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28.

Die Maslowa kehrte erst um sechs Uhr abends in ihre Zelle zurück. Sie war müde, und die Füße schmerzten sie, nachdem sie auf dem harten Pflaster den ungewohnten Marsch von fünfzehn Werst zurückgelegt hatte. Auch der Hunger quälte sie, und das unerwartet harte Urteil lastete schwer auf ihrer Seele.

Als während der einen Verhandlungspause die Gerichtsdiener neben ihr einen Imbiß von Brot und hartgesottenen Eiern verzehrten, lief ihr der Speichel im Munde zusammen, und sie fühlte, daß sie hungrig war, doch hielt sie es für demütigend, um etwas zu bitten. Als dann noch drei weitere Stunden verflossen waren, hatte sich die Eßlust bei ihr verloren, und sie empfand nur eine Schwäche. In solchem Zustande hatte sie das von ihr nicht erwartete Urteil vernommen. Im ersten Augenblick glaubte sie sich verhört zu haben und traute ihren Ohren nicht, so wenig vermochte sie sich in die Rolle einer zu Zwangsarbeit Verurteilten hineinzudenken. Als sie dann aber die geschäftsmäßigen, ruhigen Gesichter der Richter und Geschworenen sah, die das Urteil als etwas ganz Natürliches hinzunehmen schienen, da war ihre Empörung zum Durchbruch gekommen, und sie hatte es laut in den Saal hineingerufen, daß sie unschuldig sei. Als sie weiter sah, daß auch ihr Schreien als etwas Natürliches hingenommen wurde, das man erwartet hatte, das aber an der Sache nichts ändern konnte, brach sie in Tränen aus und fühlte deutlich, daß ihr nichts weiter übrig blieb, als sich dieser grausamen Ungerechtigkeit, die man an ihr begangen, und die sie so verblüfft hatte, zu fügen. Verblüffend hatte es namentlich auf sie gewirkt, daß es Männer waren, die dieses grausame Urteil über sie gefällt hatten – junge, oder doch noch nicht alte Männer, die sonst immer so freundliche Blicke für sie hatten. Nur einer von ihnen, der Staatsanwaltsgehilfe, schien feindselig gegen sie gestimmt. Als sie, die Eröffnung der Verhandlung erwartend, im Arrestantenzimmer gesessen hatte, war ihr, wie auch später in den Pausen, aufgefallen, daß diese Männer unter irgendeinem Vorwand an der offenen Tür vorübergingen oder auch ins Zimmer traten, einzig, um sie zu sehen. Und nun hatten diese selben Männer sie plötzlich zu Zwangsarbeit verurteilt, obschon sie an dem Verbrechen, dessen man sie angeklagt hatte, völlig unschuldig war. Sie weinte zuerst, dann aber wurde sie still, saß in einem Zustande völliger Stumpfheit im Arrestantenzimmer und erwartete ihre Abführung. Sie hatte jetzt nur das eine Bedürfnis: eine Zigarette zu rauchen. In diesem Zustande trafen sie Kartinkin und die Botschkowa, die nach der Urteilsfällung in dasselbe Zimmer gebracht worden waren. Die Botschkowa begann sogleich über sie herzuziehen und nannte sie eine Zuchthäuslerin.

»Seht doch, herausschwindeln wollte sie sich – sie habe nichts genommen! Aber es ist ihr nicht gelungen, der gemeinen Dirne! Jetzt hat sie bekommen, was sie verdient hat! Wenn sie erst den Karren schieben muß, wird ihr die Putzsucht schon vergehen.«

Die Maslowa saß, die Hände in den Ärmeln des Arrestantenrocks, mit gesenktem Haupte da, blickte starr nach einem Fleck auf dem schmutzigen Fußboden und sagte nur: »Laßt mich doch in Ruhe, ich tue euch doch nichts! Warum laßt ihr mich nicht in Ruhe?« Dies wiederholte sie mehrmals, und dann schwieg sie ganz still. Erst als die Botschkowa und Kartinkin weggebracht wurden und einer der Wächter eintrat, um ihr eine für sie bestimmte Summe von drei Rubeln zu übergeben, wurde sie ein wenig lebhafter.

»Bist du die Maslowa?« fragte er barsch.

Als sie bejahte, gab er ihr das Geld und sagte: »Da, nimm es, eine Dame schickt es dir.«

»Was für eine Dame?«

»Nimm's nur, und rede nicht erst lange!«

Das Geld hatte die Kitajewa ihr geschickt. Als sie das Gerichtsgebäude verließ, hatte sie sich an den Nuntius mit der Frage gewandt, ob sie der Maslowa etwas Geld geben dürfe. Der Nuntius hatte ihr gesagt, sie dürfe es. Sie hatte dann ihren dreiknöpfigen schwedischen Handschuh von der feisten weißen Hand gezogen und aus den hinteren Falten ihres seidenen Kleides eine elegante Geldtasche entnommen. Von den darin enthaltenen Kupons, die sie von den in ihrem Hause verdienten Wertpapieren frisch abgeschnitten hatte, nahm sie einen im Werte von zwei Rubeln und fünfzig Kopeken heraus, legte noch zwei Zwanzigkopekenstücke und ein Zehnkopekenstück dazu und übergab das Geld dem Nuntius. Dieser rief einen Aufseher herbei und übergab ihm die Summe in Gegenwart der Spenderin.

»Geben Sie es nur, bitte, richtig ab,« sagte Karolina Albertowna zu dem Aufseher.

Der Aufseher fühlte sich durch ihr Mißtrauen gekränkt und hatte das der Maslowa durch seine Barschheit entgolten.

Die Maslowa freute sich über das Geld, weil sie sich dadurch das verschaffen konnte, wonach jetzt ihr ganzes Begehren ging.

»Nur Zigaretten wünsche ich mir jetzt, nur ein paar Züge möchte ich tun!« sagte sie sich, und alle ihre Gedanken waren auf diesen einen Gegenstand gerichtet. So heftig begehrte sie danach, daß sie beim Durchschreiten des Korridors begierig die nach Tabakqualm duftende Luft einsog, die aus der Tür eines Kabinetts herausströmte. Sie sollte jedoch noch eine ganze Weile warten, da der Sekretär, der sie entlassen hatte, über einem Disput, den er mit einem der Advokaten wegen eines Journalartikels begonnen, die Angeklagten ganz vergessen hatte.

Endlich gegen fünf Uhr wurde sie entlassen, und die beiden Eskortesoldaten, der Nischnijnowgoroder und der Tschuwasche, führten sie durch den hinteren Ausgang aus dem Gerichtsgebäude hinaus. Noch auf dem Flur des Gerichtsgebäudes hatte sie ihnen zwanzig Kopeken übergeben, mit der Bitte, zwei Weizenbrötchen und eine Schachtel Zigaretten dafür zu kaufen. Der Tschuwasche lachte, nahm das Geld und sagte: »Gut, kaufen wir.« Und wirklich kaufte er ihr die Zigaretten und die Brote und gab ihr den Rest ehrlich zurück. Unterwegs durfte sie nicht rauchen, so daß sie, als sie vor dem Gefängnis ankam, noch immer diesen ungestillten Appetit auf eine Zigarette hatte. In dem Augenblick, da sie an die Gefängnistür gebracht wurde, näherte sich dieser ein Zug von etwa hundert Arrestanten, die mit der Bahn hertransportiert worden waren. Im Durchgang traf sie mit ihnen zusammen.

Die Arrestanten – alte und junge, Russen und Nichtrussen, bärtige und glattrasierte, einige auch mit halbrasierten Köpfen – erfüllten das Vorzimmer mit dem Gerassel ihrer Fußfesseln, dem Geräusch ihrer Schritte, mit Staub und Lärm und scharfem Schweißgeruch. Als sie an der Maslowa vorübergingen, sahen sich alle nach ihr um, und etliche traten auf sie zu und faßten sie an.

»Ei, ist das ein Prachtmädel!« sagte der eine. – »Mein Kompliment, Tantchen!« sprach ein zweiter und blinzelte mit den Augen. Ein Schwarzer mit rasiertem blauem Nacken und einem Schnurrbart in dem sonst glattrasierten Gesicht sprang, mit seinen Fesseln klirrend und fast darüber stolpernd, auf sie zu und umarmte sie.

»Na, kennst du deinen Freund nicht mehr? Zier' dich doch nicht,« brüllte er, die Zähne fletschend und die Augen weit aufreißend, als sie ihn zurückstieß.

»Was treibst du da, Halunke?« schrie der Hilfsinspektor, der von hinten hinzutrat, ihn an.

Der Gefangene bückte sich und sprang rasch zur Seite, während der Hilfsinspektor auf die Maslowa losfuhr:

»Warum bist du hier?«

Die Maslowa wollte antworten, sie sei soeben vom Gericht hergebracht worden, aber sie war so müde, daß sie keine Worte fand.

»Vom Gericht hat man sie hergebracht, Euer Wohlgeboren,« sagte der ältere der beiden Eskortesoldaten, sich durch die vorüberschreitenden Arrestanten hindurchzwängend und die Hand an die Mütze legend.

»Dann übergib sie dem Oberaufseher. Was ist das für eine Unordnung?«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren.«

»Sokolow! Nimm sie in Empfang!« rief er dem Oberaufseher zu.

Der Oberaufseher kam heran und stieß die Maslowa grimmig gegen die Schulter, dann winkte er ihr mit dem Kopfe und führte sie nach dem Korridor der Frauenabteilung. Hier wurde sie am ganzen Körper betastet und durchsucht, und als nichts Verbotenes bei ihr gefunden wurde – die Zigarettenschachtel hatte sie in einem der Weizenbrötchen versteckt – hieß man sie in dieselbe Zelle eintreten, aus der sie am Morgen abgeführt worden war.


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