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56.

Es ist ein sehr gewöhnlicher und weit verbreiteter Aberglaube, daß jeder Mensch ganz bestimmt ausgeprägte Eigenschaften habe, daß es also schlechtweg gute, böse, kluge, dumme, energische, apathische usw. Menschen gebe. In Wirklichkeit sind die Menschen nicht so beschaffen. Wir können von einem Menschen nur sagen, daß er häufiger gut als böse, häufiger klug als dumm, häufiger energisch als apathisch ist und umgekehrt; es wird der Wahrheit nicht entsprechen, wenn wir von dem einen Menschen sagen, er sei immer gut oder klug, und von einem andern, er sei immer böse oder dumm. Gleichwohl teilen wir die Menschen immer so ein – wie gesagt, mit Unrecht. Die Menschen sind wie die Ströme: das Wasser ist in allen gleichartig, überall ein und dasselbe, doch jeder Strom ist bald schmal und schnellfließend, bald breit und langsamfließend, ist abwechselnd rein, kalt, trübe oder warm. So sind auch die Menschen zu verschiedener Zeit verschiedenartig beschaffen. Jeder Mensch trägt in sich die Keime aller menschlichen Eigenschaften und offenbart bald die eine, bald die andere von ihnen; er ändert sich oft so, daß man ihn nicht wiedererkennt, während er dabei doch stets derselbe geblieben ist. Bei manchen Leuten pflegt dieser Wechsel in ganz besonders schroffer Form einzutreten, und zu diesen Leuten gehörte Nechljudow. Es waren bald physische, bald geistige Ursachen, die das Eintreten dieses Wechsels bei ihm bedingten. Auch jetzt wieder war ein solcher Wechsel bei ihm eingetreten.

Das freudig-feierliche Gefühl, das er nach der Gerichtssitzung und nach der ersten Zusammenkunft mit Katjuscha empfunden hatte, war ganz verflogen, und an seine Stelle war nach der letzten Zusammenkunft ein Gefühl der Furcht, ja sogar der Abneigung gegen sie und ein Bewußtsein moralischen Zwanges getreten. Er war nach wie vor entschlossen, sie nicht im Stiche zu lassen und sie, falls sie darauf einging, zu heiraten; doch empfand er diesen Entschluß jetzt als etwas Drückendes, Qualvolles.

Am Tage nach seinem Besuche bei Maslennikow begab er sich wieder nach dem Gefängnis, um sie zu sehen.

Der Inspektor gestattete die Zusammenkunft, doch sollte sie diesmal wieder in dem weiblichen Besuchszimmer stattfinden. Der Inspektor war, bei all seiner Gutmütigkeit, Nechljudow gegenüber zurückhaltender als bisher; offenbar war nach seinen Gesprächen mit Maslennikow die Anweisung erfolgt, diesem Besucher gegenüber die größte Vorsicht zu beobachten.

»Sprechen können Sie schon,« sagte er, »doch was das Geld betrifft, so halten Sie es damit, bitte, wie ich Ihnen sagte ... Und was ihre Verwendung im Krankenhause betrifft, so könnte sie laut Anordnung Sr. Exzellenz ja erfolgen, da auch der Arzt zugestimmt hat. Aber sie selbst will nicht hingehen: ›Was brauch' ich nach dem grindigen Pack den Schmutz aufzuräumen,‹ sagt sie ... Das ist ja eine Gesellschaft, Fürst, sag' ich Ihnen ...« fügte er hinzu.

Nechljudow antwortete nichts und bat nur, sie sehen zu dürfen. Der Inspektor schickte einen Aufseher nach ihr, und Nechljudow ging dann mit ersterem nach dem leeren Besuchszimmer der weiblichen Abteilung.

Die Maslowa war bereits da und trat still und schüchtern hinter dem Drahtnetz hervor. Sie kam ganz nahe an Nechljudow heran, und während ihr Auge an ihm vorübersah, sagte sie leise: »Verzeihen Sie mir, Dmitrij Iwanowitsch, ich habe vorgestern so böse zu Ihnen geredet.«

»Nicht ich habe Ihnen zu verzeihen ...« begann Nechljudow.

»Um eins aber bitte ich Sie: kümmern Sie sich gar nicht weiter um mich,« fügte sie hinzu, und in den jetzt besonders stark schielenden Augen, die sie auf ihn gerichtet hielt, lag wieder ein gespannter, böser Ausdruck.

»Warum soll ich mich nicht um Sie kümmern?«

»Nun, eben – so!«

»Ja – warum denn nicht?«

Sie sah ihn wieder mit demselben, wie er meinte, bösen Ausdruck an.

»Nun, weil ich's eben nicht will,« sagte sie. »Lassen Sie mich nur meiner Wege gehen, ich sage es ganz aufrichtig. Ich kann nicht ... Lassen Sie es auf jeden Fall,« sagte sie mit bebenden Lippen und schwieg. »Ich sage es, wie ich's meine. Lieber hänge ich mich auf!«

Nechljudow fühlte, daß in dieser Ablehnung zwar auch der Haß gegen ihn und der Zorn über die ihr angetane, noch nicht vergebene Kränkung zum Ausdruck kam, daß aber auch noch etwas anderes – Gutes, Bedeutsames – sich darin aussprach. Der Umstand, daß sie jetzt in ruhigem Zustande die Absage wiederholte, die sie das erste Mal so heftig und leidenschaftlich erteilt hatte, hob sogleich alle Zweifel und Bedenken in seiner Seele auf und versetzte ihn wieder ganz in seine frühere feierlichfreudige, rührungsvolle Stimmung.

»Katjuscha, ich gehe nicht ab von dem, was ich gesagt habe,« sprach er mit ganz besonderem Ernst. »Ich bitte dich: werde meine Frau! Wenn du nicht einwilligst, oder vorläufig noch nicht einwilligst, werde ich, wie ich schon erklärt habe, stets dort sein, wo du bist, und dir überallhin folgen, wohin man dich auch bringt.«

»Das ist Ihre Sache, ich sage nichts weiter,« sagte sie, und um ihre Lippen ging ein Zucken.

Auch er schwieg – er fühlte nicht die Kraft in sich, weiterzusprechen.

»Ich fahre jetzt aufs Land, und dann nach Petersburg,« sagte er endlich, nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Dort werde ich Ihre ... unsere Angelegenheit betreiben und, so Gott will, eine Abänderung des Urteils durchsetzen.«

»Ob sie's ändern oder nicht – mir ist alles gleich. Und wenn ich's dafür nicht verdient habe, so habe ich es vielleicht für andere Sünden verdient ...« sagte sie, und er sah, welche Anstrengung es sie kostete, die Tränen zurückzuhalten. »Nun, und den Menjschow – haben Sie den gesehen?« fragte sie plötzlich, um ihre Erregung abzulenken. »Er ist doch gewiß unschuldig, nicht wahr?«

»Ja, ich glaube es.«

»Und seine Mutter – was ist das für eine prächtige alte Frau!« sagte sie.

Er erzählte ihr alles, was er von Menjschow erfahren hatte, und fragte, ob sie nicht irgend etwas nötig habe; sie verneinte – und dann schwiegen sie wieder beide.

»Und wegen des Krankenhauses ...« sagte sie plötzlich und sah ihn mit ihren schielenden Augen an – »wenn Sie wollen, gehe ich hin, und auch Branntwein werde ich nicht wieder trinken ...«

Nechljudow blickte ihr schweigend in die Augen. Ihre Augen lächelten.

»Das ist sehr gut,« sagte er – es war alles, was er zu sagen vermochte.

»Ja, ja, sie ist ein ganz anderer Mensch geworden,« dachte Nechljudow, der nun, nach seinen früheren Zweifeln, ein völlig neues, nie gekanntes Gefühl des Vertrauens auf die unbesiegbare Kraft der Liebe in seinem Herzen hegte.

Die Maslowa kehrte nach dieser Zusammenkunft in ihre übelriechende Zelle zurück. Sie zog den Schlafrock aus, setzte sich auf ihren Pritschenplatz und ließ ihre Hände auf die Knie sinken. In der Zelle befanden sich nur die Schwindsüchtige, die Bäuerin aus Wladimir mit dem Säugling, die alte Menjschowa und die Bahnwärterin sowie die beiden Kinder. Die Küsterstochter war am Tage vorher für geisteskrank erklärt und ins Hospital gebracht worden. Alle übrigen Frauen waren draußen beim Scheuern. Die Alte lag auf der Pritsche und schlief; die Kinder waren draußen im Korridor, die Tür nach diesem war geöffnet. Die Frau mit dem Säugling und die Bahnwärterin mit dem Strickstrumpf, an dem ihre raschen Finger ununterbrochen arbeiteten, kamen zur Maslowa heran.

»Nun, hast du ihn gesprochen?« fragten sie.

Die Maslowa saß oben auf der Pritsche, ließ die nicht bis zum Boden reichenden Beine herunterbaumeln und gab keine Antwort.

»Na, was flennst du denn?« sagte die Bahnwärterin. »Nur den Mut nicht verlieren, das ist die Hauptsache! Ach, Katjuscha – nun, so hör' schon auf!« sagte sie, während sie behend mit den Fingern weiterhantierte.

Die Maslowa gab keine Antwort.

»Die andern sind beim Waschen. Es soll heute etwas extra Feines geben, ein Almosen. Große Spenden sollen zusammengekommen sein, heißt es,« sagte die Frau aus Wladimir.

»He, Finaschka,« rief die Bahnwärterin zur Tür hinaus – »wohin läufst du denn, du kleiner Wildfang?« Sie zog eine Stricknadel heraus, steckte sie in den Wollknäuel und ging in den Korridor hinaus.

In diesem Augenblick hörte man im Korridor das Geräusch von Schritten und weibliche Stimmen: – die Bewohnerinnen der Zelle kamen mit Filzpantoffeln an den bloßen Füßen nach der Zelle zurück. Jede von ihnen brachte ein oder auch zwei Stücke Weizengebäck mit. Fedoßja ging sogleich auf die Maslowa zu.

»Nun, ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie, mit ihren klaren blauen Augen die Maslowa liebevoll anschauend. »Das gab es heute zum Tee,« fuhr sie fort und legte ihre beiden Weizenbrote auf das Wandbrett.

»Er ist wohl wegen der Heirat andern Sinnes geworden?« fragte die Korablewa.

»Nein, aber ich will nicht,« versetzte die Maslowa – »und ich hab's ihm gesagt.«

»Bist du dumm, Mädchen!« ließ sich die Korablewa mit ihrer Baßstimme vernehmen.

»Was für einen Zweck hat das Heiraten, wenn sie nicht miteinander leben?« meinte Fedoßja.

»Na, dein Mann geht doch auch mit dir nach Sibirien,« sagte die Bahnwärterin.

»Wir sind doch auch schon verheiratet,« versetzte Fedoßja. »Wozu soll er sie erst heiraten, wenn er doch nicht mit ihr zusammenleben wird?«

»Bist du eine Närrin! Warum willst du ihn denn nicht heiraten? Er würde dich in Gold fassen, wenn du erst seine Frau bist.«

»Er meinte: ›überallhin folg' ich dir, wohin sie dich auch verschicken‹,« sagte die Maslowa. »Ob er mir folgt oder nicht – mir soll's gleich sein. Ich werde ihn nicht drum bitten. Jetzt fährt er nach Petersburg, in meiner Prozeßsache. Alle Minister sind mit ihm verwandt,« fuhr sie fort. »Aber ich brauch' ihn schließlich gar nicht.«

»Natürlich, wozu auch?« stimmte die Korablewa ihr plötzlich bei – sie begann in ihrem Beutel zu kramen und dachte offenbar an etwas anderes. »Wie steht's, trinken wir ein Schlückchen Branntwein?«

»Ich trinke nicht,« antwortete die Maslowa. »Aber ihr könnt es ja tun.«


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