so schnell kam Leni noch nicht wieder in ihren Turm. Ihr kundiges Auge sah mancherlei im Vorbeigehen, was nicht in Ordnung war, und wo ihre rasche Hand geschwind eingreifen mußte.

»Gusting, das Tischzeug hat ja Kesselflecke! Mining, herrje, die Tränke für das Jungvieh ist noch nicht aufgesetzt! Makt'n beten tau, Dirns! Wo steckt denn Jürgens? Der möt (muß) dat Dach am Schafstall utbessern; dat regnet uns sonst da rin uff unsere Schafe.«

»Ne, ick slap (schlafe) nich, Frölen Lening; ick hab man blot de Stäwel (Stiefel) vom Herrn Inspektor smert (geschmiert). I, wo wer' ick denn am helllichten Dag slapen!«

Der alte Jürgens richtete sich schwerfällig aus seiner zusammengesunkenen Stellung an der Kellertreppe auf und machte mit dem Reitstiefel des Herrn Inspektors eine Bewegung, als ob er solchen Gedanken weit von sich weise. Der grauhaarige Knecht war seit einigen Jahren recht schwerhörig geworden und bei schlechtem Wetter besonders.

So schaute denn Leni auch heute sogleich mißtrauisch in den wolkenlosen Maienhimmel, ob am Ende ihrer Saat wieder Regen drohe, denn Jürgens' Taubheit war zuverlässiger als das beste Barometer. Dann wandte sie sich mit begütigendem Lächeln an den Alten, der schon mit ihrem Vating die ersten Reitübungen auf seinen jetzt ziemlich steifen Knien unternommen hatte.

»Jürgens, ich mein' ja die Schaf'!« Sie legte ihm zutraulich wie einst in der Kinderzeit die Hand auf seinen Flausrock. Der alte Mann machte ein verdutztes Gesicht.

»Wat – ick bün 'n Schaf?« Aber das schien ihm doch selbst nicht so recht zu der freundlichen Miene seines jungen Frölens zu passen, denn als Leni und Suschen jetzt hellauf lachten, tat er, sich verlegen räuspernd, mit.

Klein-Susing erklärte sich bereit, die weitere Verständigung zu unternehmen. Sie kletterte wie ein Wiesel auf ein Bündel Futtergrün, das da vor dem Ziegenstall lag, und sprang von hier aus dem gutmütig schmunzelnden Jürgens auf den Rücken.

»Den Schafstall sollst ausbessern,« schrie sie ihm in die Ohren, daß Cäsar, der fast ebenso altersgrau war wie Jürgens, erschreckt den müde blinzelnden Kopf aus seiner Hundehütte hob.

Jetzt hatte der Alte verstanden. Zum Dank trabte er mit seiner blondlockigen Last schwerfällig über den Hof. Cäsar steifknochig hinterher. Hellauf jauchzte Suschen.


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