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5.

In den Korridoren des Gerichtsgebäudes ging es bereits recht lebhaft zu, als Nechljudow eintrat.

Die Gerichtsdiener gingen rasch, zuweilen sogar im Trabe, mit schlurrenden Schritten, die Füße kaum vom Boden aufhebend und schwer atmend, mit Aufträgen und Akten hin und her; Advokaten, Richter und Aktuare eilten bald dahin, bald dorthin; Bittsteller und Angeklagte, die nicht in Untersuchungshaft saßen, schlichen in düsterer Stimmung an den Wänden entlang oder saßen erwartungsvoll auf den Bänken.

»Wo ist das Bezirksgericht?« fragte Nechljudow einen der Gerichtsdiener.

»Welche Abteilung? Es gibt eine Zivilabteilung und ein Kriminalgericht ...«

»Ich bin Geschworener.«

»Also zum Kriminalgericht. Das hätten Sie gleich sagen können. Hier rechts, dann links die zweite Tür.«

Nechljudow ging nach der ihm gewiesenen Richtung.

An der Tür, die man ihm bezeichnet hatte, standen zwei Männer und warteten: der eine war ein dicker Kaufmann von großer Statur, ein gutmütiger Mensch, der offenbar zum Frühstück gut gegessen und getrunken hatte und sich in der heitersten Gemütsverfassung befand; der andere war ein Kommis von jüdischer Herkunft. Sie unterhielten sich über die Wollpreise, als Nechljudow auf sie zutrat und fragte, ob hier das Geschworenenzimmer sei.

»Ganz recht, mein Herr, hier ist es. Auch Kollege? Geschworener?« fragte der gutmütige Kaufmann mit listigem Augenblinzeln. »Na, so werden wir also gemeinsam ans Werk gehen,« fuhr er auf Nechljudows bejahende Antwort fort. »Kaufmann zweiter Gilde Baklaschow,« sagte er, ihm seine weiche, breite, kurzfingerige Hand reichend. »Es bleibt uns nichts weiter übrig. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Nechljudow nannte seinen Namen und begab sich in das Geschworenenzimmer.

In dem nicht sehr großen Geschworenenzimmer befanden sich etwa zehn Leute verschiedener Art. Sie waren alle soeben erst angekommen, sie saßen oder gingen umher, musterten sich gegenseitig und machten sich miteinander bekannt. Ein verabschiedeter Offizier in Uniform war darunter, andere trugen Gehröcke, wieder andere Jacketts, und nur einer war im Bauernwams ohne Ärmel erschienen.

Allen konnte man, obschon der Geschworenendienst sie mitten aus ihrer Arbeit herausgerissen hatte und ihnen, wie sie sagten, recht lästig fiel, doch eine gewisse Befriedigung vom Gesicht ablesen, die in dem Bewußtsein, eine wichtige öffentliche Tätigkeit auszuüben, ihren Grund hatte.

Die Geschworenen, die sich teils einander vorgestellt hatten, teils sich mit Vermutungen über die Persönlichkeit dieses oder jenes Kollegen begnügten, sprachen miteinander vom Wetter, von den bevorstehenden Prozessen. Diejenigen, die mit Nechljudow noch nicht bekannt waren, beeilten sich, sich ihm vorzustellen – offenbar hielten sie es für eine besondere Ehre, mit ihm bekannt zu sein. Und Nechljudow nahm das, wie immer, wenn er unter Leute kam, die er nicht kannte, als etwas Selbstverständliches hin. Hätte man ihn gefragt, wie er dazu komme, sich für etwas Besseres zu halten als die meisten andern Menschen, so wäre er die Antwort schuldig geblieben, da sein ganzes Leben nichts aufwies, was man als ein besonderes Verdienst hätte ansehen können. Daß er das Englische, Französische und Deutsche korrekt sprach, daß er Wäsche, Kleider, Krawatte und Hemdknöpfe trug, die in den ersten Modemagazinen gekauft waren, konnte, wie er selbst einsah, wohl kaum als Grund dafür gelten, daß man ihm eine bevorzugte Stellung zuerkannte. Dennoch machte er auf eine solche unbedingt Anspruch, nahm die ihm erwiesenen Achtungsbezeigungen als etwas ihm Zukommendes hin und fühlte sich gekränkt, wenn sie ihm jemand verweigerte. Und gerade hier, im Geschworenenzimmer, sollte er die peinliche Erfahrung machen, daß ihm jemand nicht die gebührende Achtung erwies. Unter den Geschworenen befand sich ein Bekannter Nechljudows, Peter Gerassimowitsch mit Vor- und Vatersnamen; seinen Familiennamen hatte Nechljudow nie gekannt, und er bildete sich sogar etwas darauf ein, ihn nie gekannt zu haben. Peter Gerassimowitsch war einmal Hauslehrer bei den Kindern von Nechljudows Schwester gewesen und hatte jetzt eine Anstellung als Gymnasiallehrer. Nechljudow hatte ihn nie gemocht, weil er sich gar zu familiär benahm, immer sehr laut und selbstzufrieden lachte und überhaupt ein »kommuner« Kerl war, wie Nechljudows Schwester sich ausdrückte.

»Ah, auch Sie mußten 'ran!« begrüßte Peter Gerassimowitsch laut lachend Nechljudow. »Konnten Sie sich die Sache nicht vom Halse schaffen?«

»Ich dachte nicht daran, sie mir vom Halse zu schaffen,« sagte Nechljudow ernst und düster.

»Ei, das nenne ich Bürgertugend! Aber warten Sie nur, wenn Sie erst so recht ausgehungert sind und nicht zum Schlafen kommen, dann werden Sie ein anderes Lied singen!« sagte Peter Gerassimowitsch und begann noch lauter zu lachen.

»Dieser Pfaffensprößling wird mich gleich zu duzen anfangen,« dachte Nechljudow, und mit einer Trauermiene, als hätte er soeben die Kunde vom Tode seiner sämtlichen Verwandten vernommen, ließ er Peter Gerassimowitsch stehen, um sich einer Gruppe zu nähern, in der ein glattrasierter, hochgewachsener, repräsentabler Herr soeben irgend etwas sehr lebhaft erzählte. Er erzählte von einem Prozeß, der augenblicklich in der Zivilkammer verhandelt wurde: er schien mit der Sache sehr vertraut und nannte sogar die Richter und berühmten Advokaten, die damit befaßt waren, beim Vor- und Vatersnamen. Er sprach von der sensationellen Wendung, die einer dieser berühmten Advokaten der Prozeßverhandlung zu geben gewußt hätte – einer Wendung, infolge deren die eine Partei, eine alte Dame, der Gegenpartei eine große Geldsumme würde zahlen müssen, obschon sie, die alte Dame, durchaus im Rechte sei.

»Ein ganz genialer Advokat!« sagte er.

Man hörte ihn achtungsvoll an, und der eine oder andere versuchte, seinerseits etwas zu bemerken, doch er schnitt allen ohne weiteres das Wort ab, als könne nur er allein etwas über die Sache wissen.

Obschon Nechljudow recht spät gekommen war, mußte er doch noch eine ganze Weile warten. Die Verzögerung hatte darin ihren Grund, daß eins der Mitglieder des Gerichtshofes noch nicht zur Stelle war.


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