Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

27.

»Es ist schändlich und gemein, gemein und schändlich,« dachte inzwischen Nechljudow, der durch die ihm bekannten Straßen zu Fuß nach Hause zurückkehrte. Das peinliche Gefühl, das er nach dem Gespräch mit Missi gehabt hatte, wollte nicht von ihm weichen. Er sagte sich, daß er »formell« wohl ihr gegenüber im Recht war: er hatte ihr nichts gesagt, was ihn gebunden hätte, hatte ihr keinen Antrag gemacht. In Wirklichkeit jedoch hatte er, wie sein Gefühl ihm sagte, sich an sie gebunden und sich ihr versprochen, doch fühlte er es heute mit allen Fibern seines Wesens, daß er sie nicht heiraten könne. »Es ist schändlich und gemein, gemein und schändlich,« wiederholte er im stillen, nicht nur mit Bezug auf seine Beziehungen zu Missi, sondern überhaupt auf alles. »Alles ist gemein und schändlich,« wiederholte er sich, als er die Treppe seines Hauses hinaufstieg.

»Ich werde heute nicht zu Abend essen,« sagte er zu Kornej, der hinter ihm das Eßzimmer betrat, wo bereits das Gedeck und der Tee seiner warteten. »Sie können gehen.«

»Zu Befehl,« sagte Kornej, ging jedoch nicht und begann den Tisch abzuräumen. Nechljudow blickte auf Kornej und ärgerte sich über ihn. Er wollte, daß alle ihn in Ruhe lassen sollten, und es schien ihm, daß alle wie absichtlich, ihm zum Trotz, ihn belästigten. Als Kornej mit dem Gedeck hinausgegangen war, trat Nechljudow an den Samowar heran, um Tee hineinzuschütten, doch da vernahm er die Schritte Agrafena Petrownas und ging, um ihr nicht zu begegnen, rasch ins Empfangszimmer, dessen Tür er hinter sich verschloß.

In dem Zimmer, das er jetzt betreten hatte, war seine Mutter drei Monate vorher gestorben. Es war von zwei Lampen mit Reflektoren erhellt, von denen die eine vor dem Porträt seines Vaters, die andere vor dem seiner Mutter brannte. Er erinnerte sich des Verhältnisses, in dem er zuletzt zu seiner Mutter gestanden, und dieses Verhältnis erschien ihm jetzt unnatürlich und unfreundlich. Auch hier konnte er sagen: »schändlich und gemein«. Er erinnerte sich, daß er in der letzten Zeit ihrer Krankheit geradezu ihren Tod gewünscht hatte. Er hatte sich gesagt, daß er dabei lediglich ihre endliche Befreiung von dem schweren Leiden, das sie quälte, im Auge habe, in Wirklichkeit jedoch war es ihm darauf angekommen, daß er selbst von dem Anblick ihrer Leiden befreit würde.

Um eine angenehme Erinnerung an sie in sich hervorzurufen, blickte er auf ihr Porträt, das seinerzeit ein berühmter Künstler für fünftausend Rubel gemalt hatte. Sie war dort im schwarzen Samtkleide, mit entblößter Brust dargestellt. Der Künstler hatte offenbar diese Brust und die blendend schöne Schultern- und Nackenpartie mit ganz besonderer Sorgfalt gemalt. Das war nun schon vollends »schändlich und gemein«. Es lag etwas Widerliches, Profanierendes in dieser Darstellung einer Mutter als halbnackter Schönheit, um so widerlicher, da noch vor drei Monaten in demselben Raume dieselbe Frau als vertrocknete Mumie dagelegen und einen unerträglichen, durch nichts zu betäubenden Geruch im Zimmer wie im ganzen Hause verbreitet hatte. Es war ihm, als verspüre er auch jetzt noch diesen Geruch. Und er erinnerte sich, wie sie am Tage vor ihrem Tode seine kräftige weiße Hand in ihr schwarz gewordenes, knochiges Händchen nahm, ihm in die Augen blickte und sagte: »Verdamme mich nicht, Mitja, wenn ich nicht immer tat, was ich sollte« – und wie dann in ihre von schwerem Leid gebleichten Augen die Tränen traten. »Welche Gemeinheit!« sagte er sich nochmals, während er die halbnackte Frau mit den prächtigen marmornen Schultern und Armen und dem triumphierenden Lächeln betrachtete. Die entblößte Brust erinnerte ihn an ein anderes junges Weib, das er in den letzten Tagen gleichfalls entblößt gesehen. Es war Missi, die ihn unter dem Vorwande, sie wolle sich ihm in dem neuen Ballkleide zeigen, eines Abends zu sich geladen hatte. Mit Abscheu erinnerte er sich jetzt ihrer schönen Schultern und Arme. Dieser rohe, tierisch sinnliche Vater mit seiner Vergangenheit und seiner Grausamkeit, diese schöngeistige Mutter mit ihrem zweifelhaften Rufe – das alles war so widerwärtig, so schändlich und gemein, so gemein und schändlich.

»Nein, nein,« dachte er – »ich muß mich freimachen: frei von allen diesen falschen Beziehungen zu den Kortschagins und zu Maria Wassiljewna, frei von der Erbschaft und all dem übrigen ... Ja, frei aufatmen will ich! Ins Ausland will ich reisen, nach Rom, will mein Bild fertigmalen« ... Er erinnerte sich der Zweifel, die er selbst bezüglich seines Talents gehabt, »Nun, wie es auch damit steht – jedenfalls will ich aufatmen. Zuerst geht's nach Konstantinopel, dann nach Rom: nur nicht mehr Geschworener sein! Das heißt: die Sache mit dem Advokaten – die muß ich vorher noch ordnen ...«

Und plötzlich tauchte vor seiner Seele mit ungewöhnlicher Deutlichkeit das Bild der Arrestantin mit den schwarzen, schielenden Augen auf. Wie sie aufgeschluchzt hatte, als man die Angeklagten zum letztenmal das Wort nehmen ließ! Er zerdrückte hastig im Aschenbecher den Stummel der eben ausgerauchten Zigarette, zündete sich eine neue Zigarette an und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Und alle die Momente, die er mit ihr verbracht, begannen nacheinander an seiner Seele vorüberzuziehen. Er erinnerte sich an das letzte Zusammensein mit ihr, an die sinnliche Leidenschaft, die ihn damals übermannt, an die Enttäuschung, die er erlebt, als die Leidenschaft befriedigt war. Er erinnerte sich des weißen Kleides mit dem blauen Bande, erinnerte sich jener Frühmesse.

»Ich habe sie ja in jener Nacht geliebt, in guter, reiner Liebe! Und auch vorher schon, als ich damals zum ersten Male bei den Tanten weilte und meine Abhandlung schrieb, habe ich sie geliebt – ach, und wie sehr geliebt!« Und er erinnerte sich seiner selbst, wie er damals gewesen. Er glaubte einen Hauch jener Frische, Jugendlichkeit und Lebensfülle zu verspüren, und bittere Wehmut überkam ihn.

Welch ein Unterschied war zwischen dem Nechljudow von damals und dem von heute! So groß, wenn nicht größer als zwischen jener Katjuscha in der Kirche und der Prostituierten, die mit dem Kaufmann gezecht und heute früh vor Gericht gestanden hatte. Damals war er ein frischer, freier Mensch gewesen, vor dem sich unendliche Möglichkeiten eröffneten – jetzt fühlte er sich von allen Seiten in die Netze eines törichten, leeren, zwecklosen, nichtigen Lebens verstrickt, aus denen er keinen Ausgang sah, ja denen er sich teilweise nicht einmal zu entziehen suchte. Er erinnerte sich, wie stolz er früher auf seine gerade Gesinnung gewesen war, wie er sich einstmals zur Regel gemacht, stets die Wahrheit zu sagen und sie auch wirklich gesagt hatte, und wie er jetzt ganz in der Lüge versunken war, in der allerabscheulichsten Lüge, die alle rings um ihn für Wahrheit hielten. Und es gab keinen Ausweg aus dieser Lüge – er wenigstens sah noch keinen. Er versank immer tiefer in ihr, gewöhnte sich an sie, hätschelte sie.

Wie sollte er sein Verhältnis zu Maria Wassiljewna lösen, ohne sich schämen zu müssen, ihrem Manne und ihren Kindern in die Augen zu sehen? Wie sollte er seine Beziehungen zu Missi abbrechen, ohne zur Lüge seine Zuflucht zu nehmen? Wie war der Widerspruch zwischen seiner Auffassung von der Ungerechtigkeit des Privateigentums am Grund und Boden und der Übernahme seines mütterlichen Erbes aus der Welt zu schaffen? Wie sollte er seine Schuld Katjuscha gegenüber sühnen? Unmöglich konnte das so bleiben. »Ich darf das Weib, das ich liebgewonnen, nicht verlassen, darf mich nicht dabei beruhigen, daß ich dem Advokaten Geld bezahle und sie von der Zwangsarbeit freimache, die sie nicht verdient hat. Ich darf nicht daran denken, meine Schuld mit Geld gutzumachen, wie ich es damals getan, als ich ihr für ihre Liebe Geld bot.«

Und er erinnerte sich lebhaft jenes Moments, als er im Korridor sie einholte, ihr das Geld zusteckte und fortlief. »Ach, dieses Geld!« dachte er voll Abscheu und Ekel, ganz so wie damals. »Ach, ach, welche Gemeinheit!« murmelte er, ganz so wie damals, vor sich hin. »Nur ein Schurke, ein Lump konnte so handeln! Und ich, ich – bin dieser Lump, dieser Schurke!« fuhr er in lauter Rede fort. »Ja – bin ich denn wirklich« – er blieb plötzlich mitten im Zimmer stehen – »bin ich in der Tat solch ein Lump? Und was denn sonst?« gab er sich selbst zur Antwort. »Und ist's denn nur das allein?« fuhr er in seiner Selbstanklage fort. »Ist nicht auch dein Verhältnis zu Maria Wassiljewna und ihrem Manne eine Gemeinheit, eine Niederträchtigkeit? Und deine Auffassung vom Eigentum? Unter dem Vorwande, daß das Geld von deiner Mutter herstammt, trittst du den Besitz deines Vermögens an, das du für ungerecht hältst! Und dein ganzes hohles, abscheuliches Leben! Und die Krone von alledem – deine Behandlung Katjuschas! Schurke, Taugenichts! Mögen die Menschen von mir denken, was sie wollen: sie kann ich belügen, mich selbst aber kann ich nicht belügen.«

Und er begriff plötzlich, daß der Abscheu, den ihm in letzter Zeit, und zumal heute, die Menschen, der alte Fürst sowohl wie Sofia Wassiljewna, und Missi, und Kornej eingeflößt hatten, im Grunde genommen ein Abscheu vor sich selbst war. Und seltsamerweise lag in dieser Erkenntnis seiner eigenen Schlechtigkeit bei aller Bitterkeit doch auch etwas Freudiges und Beruhigendes.

Schon mehrmals im Leben hatte Nechljudow solch einen Prozeß durchgemacht, den er eine »Seelenreinigung« nannte. Er bezeichnete mit diesem Namen jenen Gemütszustand, in dem er plötzlich, zuweilen nach einem längeren Zeitraum, eine Verzögerung oder selbst einen Stillstand seines inneren Lebens beobachtete und dann all den Unrat, der sich in seiner Seele angesammelt hatte und jenen Zustand verursachte, aus seiner Seele entfernte.

Jedesmal nach einer solchen Erweckung legte Nechljudow für sich die Grundsätze fest, nach denen er fortan sich bei seinem Tun und Lassen richten wollte. Er schrieb dann ein Tagebuch und begann ein neues Leben, das er nie mehr zu ändern hoffte, »turning a new life« nannte er das. Aber jedesmal erlag er wieder den Lockungen der Welt und erlebte, ohne es selbst zu merken, einen neuen Fall, der oft noch tiefer war als der erste.

Auf diese Weise hatte er sich schon mehrmals gereinigt und erhoben: zum erstenmal hatte er das durchgemacht, als er damals den Sommer bei den Tanten zubrachte. Das war wohl die lebendigste, feierlichste Erweckung gewesen. Und sie hatte auch ziemlich lange nachgewirkt. Dann hatte er eine solche Erweckung durchgemacht, als er den Staatsdienst quittierte und in dem Wunsche, sein Leben für das Vaterland zu opfern, während des Krieges in die Armee eintrat. Damals jedoch erfolgte sehr rasch eine neue Anhäufung des Unrats in seiner Seele. Dann kam wieder eine Erweckung, als er seinen Abschied nahm und ins Ausland reiste, wo er sich mit der Malerei zu beschäftigen begann. Seit jener Zeit bis auf den heutigen Tag war eine lange Periode ohne »Reinigung« verflossen, und so war es kein Wunder, daß sich jetzt in seiner Seele ganz besonders viel Schmutz angesammelt hatte und ein jäher Zwiespalt zwischen dem, was sein Gewissen forderte, und dem Leben, das er führte, entstanden war. Und er erschrak, als er diesen Zwiespalt bemerkte.

Dieser Zwiespalt klaffte so tief, und die Verunreinigung war so groß, daß er im ersten Augenblick an der Möglichkeit einer Läuterung verzweifelte.

»Du hast es doch schon versucht, dich zu vervollkommnen und zu bessern, und es ist nichts dabei herausgekommen,« sprach in seiner Seele die Stimme des Versuchers – »was für einen Sinn hat es da, es nochmals zu versuchen? Nicht du allein bist so, sondern alle sind so. Das Leben selbst ist eben so,« sagte diese Stimme. Aber jenes freie geistige Wesen im Menschen, das allein wahr, allein mächtig, allein ewig ist, war in Nechljudow schon erwacht. Und er konnte nicht umhin, ihm zu glauben. So tief auch die Kluft sein mochte zwischen dem, was er war, und dem, was er sein wollte – dem in ihm erwachten geistigen Wesen war es wohl möglich, sie zu beseitigen.

»Ich will diese Lüge, die mich fesselt, zerreißen, koste es, was es wolle, ich will stets allen Menschen die Wahrheit sagen und stets das Rechte tun,« sagte er laut und entschlossen zu sich selbst. »Ich will Missi die Wahrheit sagen, daß ich ein lasterhafter Mensch bin, daß ich sie nicht heiraten kann und nur umsonst beunruhigt habe; ich will Maria Wassiljewna ... doch nein, der habe ich nichts zu sagen, wohl aber will ich es ihrem Manne sagen, daß ich ein Schurke bin und ihn betrog; mit meiner Erbschaft will ich so verfahren, wie es Recht und Wahrheit verlangt. Ich will ihr, der Katjuscha, sagen, daß ich ein Taugenichts bin, daß ich mich ihr gegenüber schuldig fühle, und ich werde alles tun, was ich nur vermag, um ihr Schicksal zu mildern. Ja, ich werde sie sehen und um Verzeihung bitten. Ja, um Verzeihung will ich sie bitten, so wie die Kinder darum bitten. Und ich werde sie heiraten, wenn es sein muß ...«

Er war stehen geblieben und faltete die Hände vor der Brust, wie er es getan, als er noch klein gewesen; und die Augen zum Himmel erhebend, sprach er:

»Hilf mir, Herr, lehre mich – komm und halte deinen Einzug in meinem Herzen und läutere mich von allem Sündenschmutz!«

Er betete, flehte zu Gott, ihm zu helfen, ihn zu heiligen – und inzwischen war das, um was er flehte, schon geschehen. Er, der Gott, der in ihm wohnte, war in seinem Bewußtsein erwacht. Er fühlte nicht nur die Freiheit, den Mut und die Lust zum Leben, sondern er fühlte auch die ganze Macht des Guten. Alles Beste, was nur der Mensch zu vollbringen vermag, fühlte er sich jetzt imstande zu vollbringen.

In seinen Augen waren Tränen, als er sich alles dies sagte: gute und schlechte Tränen – gute Tränen, weil es Tränen der Freude waren, des Frohlockens darüber, daß jenes geistige Wesen, das während all dieser Jahre in ihm geschlafen hatte, nunmehr erwacht war, und schlechte Tränen, weil es Tränen der Rührung über seine eigene Güte und Tugendhaftigkeit waren.

Es war ihm heiß geworden. Er trat an das Fenster, an dem die Winterflügel schon herausgenommen waren, und öffnete es. Das Fenster ging auf den Garten hinaus. Es war eine stille, frische Mondnacht; über das Straßenpflaster rasselten die Räder eines Wagens, dann war alles still. Gerade vor dem Fenster sah man den Schatten der Äste einer kahlen, schlanken Pappel, der mit allen Verzweigungen sich scharf und deutlich auf dem Sande des freien Platzes abzeichnete. Zur Linken sah man das Dach eines Schuppens, das im hellen Mondschein weiß erschien. Nach vorn schlangen sich die Äste der Bäume ineinander, hinter ihnen war der schwarze Schatten des Zaunes sichtbar. Nechljudow sah auf den vom Mond beschienenen Garten, das Dach und den Schatten der Pappel, und er lauschte und atmete die belebende frische Luft ein.

»Wie schön ist es doch, wie schön – o mein Gott, wie schön!« sprach er und dachte an das, was in seiner Seele war.


 << zurück weiter >>