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30.

Als das Schloß klirrte und die Maslowa in die Zelle eingelassen wurde, wandten sich alle nach ihr um. Selbst die Küsterstochter blieb stehen und sah, die Augenbrauen emporziehend, auf die Eintretende, doch sagte sie kein Wort, sondern begann sogleich wieder mit ihren großen, festen Schritten auf und ab zu gehen. Die Korablewa steckte die Nadel in die grobe Leinwand und starrte fragend durch die Brille die Maslowa an.

»Ach du meine Güte, nun kommst du doch zurück! Und ich glaubte bestimmt, sie würden dich freisprechen!« sagte sie mit ihrer heiseren, fast männlichen Baßstimme. »Sie haben dich verknackt, wie?«

Sie nahm die Brille ab und legte ihre Näharbeit neben sich auf die Pritsche.

»Wir sprachen nämlich davon, mein Herzchen, ich und die Tante nämlich, daß sie dich wohl gleich freilassen würden,« begann sogleich die Bahnwärterin mit ihrer singenden Stimme. »Es kommt ja wohl vor, sagt man, und sogar Geld geben sie einem zu, wenn man 'ne glückliche Stunde trifft. Und nun ist's doch anders gekommen, unsere Ahnungen sind nicht eingetroffen! Der Herrgott macht's eben nach seinem Willen, wie es scheint, mein Herzchen,« fuhr sie ohne Unterbrechung in ihrer angenehm klingenden, freundlichen Rede fort.

»Bist du wirklich verurteilt?« fragte Fedoßja und sah dabei die Maslowa mit ihren hellblauen Kinderaugen voll zärtlichen Mitleids an. Ihr munteres, jugendliches Gesicht war mit einem Schlage ganz verändert, und sie schien dem Weinen nahe.

Die Maslowa antwortete nicht, sondern ging schweigend nach ihrem Platze, dem zweiten in der Reihe, neben der Korablewa. Dort ließ sie sich auf den Brettern der Pritsche nieder.

»Du hast am Ende noch gar nichts gegessen,« sagte Fedoßja, erhob sich und trat auf die Maslowa zu.

Die Maslowa legte, ohne ein Wort zu sagen, die Weizenbrötchen an das Kopfende und begann sich zu entkleiden – sie zog den staubigen Gefängnisrock aus, nahm das Tuch von dem krausen schwarzen Haar und setzte sich.

Auch die bucklige Alte, die am andern Ende der Pritschenreihe mit dem kleinen Knaben gespielt hatte, trat näher und blieb vor der Maslowa stehen.

»Tz, tz, tz!« machte sie mit der Zunge und schüttelte mitleidig den Kopf.

Der kleine Knabe war gleichfalls hinter der Alten hergekommen und starrte, den Mund spitzend, mit weitgeöffneten Augen auf die Weizenbrötchen, welche die Maslowa mitgebracht hatte. Als diese jetzt alle die mitleidvollen Gesichter sah, war sie nach alledem, was heute mit ihr geschehen, fast den Tränen nahe, und ihre Lippen begannen zu zucken. Sie hatte sich so lange zu beherrschen gewußt – bis die Alte mit dem Kleinen herankam. Als sie dieses gutmütige, mitleidvolle »Tz, tz!« vernahm, und als dann vor allem ihr Blick den ernsten, großen Augen des Kleinen begegnete, die sich von den Weizenbrötchen hinweg ihr zugewandt hatten, da konnte sie nicht länger an sich halten. Ihr ganzes Gesicht verzog sich, und sie brach in heftiges Weinen aus.

»Ich sagte es dir ja gleich: nimm dir einen richtigen Verteidiger!« meinte die Korablewa. »Was ist's denn nun geworden? Verschickung?« fragte sie.

Die Maslowa wollte antworten, vermochte es jedoch nicht, sondern zog schluchzend aus dem Weizenbrötchen die versteckte Zigarettenschachtel, auf der eine rotwangige Schöne mit sehr hoher Frisur und dreieckigem Kleiderausschnitt abgebildet war, und reichte die Schachtel der Korablewa. Die Korablewa besah sich das Bildchen, schüttelte mißbilligend den Kopf darüber, daß die Maslowa so unnütz ihr Geld vergeude, nahm eine Zigarette heraus, setzte sie an der Lampe in Brand, tat selbst einen Zug daraus und gab sie dann an die Maslowa. Die Maslowa begann, immer noch weinend, gierig Zug um Zug den Tabakrauch in sich einzuziehen und wieder auszustoßen.

»Zwangsarbeit,« sagte sie aufschluchzend.

»Daß sie den Herrgott nicht fürchten, diese Menschenschinder! Diese Blutsauger verfluchten!« sprach die Korablewa grimmig. »Ein schuldloses Mädchen zu verurteilen!«

In diesem Augenblick ließ sich in der Gruppe der am Fenster stehenden Frauen ein schallendes Gelächter vernehmen. Auch das kleine Mädchen lachte, und ihr feines Kinderlachen floß zusammen mit dem heiseren, kreischenden Lachen der Erwachsenen. Einer der Arrestanten im Hofe hatte irgend etwas getan, was dieses Lachen der aus dem Fenster blickenden Frauen hervorrief.

»Nein, dieser glattrasierte Köter! Was dem Burschen einfällt!« rief die Rothaarige laut, während ihr ganzer fetter Körper vor Lachen wackelte. Und das Gesicht gegen das Gitter pressend, rief sie sinnlose, zotige Worte zum Fenster hinaus.

»Seht doch – dieses alte Trommelfell! Wie sie wiehert!« sagte die Korablewa, mit dem Kopfe nach der Rothaarigen winkend, und wandte sich dann wieder zur Maslowa. »Wieviel Jahre?«

»Vier,« sagte die Maslowa, und die Tränen flossen so reichlich aus ihren Augen, daß eine davon auf die Zigarette fiel. Ärgerlich zerknüllte sie die Zigarette, warf sie fort und nahm eine zweite heraus.

Die Bahnwärterin griff, obgleich sie nicht rauchte, sogleich nach dem Stummel und bog ihn gerade, wobei sie wieder zu reden und zu reden begann.

»Es scheint wirklich zu stimmen, mein Herzchen,« sagte sie, »daß die Schweine die Wahrheit aufgefressen haben. Sie machen, was sie wollen. Wir glaubten doch ganz bestimmt, daß sie dich freilassen würden. Die Matwjejewna meinte: sie werden sie freilassen, ich aber sagte: nein, sagt' ich, mein Herzchen, ich hab' 'ne Ahnung, daß sie sie verschlucken; na, und so ist's auch gekommen,« sagte sie, offenbar mit ganz besonderem Vergnügen den Klang ihrer Stimme belauschend.

Um diese Zeit hatten bereits alle Arrestanten den Hof passiert. Die Frauen, die sich mit ihnen durch das Fenster unterhalten hatten, verließen dieses nun und kamen gleichfalls zur Maslowa heran. Zuerst trat die heimliche Branntweinhändlerin mit den vorquellenden großen Augen samt ihrem Mädchen an sie heran.

»Warum sie nur so streng waren?« begann sie, sich neben die Maslowa setzend und an ihrem Strumpfe fleißig weiterstrickend.

»Weil sie kein Geld hat, darum sind sie so streng mit ihr. Hätte sie Geld gehabt und sich einen geschickten Kerl genommen, dann wäre sie sicher freigesprochen worden,« sagte die Korablewa. »Da gibt's solch einen – mit struppigem Haar so, und langer Nase, der bringt dich trocken aus jedem Wasser heraus, meine Liebe! Wenn sie den so hätte nehmen können!«

»Ja, erst kriegen!« sagte Schönlieschen mit spöttischem Grinsen und setzte sich zu ihnen. »Der spuckt noch nicht mal für dich aus, wenn du ihm nicht wenigstens tausend Rubel gibst.«

»Es scheint dir schon mal so in den Sternen geschrieben,« bemerkte die Alte, die wegen Brandstiftung angeklagt war. »Jeder hat eben sein Päckchen: wenn ich so bedenke, wie jener dort meinem Jungen die Frau abspenstig gemacht und ihn ins Loch gebracht hat, und mich obendrein dazu auf die alten Tage!« begann sie zum hundertsten Mal ihre eigene Geschichte zu erzählen. »Gefängnis und Bettelsack – die darf man nie verschwören. Kriegt man nicht das eine, muß man zum andern greifen.«

»'s ist schwer, Kirschen zu essen mit den großen Herren,« sagte die Bäuerin, die wegen verbotenen Branntweinhandels saß, während sie zugleich einen Blick auf den Scheitel des Mädchens warf, rasch den Strumpf hinlegte, den Kopf des Mädchens in ihren Schoß nahm und mit behenden Fingern ihn abzusuchen begann. »›Warum handelst du mit Branntwein?‹ – ›Und womit soll ich meine Kinder ernähren?‹« sagte sie, ihre gewohnte Beschäftigung fortsetzend.

Diese Worte der Schankwirtin brachten der Maslowa den Branntwein in Erinnerung.

»Ich möcht' ein Gläschen trinken,« sagte sie zur Korablewa, sich mit dem Hemdärmel die Tränen abwischend und nur noch ab und zu aufschluchzend.

»Möchtest du? Warum nicht, gib her!« sagte die Korablewa.


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