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37.

Als am folgenden Tage, einem Sonntag, um fünf Uhr morgens im Korridor der Frauenabteilung des Gefängnisses der übliche Pfiff ertönte, wurde die Maslowa von ihrer Nachbarin Korablewa, die nicht mehr schlief, geweckt.

»Zuchthäuslerin,« sagte sich die Maslowa voll Entsetzen, während sie sich die Augen rieb und die Zellenluft, die gegen Morgen ganz besonders übel roch, unwillkürlich tiefer einatmete. Sie wollte wieder einschlafen, wieder in das Reich des Unbewußten hinüberschweben, aber Gewöhnung und Furcht waren stärker als der Schlaf, und sie stand auf, zog die Beine an sich, richtete sich auf und sah sich um. Die Frauen waren bereits auf, nur die Kinder schliefen noch. Die Schankwirtin mit den vorspringenden Augen zog vorsichtig, um die Kinder nicht zu wecken, ihren Schlafrock unter ihnen hervor. Die Rekrutenbefreierin hängte am Ofen die Lumpen auf, die ihrem Säugling als Windeln dienten, während dieser auf den Armen der blauäugigen Fedoßja, die ihn vergeblich durch ein Liedchen zu beruhigen suchte, gar entsetzlich schrie. Die Schwindsüchtige hielt sich, ganz rot im Gesicht, die Arme gegen die Brust, hustete mühsam los und ächzte in den Zwischenpausen, daß es fast wie ein Schreien klang. Die Rothaarige, die eben erwacht war, lag mit gebogenen Knien auf dem Rücken und erzählte laut und lustig einen Traum, den sie gehabt. Die Alte, die wegen Brandstiftung angeklagt war, stand wieder vor dem Heiligenbilde, bekreuzte und verneigte sich und wiederholte immer von neuem dieselben Worte. Die Küsterstochter saß unbeweglich auf der Pritsche und starrte mit verschlafenem, stumpfem Blicke vor sich hin. Schönlieschen wickelte über dem Finger ihr fettiges, struppiges schwarzes Haar in Locken.

Auf dem Korridor ließ sich das Geräusch von schlurrenden Schritten vernehmen; der Schlüssel klirrte im Schloß, und zwei Arrestanten in Filzpantoffeln, in Jacken und kurzen, bei weitem nicht an die Knöchel reichenden grauen Hosen traten ein; mit grimmigen, ernsten Gesichtern nahmen sie den stinkenden Kübel auf und trugen ihn aus der Zelle fort. Die Frauen gingen nach dem Korridor, zu den Wasserhähnen, um sich zu waschen. Bei den Hähnen geriet die Rothaarige in einen Streit mit einer Insassin der Nachbarzelle. Wieder gab es Schimpfreden, Geschrei und Klagen.

»Ihr wollt wohl in den Karzer kommen?« schrie der Aufseher und gab der Rothaarigen einen Schlag auf den fetten nackten Rücken, daß es nur so durch den Korridor klatschte. »Daß ich dich nicht mehr mucken höre!«

»Seht doch, nun fängt der Alte auch schon an zu schäkern!« sagte die Rothaarige, die die ihr widerfahrene Behandlung für eine Liebkosung nahm.

»Nun, macht rasch! Schert euch in die Messe!«

Die Maslowa hatte noch nicht Zeit gehabt, sich zu kämmen, als der Inspektor mit seinem Gefolge eintrat.

»Zum Appell,« rief der Aufseher.

Aus einer zweiten Zelle kamen noch weitere Gefangene hinzu, und alle stellten sich nun in zwei Reihen den Korridor entlang auf, wobei die in den hinteren Reihen Stehenden die Hände auf die Schultern der Frauen der ersten Reihe legen mußten. Alle wurden gezählt.

Nach dem Appell kam die Aufseherin und führte die Arrestantinnen nach der Kirche. Die Maslowa befand sich mit Fedoßja inmitten der Kolonne, die aus mehr als hundert aus allen Zellen zusammengeströmten Frauen bestand. Alle waren in weißen Tüchern, Jacken und Röcken, und nur hier und da sah man unter ihnen Frauen, die ihre eigenen farbigen Kleider trugen. Das waren die Frauen, die mit ihren Kindern ihren Männern nach dem Verbannungsort folgten. Die ganze Treppe war besetzt von diesem Zuge. Man hörte verhaltenes Gespräch, und zuweilen ein Lachen, und das leise Geräusch, das die in Filzpantoffeln steckenden Füße hervorriefen. An der Treppenwendung erblickte die Maslowa das boshafte Gesicht ihrer Feindin, der Botschkowa, die vor ihr ging, und sie machte Fedoßja auf sie aufmerksam. Als sie unten angelangt waren, verstummten die Frauen, und sich bekreuzend und verneigend traten sie durch die offene Tür in die noch leere, goldblinkende Kirche. Ihr Platz war rechts, und sie traten, sich gegenseitig schiebend und drängend, hinüber. Nach den Frauen kamen, in grauen Gefängnisröcken, die zur Verschickung Verurteilten, dann die eigentlichen Sträflinge und die von Gemeindewegen Verschickten, und unter lautem Husten und Räuspern stellten sie sich in dichtem Haufen zur Linken und in der Mitte der Kirche auf. Oben, auf den Chören, standen die schon vorher Hereingeführten – auf der einen Seite die zu Zwangsarbeit Verurteilten mit halbrasierten Köpfen, die ihre Anwesenheit durch das Klirren ihrer Ketten kundgaben, und auf der anderen Seite die nicht rasierten und nicht gefesselten Untersuchungsgefangenen.

Die Gefängniskirche war auf Kosten eines reichen Kaufmanns neu erbaut und ausgeschmückt worden – etliche zehntausend Rubel hatte der fromme Spender es sich kosten lassen, und die Kirche schimmerte ganz in Gold und grellen Farben.

Eine Zeit lang herrschte in der Kirche Stille, man hörte nur das Räuspern und Schneuzen, das Schreien der Säuglinge und ab und zu das Klirren der Ketten. Doch nun begann unter den Arrestanten, die in der Mitte der Kirche standen, ein heftiges Schieben und Drängen, sie gaben den Weg in der Mitte frei, und der Inspektor schritt darauf hin, nach dem Altar zu, und nahm, allen andern voran, mitten in der Kirche Aufstellung.

Der Gottesdienst begann.


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