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50.

Als Nechljudow durch den breiten Korridor zurückkehrte, war gerade die Zeit des Mittagessens, und die Zellen standen offen. Zwischen den mit den gelblichen Schlafröcken, kurzen, breiten Hosen und Filzpantoffeln bekleideten Gefangenen hinschreitend und von ihnen angestarrt, empfand Nechljudow ein seltsam gemischtes Gefühl – teils Mitleid mit den Menschen, die hier saßen, teils Grauen vor jenen, die sie hier festhielten, teils Beschämung darüber, daß er selbst das alles hier so ruhig betrachten konnte.

In einem der Korridore lief jemand, mit den Pantoffeln schlurrend, an ihm vorüber nach einer Zelle, und gleich darauf kam aus dieser Zelle eine Anzahl Menschen heraus, die Nechljudow in den Weg traten und sich tief vor ihm verneigten.

»Wollen Euer Wohlgeboren – ich weiß nicht, wie ich Sie nennen soll – doch Befehl erteilen, daß man unsere Sache irgendwie entscheide!« sagte einer von den Leuten.

»Ich bin kein Vorgesetzter, ich weiß von nichts,« entgegnete Nechljudow.

»Ganz gleich, sagen Sie es irgendwem, der Obrigkeit, oder sonst jemandem,« sprach eine entrüstete Stimme. »Wir sind ganz unschuldig und sitzen hier schon den zweiten Monat.«

»Wie denn? Weshalb?« fragte Nechljudow.

»Man hat uns ins Gefängnis gesperrt. Den zweiten Monat bereits sitzen wir hier und wissen nicht, warum.«

»Das stimmt, es ist ein Zufall,« sagte der Hilfsinspektor. »Die Leute wurden festgenommen, weil sie keinen Paß hatten, und man hätte sie nach ihrem heimatlichen Gouvernement abschieben sollen. Nun ist dort das Gefängnis abgebrannt, und die dortige Verwaltungsbehörde hat sich an uns gewandt, wir möchten keine Arrestanten hinschicken. Da haben wir die Arrestanten aus allen übrigen Gouvernements abgeschoben, um für diese hier Platz zu behalten.«

»Wie – einzig aus diesem Grunde?« fragte Nechljudow und blieb in der Tür stehen.

Die etwa vierzig Köpfe zählende Schar, alle in ihren Arrestantenröcken, umgab Nechljudow und den Hilfsinspektor. Mehrere Stimmen begannen auf einmal zu sprechen, doch der Beamte gebot ihnen Schweigen.

»Nur einer mag sprechen,« sagte er.

Ein hochgewachsener, stattlicher Bauer von etwa fünfzig Jahren trat vor und erklärte Nechljudow, sie seien alle aus der Stadt verwiesen und hier ins Gefängnis gesperrt worden, weil sie keine Pässe gehabt hätten. Zwar hätten sie Pässe gehabt, doch seien diese seit zwei Wochen abgelaufen gewesen. Jedes Jahr seien die Pässe so abgelaufen, ohne daß man sie zur Verantwortung gezogen hätte, diesmal jedoch habe man sie verhaftet und halte sie nun hier wie Verbrecher fest.

»Wir sind alle Maurer und gehören zu demselben Verbande. Es heißt, in unserem Gouvernement sei das Gefängnis abgebrannt – aber dafür können wir doch nicht! Nehmen Sie sich unser an, um Gottes willen.«

Nechljudow hörte zu und verstand kaum, was der stattliche alte Mann zu ihm sagte: seine ganze Aufmerksamkeit war durch eine große, dunkelgraue, vielfüßige Laus in Anspruch genommen, die auf der Backe des Maurers zwischen den Haaren hinlief.

»Wie ist das – sitzen die Leute wirklich nur deshalb?« sagte Nechljudow, zum Inspektor gewandt,

»Ja, man sollte sie einfach entlassen und nach ihrem Heimatort befördern,« sagte der Hilfsinspektor.

Eben hatte er geendet, als aus dem Haufen ein kleines Männchen, gleichfalls im Schlafrock, vortrat und unter seltsamer Verzerrung des Mundes zu erzählen begann, daß man sie hier ganz ohne Grund peinige.

»Schlimmer als die Hunde ...« begann er.

»Na, na, sag' nicht zu viel! Schweig lieber, du weißt doch!«

»Was weiß ich?« versetzte das kleine Männchen ganz verzweifelt. »Haben wir denn etwas verschuldet?«

»Das Maul gehalten!« schrie der Beamte ihn an, und der Kleine schwieg still.

»Was hat das zu bedeuten?« sprach Nechljudow zu sich selbst, während er zwischen den beiden Zeilenreihen, aus denen wohl hundert Augen auf ihn gerichtet waren, gleichsam Spießruten laufend, hindurchschritt.

»Hält man hier in der Tat so ohne weiteres unschuldige Leute fest?« fragte Nechljudow, als sie den Korridor verlassen hatten.

»Was soll man mit ihnen anfangen? Sie lügen freilich einen ganzen Haufen zusammen. Wenn man sie so hört, sind sie alle unschuldig,« sagte der Hilfsinspektor.

»Nun, diese hier sind doch sicher unschuldig.«

»Diese hier – ja, vielleicht. Aber im allgemeinen ist's eine ganz verwilderte Gesellschaft, ohne Strenge ist da nicht durchzukommen. Es gibt ganz verzweifelte Burschen darunter, denen man lieber den Finger nicht in den Mund steckt. Gestern zum Beispiel mußten wir zwei bestrafen.«

»Wie – bestrafen?« fragte Nechljudow.

»Mit Ruten, ganz nach Vorschrift ...«

»Aber die Prügelstrafe ist doch abgeschafft!«

»Nicht für diejenigen, denen die bürgerlichen Rechte aberkannt sind. Die unterliegen der Prügelstrafe.«

Nechljudow erinnerte sich alles dessen, was er gestern gesehen, als er im Flur wartete, und begriff nun, daß die Exekution gerade um die Zeit vor sich ging, als er dort wartete; und mit ganz besonderer Stärke überkam ihn jenes seltsame, aus Neugier, Gram, Zweifel und sittlichem, fast in physischen Ekel übergehendem Abscheu gemischte Gefühl, wie er es hier auch früher schon, niemals jedoch in solcher Stärke, empfunden hatte.

Ohne auf den Hilfsinspektor zu hören oder sich weiter umzusehen, verließ er rasch den Korridor und begab sich nach dem Bureau. Der Oberinspektor war gerade anwesend, er hatte jedoch, da er anderweitig beschäftigt war, ganz vergessen, die Bogoduchowskaja holen zu lassen. Erst als Nechljudow das Bureau betrat, erinnerte er sich an sein Versprechen.

»Ich lasse sie sofort holen, setzen Sie sich so lange,« sagte er.


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