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52.

Aus der hinteren Tür kam mit behenden Schritten die kurzgeschorene, magere, gelbe kleine Wjera Jefremowna mit den auffallend großen, gutmütigen Augen ins Zimmer.

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte sie und drückte Nechljudows Hand. »Erinnern Sie sich meiner noch? Wir wollen uns setzen.«

»Ich glaubte nicht, Sie hier wiederzufinden.«

»O, mir geht es ausgezeichnet – so gut, daß ich es mir gar nicht besser wünschen kann,« sagte Wjera Jefremowna, indem sie mit ihren stets erschrocken dreinschauenden großen, runden Augen auf Nechljudow sah und den beängstigend dünnen, gelben, sehnigen Hals, der aus dem zerknüllten, schmutzigen Kragen ihrer Jacke hervorsah, hin und her wandte.

Nechljudow fragte sie, wie sie ins Gefängnis gekommen sei. In lebhafter Rede gab sie ihm Antwort und erzählte sehr begeistert von ihrer Sache. Ihre Rede war ganz mit fremden, wissenschaftlichen Ausdrücken gespickt, sie sprach über Propaganda, Reorganisation, über Gruppen, Sektionen und Untersektionen, lauter Begriffen, die, wie sie ganz sicher anzunehmen schien, aller Welt geläufig waren, von denen aber Nechljudow niemals etwas gehört hatte.

Sie erzählte ihm das alles, – offenbar vollkommen überzeugt davon, daß die Kenntnis aller dieser Geheimnisse ihrer politischen Partei ihm höchst wertvoll erscheinen mußte. Nechljudow aber betrachtete ihren kläglich mageren Hals und ihr zerzaustes dünnes Haar und wunderte sich, warum sie sich eigentlich mit allen diesen Dingen befaßt hatte und davon erzählte. Sie tat ihm leid, jedoch durchaus nicht so, wie ihm etwa der Bauer Menjschow mit seinem ausgebleichten, an weiße Kartoffelauswüchse erinnernden Gesichte, der ohne jegliches Verschulden in dem übelriechenden Gefängnis saß, leid getan hatte. Sie tat ihm hauptsächlich wegen dieser heillosen Begriffsverwirrung leid, die in ihrem Kopfe zu herrschen schien. Sie hielt sich augenscheinlich für eine Heldin und brüstete sich vor ihm, und das gerade war es, was vor allem sein Mitleid mit ihr hervorrief.

Diesen prahlerischen Zug hatte Nechljudow nicht nur an ihr, sondern auch noch an einigen anderen Personen, die mit im Zimmer waren, bemerkt. Seine Anwesenheit hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und er fühlte, daß sie ihr Benehmen ein wenig daraufhin änderten, daß er da war. Diesen Zug konnte er sowohl an dem jungen Menschen in der Guttaperchajacke wie an der Frau im Arrestantenschlafrock, wie selbst an dem Liebespaar beobachten. Er vermißte ihn nur an dem schwindsüchtigen jungen Manne, dem Mädchen mit den schönen Augen und dem struppigen schwarzen Menschen mit den tiefliegenden Augen, der mit dem mageren, bartlosen, einem Skopzen ähnlichen Manne sprach.

Die Angelegenheit, von der Wjera Jefremowna mit Nechljudow sprechen wollte, betraf eine ihrer Genossinnen namens Schustowa, die übrigens nicht einmal zu ihrer Untergruppe gehörte. Sie war verhaftet und in die Peter-Pauls-Festung gebracht worden, einzig darum, weil man bei ihr Bücher und Schriftstücke gefunden hatte, die ihr zur Aufbewahrung übergeben worden waren. Wjera Jefremowna schrieb sich einen Teil der Schuld an der Einsperrung der Schustowa zu und bat Nechljudow, doch bei seinen guten Verbindungen alles dranzusetzen, damit sie freikäme.

Nechljudow sagte, er würde hier, am Ort, in dieser Beziehung kaum etwas tun können, doch wolle er sein Möglichstes versuchen, sobald er in Petersburg wäre.

Von ihrer eigenen Person erzählte Wjera Jefremowna nur so viel, daß sie nach Absolvierung der Hebammenkurse in die Partei des »Volkswillens« eingetreten sei und für diese gearbeitet habe. Anfangs sei alles gut gegangen, man habe Proklamationen verbreitet und in den Fabriken Propaganda getrieben, dann aber sei eine der Hauptpersonen festgenommen worden, man habe Papiere beschlagnahmt und nach und nach alle Mitglieder arretiert.

»Auch ich wurde festgenommen, und jetzt werde ich verschickt ...« beendete sie ihre Geschichte. »Doch das macht nichts aus. Ich fühle mich sehr wohl und sehe den Dingen mit olympischer Ruhe entgegen,« sagte sie, und ein rührendes Lächeln ging über ihre Züge.

Nechljudow fragte sie nach dem Mädchen mit den schönen Augen. Wjera Jefremowna antwortete ihm, es sei eine Generalstochter, die gleichfalls zur revolutionären Partei gehöre; sie sei verhaftet worden, weil sie die Schuld eines Genossen, der auf einen Gendarmen geschossen hatte, auf sich genommen habe. Sie sei zu Zwangsarbeit verurteilt und gehe nächstens nach Sibirien ab.

»Eine altruistische, edle Persönlichkeit ...« sagte Wjera Jefremowna voll Anerkennung.

Auch von der Sache der Maslowa begann Wjera Jefremowna zu sprechen. Es gab im Gefängnis keine Geheimnisse, und so wußte sie auch um die Beziehungen der Maslowa zu Nechljudow und kannte die Lebensgeschichte der ersteren. Sie riet Nechljudow, um ihre Überführung in die Abteilung der Politischen einzukommen, oder doch wenigstens um ihre Verwendung als Wärterin im Gefängnishospital, wo augenblicklich ganz besonders viele Patienten lägen und Pflegerinnen not täten. Nechljudow dankte ihr für den guten Rat und sagte, er werde ihn befolgen.


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