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33.

Als Nechljudow im Gerichtsgebäude ankam, traf er bereits im Korridor den Nuntius von gestern und erkundigte sich bei ihm, wo die abgeurteilten Gefangenen untergebracht seien, und wer die Erlaubnis, sie zu sehen, erteile. Der Nuntius erklärte, daß die Gefangenen an verschiedenen Orten inhaftiert seien, und daß, bevor das Urteil in Kraft trete, die Besuchserlaubnis vom Staatsanwalt erteilt werde.

»Ich werde Ihnen noch alles Nähere sagen und Sie nach der Sitzung hinführen. Der Staatsanwalt ist ohnedies noch nicht da. Nach der Sitzung also – jetzt wollen Sie gefälligst zur Verhandlung gehen, sie wird gleich beginnen!«

Nechljudow dankte dem Nuntius, der heute einen ganz besonders bedauernswerten Eindruck auf ihn machte, für seine Liebenswürdigkeit und begab sich in das Geschworenenzimmer.

Als er sich der Tür näherte, kamen die Geschworenen bereits heraus, um sich in den Sitzungssaal zu begeben.

Der Kaufmann war ebenso vergnügt wie gestern, hatte auch ebenso kräftig gefrühstückt und begrüßte Nechljudow als guten alten Freund. Und Peter Gerassimowitsch machte heute durch seine Vertraulichkeit und sein lautes Lachen auf Nechljudow durchaus nicht den peinlichen Eindruck, den dieser gestern empfunden.

Nechljudow hätte am liebsten auch allen Geschworenen über sein Verhältnis zu der gestrigen Angeklagten Mitteilung machen mögen. »Eigentlich hätte ich,« dachte er – »gestern während der Sitzung aufstehen und öffentlich meine Schuld bekennen sollen.« Als er jedoch mit den übrigen Geschworenen den Sitzungssaal betrat und dasselbe Schauspiel sich vor ihm entrollte: der Ruf: »Der Gerichtshof!«, die drei Männer mit den gestickten Kragen auf der Estrade, das allgemeine Schweigen, das Niedersetzen der Geschworenen auf die Sessel mit den hohen Lehnen, die Gendarmen, der Geistliche – da fühlte er, daß, wenn er es auch gewollt hätte, er auch gestern nicht vermocht hätte, diese Feierlichkeit zu unterbrechen.

Die Vorbereitungen zur Sitzung waren genau dieselben wie gestern, nur daß die Geschworenen nicht mehr vereidigt zu werden brauchten und die Ansprache des Vorsitzenden an sie sich erübrigte.

Auf der Tagesordnung stand heute ein Einbruchsdiebstahl. Der Angeklagte, der von zwei Gendarmen mit gezogenen Säbeln bewacht wurde, war ein magerer, schmalschultriger junger Mensch von zwanzig Jahren mit blutlosem, grauem Gesichte. Er saß in seinem Gefängniskittel allein auf der Anklagebank und schielte von der Seite nach den Eintretenden hin. Er war angeklagt, in Gemeinschaft mit einem Komplizen das Schloß an einem Schuppen erbrochen und ein paar alte Läufer im Werte von drei Rubeln siebenundsechzig Kopeken daraus entwendet zu haben. Aus der Anklageschrift ging hervor, daß der Polizist den Burschen in dem Augenblick angehalten hatte, als er mit seinem Komplizen, der die Läufer über der Schulter trug, die Straße entlang schritt. Beide räumten die Tat sogleich ein und wurden eingesperrt. Der Komplize, ein Schlosser von Beruf, starb im Gefängnis, und der junge Bursche kam nun allein vor die Geschworenen. Die alten Läufer lagen als Beweisstücke auf dem Nebentische.

Die Verhandlung wurde genau so geführt wie gestern, mit dem ganzen Apparat von Beweisen, Zeugen, Vereidigungen, Vernehmungen, Sachverständigenaussagen und Kreuzverhören.

Der Polizist, der als Hauptzeuge fungierte, gab auf die Fragen des Vorsitzenden, des Anklägers und des Verteidigers immer nur ganz matte, abgehackte Antworten: »Jawohl,« – »Das weiß ich nicht!« – »Jawohl! ...« Trotz seines soldatisch verdummten Wesens jedoch sah man ihm an, daß der junge Mensch ihm leid tat, und daß er nur ungern von seinem »Fang« erzählte.

Der zweite Zeuge, der geschädigte Eigentümer der Läufer und des Hauses, aus dem sie entwendet worden, ein altes Männchen von augenscheinlich galligem Temperament, erkannte, als man ihn fragte, ob er die Läufer als die seinigen reklamiere, die alten Fetzen offenbar nur widerwillig als sein Eigentum an; als dann gar der Staatsanwaltsgehilfe ihn auszuforschen begann, welchen Gebrauch er von den Läufern habe machen wollen, und ob er ihrer sehr nötig bedurft habe, wurde der Alte ganz wild und antwortete: »Zum Henker mit diesen dummen Läufern, ich brauche sie ganz und gar nicht! Hätte ich gewußt, daß ich so viel Scherereien damit haben würde, dann hätte ich, statt vors Gericht zu gehen, lieber noch einen oder zwei rote Scheine dazu gezahlt, um nur nicht immer wieder zum Verhör zu müssen. Allein an Droschken habe ich fünf Rubel verfahren. Und dazu bin ich krank, leide an einem Bruch und an Rheumatismus!«

So sagten die Zeugen aus; der Angeklagte selbst aber gab alles zu und erzählte, immer wieder ganz verstört, wie ein gefangenes Tierchen, um sich schauend, mit stockender Stimme den Hergang der Sache.

Alles lag klar auf der Hand, aber der Staatsanwaltsgehilfe stellte, die Schultern emporziehend, ebenso wie gestern allerhand verfängliche Fragen, die den durchtriebenen Verbrecher ins Bockshorn jagen sollten.

Er wies in seiner Rede nach, daß der Diebstahl in einem bewohnten Raume und mittels Einbruchs stattgefunden habe, und daß daher bei dem jungen Burschen das schwerste Strafmaß in Anwendung zu bringen sei.

Der gerichtlicherseits bestellte Verteidiger dagegen bewies, daß der Diebstahl keineswegs in einem bewohnten Raume ausgeführt worden sei, und daß, wenn auch das Verbrechen nicht geleugnet werden könne, der Verbrecher doch durchaus nicht so gesellschaftsgefährlich erscheine, wie der Staatsanwaltsgehilfe es ausgeführt habe.

Der Vorsitzende legte ebenso wie gestern seine ganze Unparteilichkeit und Gerechtigkeit an den Tag und setzte den Geschworenen sehr ausführlich auseinander, was sie selbst bereits wußten und wissen mußten. Ebenso wie gestern wurden Pausen gemacht, wurde geraucht, rief der Nuntius in den Saal hinein: »Der Gerichtshof!« – und ebenso standen die beiden Gendarmen mit blanker Waffe da und bemühten sich, nicht einzuschlafen.

Aus der Verhandlung ergab sich, daß der junge Mensch noch als Knabe von seinem Vater in eine Tabakfabrik geschickt worden war, wo er fünf Jahre lang gearbeitet hatte. In diesem Jahre war er infolge eines Streites zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitern entlassen worden und hatte, als Arbeitsloser in der Stadt umherziehend, alles bis auf den letzten Faden vertrunken. In der Schenke hatte er den Schlosser kennen gelernt, der ein Trinker und gleich ihm ohne Arbeit war, und zu zweien hatten sie dann in der Nacht, in trunkenem Zustande, den Einbruch verübt und das erste beste, was ihnen in die Hand fiel, mitgehen heißen. Sie wurden abgefaßt und legten ein offenes Geständnis ab. Dann wurden sie ins Gefängnis gesperrt, wo der Schlosser noch vor Eröffnung des Prozesses starb. Der junge Bursche aber stand nun vor Gericht, als ein höchst gefährliches Subjekt, vor dem die Gesellschaft geschützt werden mußte.

»Ein ebenso gefährliches Subjekt wie die Verbrecherin von gestern,« dachte Nechljudow, während er zuhörte, was da vor ihm verhandelt wurde. »Sie selbst, die da richten, sind gefährlich! Jene sollen gefährlich sein – und wir nicht? ... Ich, der Taugenichts, der Betrüger, der Wüstling, bin gefährlich, und alle die sind es, die genau wissen, wie ich bin, und mich nicht verachten, sondern im Gegenteil schätzen und ehren ...«

Es lag auf der Hand, daß der junge Mann durchaus kein schlimmer Bösewicht, sondern, wie jedermann sehen konnte, ein ganz gewöhnlicher Mensch war, und daß nur die Bedingungen, unter denen er gelebt, ihn zu dem gemacht hatten, was er war. Es war daher klar, daß, wenn es solche Menschen nicht geben sollte, man bemüht sein mußte, die Bedingungen zu beseitigen, die solche unglücklichen Wesen hervorbringen. »Es hätte sich nur jemand finden müssen,« dachte Nechljudow, als er das schmerzlich verzogene, eingeschüchterte Gesicht des Angeklagten sah, »der sich damals seiner angenommen hätte, als seine Eltern ihn aus Not vom Lande in die Stadt schickten, und der dieser Not abgeholfen hätte; oder auch damals noch, als er bereits in der Stadt war und nach zwölfstündigem Tagewerk in der Fabrik, von den älteren Kameraden verführt, in die Schenke ging – selbst dann hätte sich noch jemand finden sollen, der ihm gesagt hätte: ›Geh nicht hin, Wanja, das ist nicht recht!‹ Und er wäre nicht gegangen, hätte den rechten Weg nicht verlassen und keine Schlechtigkeit begangen.

»Doch nicht ein Mensch, der sich seiner angenommen hätte, fand sich in dieser ganzen Zeit, als er, einem schüchternen kleinen Tierchen gleich, in der Stadt seine Lehrjahre zubrachte und mit kurzgeschorenem Haar, damit er kein Ungeziefer verbreite, Botengänge für den Meister besorgte; alles vielmehr, was er, seit er in der Stadt lebte, von Meistern und Arbeitskollegen hörte, lief darauf hinaus, daß nur der ein »ganzer Kerl« ist, der betrügt, und trinkt, und flucht, und sich mit aller Welt herumprügelt, und dem Laster frönt. Während er, krank und verdorben durch die ungesunde Arbeit, die Trunksucht und das Laster, verdummt und verblödet, wie im Traume ziellos in der Nacht umherschweifte und aus reiner Dummheit sich in irgendeinen Schuppen schlich und einen dieser wertlosen Läufer stahl, haben wir nicht nur nichts getan, um die Ursachen, die diesen jungen Menschen in seine gegenwärtige Lage brachten, zu beseitigen, sondern wollen jetzt die Sache dadurch gut machen, daß wir den unglücklichen Jungen bestrafen.«

Entsetzlich!

Nechljudow hörte, als er sich in diesen Gedanken erging, nicht mehr, was da vor ihm verhandelt wurde. Ein Grauen erfaßte ihn bei alledem, was sich seinem Blick offenbarte. Er wunderte sich, wie es möglich war, daß er das alles nicht früher gesehen, und daß auch die andern es nicht gesehen hatten.


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