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Matth. 18, 21-22. Da trat Petrus zu Ihm und sprach: Herr, wie oft muß Ich dann meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist es genug, siebenmal? Jesus sprach zu Ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.

Matth. 1, 3. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?

Joh. 8,7. ... Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

Luc. 6, 40. Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.

 

 

1.

Zu etlichen Hunderttausenden hatten sich die Menschen auf einem einzigen kleinen Fleck angesammelt, und wie sehr sie sich auch Mühe gaben, die Erde, auf der sie sich preßten und drängten, zu verunstalten, sie mit Steinen zu verrammeln, damit nichts darauf wüchse, jedes Gräschen, das sich ans Licht wagte, sogleich auszujäten, die Luft mit Steinkohlen- und Naphthadünsten zu vergiften, die Bäume zu beschneiden und alle Tiere, alle Vögel zu verjagen – der Frühling war doch Frühling geblieben, sogar in der Stadt. Die Sonne wärmte, das neubelebte Gras wuchs und grünte überall, wo es nur irgend nicht ausgerissen war, nicht allein auf den Rasenplätzen der Boulevards, sondern auch zwischen den Steinplatten, und die Birken, die Pappeln, die Traubenkirschen entfalteten ihre harzigen, duftenden Blätter, die Linden trieben ihre platzenden Knospen; die Dohlen, Spatzen und Tauben machten schon in froher Lenzstimmung ihre Nester zurecht, und die Fliegen summten im warmen Sonnenschein an den Wänden. Froh waren sie alle, die Pflanzen, die Vögel, die Insekten und die Kinder. Die Menschen aber – die großen, erwachsenen Menschen – hörten nicht auf, einander zu betrügen und zu quälen. Die Menschen waren der Meinung, heilig und wichtig sei nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese Schönheit der Gotteswelt, die zur Beseligung aller Wesen gegeben ist und alle Herzen zum Frieden, zur Eintracht, zur Liebe stimmt – heilig und wichtig sei vielmehr das, was sie selbst sich ausgedacht haben, um über einander zu herrschen.

So wurde auch im Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für heilig und wichtig gehalten, daß alle Tiere und Menschen der Lust und Seligkeit des Frühlings teilhaftig geworden, sondern für heilig und wichtig wurde gehalten, daß am Abend vorher ein mit Nummer, Siegel und Vordruck versehenes Schriftstück eingegangen war, des Inhalts, daß am heutigen 28. April um 9 Uhr morgens drei im Gefängnis inhaftierte Untersuchungsgefangene, zwei Frauen und ein Mann, nach dem Bezirksgericht abgeführt werden sollten. Eine dieser Frauen sollte, als die am schwersten belastete von den drei Personen, gesondert vorgeführt werden. Und auf Grund dieser Bestimmung trat am 28. April um 8 Uhr morgens der Oberaufseher in den übelriechenden, dunklen Korridor der weiblichen Abteilung des Gefängnisses. Gleich nach ihm betrat eine Frauensperson mit vergrämtem Gesichte und krausem, grauem Haar, in einer Jacke mit betreßten Ärmeln und blau eingefaßtem Gürtel, den Korridor. Es war die Aufseherin.

»Sie wollen die Masiowa haben?« fragte sie, während sie mit dem diensthabenden Aufseher zu einer der Zellentüren ging, die auf den Korridor mündeten.

Der Aufseher öffnete, mit dem Schlüsselbund rasselnd, das Schloß, riß die Zellentür auf, aus der eine noch übler riechende Luft, als die im Korridor war, hervorströmte, und schrie:

»Maslowa, aufs Gericht!« Dann machte er die Tür wieder zu und wartete.

Selbst auf dem Gefängnishofe spürte man die frische, belebende Luft der Felder, die der Wind in die Stadt geweht hatte. Im Korridor dagegen herrschte eine beklemmende, von Teer- und Fäulnisgeruch gesättigte Luft, die jeden, der von draußen eintrat, sogleich in eine niedergeschlagene, trübe Stimmung versetzte. Auch die vom Hofe kommende Aufseherin mußte, obgleich sie an die schlechte Luft gewöhnt war, diese Erfahrung machen. Kaum hatte sie den Korridor betreten, als sie auch schon eine Müdigkeit verspürte und schläfrig wurde.

Aus der Zelle vernahm man ein hastiges Getriebe, weibliche Stimmen und die Schritte nackter Füße.

»Immer munter, Maslowa, rühr' dich, sag' ich dir!« schrie der Oberaufseher zur Zellentür hinein.

Zwei Minuten später trat aus der Tür mit lebhaftem Schritt eine junge Frauensperson von nicht großer Statur, mit sehr vollem Busen, im grauen Gefängnisschlafrock über der weißen Jacke und dem weißen Rock. Sie wandte sich rasch um und trat neben den Aufseher. An den Beinen trug sie Leinwandstrümpfe und über den Strümpfen Filzpantoffel; der Kopf war mit einem dreieckigen weißen Halstuch bedeckt, unter dem, offenbar mit Absicht, ein paar Locken des krausen schwarzen Haars vorgeschoben waren. Das ganze Gesicht der Person hatte einen auffallend weißen Teint, wie er Leuten eigen zu sein pflegt, die lange Zeit in verschlossenem Raume zugebracht haben; es ist dies ein Weiß, das an die Keime im Keller lagernder Kartoffeln erinnert. Die gleiche Farbe wiesen auch die kleinen, breiten Hände und der volle, weiße Hals auf, der aus dem großen Kragen des Schlafrocks hervorschaute. In diesem Gesichte überraschten, zumal im Gegensatz zu seiner matten Blässe, die tiefschwarzen, glänzenden, etwas geschwollenen, doch sehr lebhaften Augen, von denen eins ein wenig schielte. Sie hielt sich sehr gerade und drückte die volle Brust stark heraus. Als sie auf den Korridor hinausgetreten war, sah sie, den Kopf ein wenig zurückwerfend, dem Aufseher gerade in die Augen und blieb stehen, bereit, alles zu tun, was er von ihr verlangen würde. Schon wollte der Aufseher die Zellentür zuschließen, als das bleiche, ernste, runzelige Gesicht einer barhäuptigen, grauhaarigen Alten in der Öffnung erschien. Die Alte sprach irgend etwas zu der Maslowa. Aber der Aufseher drückte die Tür gegen den Kopf der Alten, und der Kopf verschwand. In der Zelle ließ sich das laute Lachen einer weiblichen Stimme vernehmen. Auch die Maslowa lächelte und drehte sich nach dem vergitterten kleinen Guckloch in der Tür um. Von der andern Seite drängte sich die Alte an das Fenster und sprach mit heiserer Stimme:

»Vor allem sag' nichts Überflüssiges, bleib bei dem, was du einmal gesagt hast, verstanden?«

»Wenn's nur rasch ein Ende nähme, schlimmer kann's nicht mehr kommen,« sagte die Maslowa.

»Zwei Enden kann's nicht nehmen, das kannst du dir doch denken,« sagte der Oberaufseher in überlegenem Amtstone, höchlich überzeugt von der Scharfsinnigkeit seiner Bemerkung. »Nun komm mit, marsch!«

Das Auge der Alten verschwand von dem Guckloch, und die Maslowa trat in die Mitte des Korridors und folgte mit raschen, kleinen Schritten dem Oberaufseher. Sie stiegen die steinerne Treppe hinunter und gingen an den Männerzellen vorüber, von denen ein noch üblerer Geruch und noch lauterer Lärm als von den Frauenzellen ausging. Aus allen Gucklöchern folgten ihnen die Blicke der Insassen. Endlich kamen sie in das Bureau, wo bereits zwei Eskortesoldaten mit Gewehren standen. Der hier sitzende Schreiber übergab einem der Soldaten ein stark nach Tabak duftendes Schriftstück und sagte, indem er auf die Gefangene zeigte: »Nimm sie in Empfang!«

Der Soldat, ein Bauer aus der Gegend von Nischnij-Nowgorod, mit rotem, von Pockennarben entstelltem Gesichte, steckte das Schriftstück hinter den Ärmelaufschlag seines Mantels und blinzelte lächelnd, mit einem Kopfnicken nach der Gefangenen, seinem Kameraden zu, dessen starke Backenknochen den geborenen Tschuwaschen Ein finnisch-türkischer Volksstamm. verrieten. Die Soldaten stiegen mit der Gefangenen die Treppe hinunter und begaben sich zum Hauptausgang.

In der Tür des Hauptausganges öffnete sich ein Pförtchen. Die Soldaten überschritten die Schwelle des Pförtchens, traten mit der Gefangenen in den Hof hinaus, verließen den ummauerten Hof und marschierten dann, immer mitten auf dem gepflasterten Straßendamm gehend, quer durch die Stadt.

Droschkenkutscher, Krämer, Köchinnen, Arbeiter, Beamte blieben stehen und blickten voll Neugier auf die Gefangene; einige schüttelten den Kopf und dachten: »Da sieht man, wohin ein schlechter Lebenswandel führt – uns kann man, Gott sei Dank, einen solchen nicht vorwerfen!« Die Kinder sahen voll Entsetzen auf die Verbrecherin, und nur der Umstand, daß die Soldaten hinter ihr hermarschierten und sie daran hinderten, noch mehr Böses zu tun, beruhigte sie einigermaßen. Ein Bäuerlein vom Dorfe, das Holzkohlen verkauft und im Wirtshause Tee getrunken hatte, trat auf sie zu, bekreuzte sich und reichte ihr eine Kopeke. Die Gefangene errötete, senkte den Kopf und sagte irgend etwas.

Sie fühlte die auf sie gerichteten Blicke sehr wohl und warf ihrerseits, ohne den Kopf zu wenden, unbemerkt Seitenblicke nach jenen, die sie ansahen. Die Aufmerksamkeit, die man ihr schenkte, freute sie. Es freute sie auch, die im Verhältnis zur Gefängnisluft so reine Frühlingsluft der Straßen zu atmen, dagegen fiel es ihr schwer, mit den des Gehens entwöhnten, in den plumpen Gefängnispantoffeln steckenden Füßen auf die Steine zu treten, und sie sah auf den Weg unter ihren Füßen und bemühte sich, so leicht wie möglich aufzutreten. Als die Gefangene an einer Mehlhandlung vorüberkam, vor der sorglos und unbehelligt mit leichtschaukelndem Gange eine Taubenschar sich tummelte, wäre sie beinahe auf einen blauen Täuberich getreten – rasch mit den Flügeln schlagend, flatterte er in die Höhe und flog dicht am Ohre der Gefangenen vorüber, daß sie den von ihm verursachten Windhauch deutlich spürte. Sie lächelte, und als sie dann ihrer Lage gedachte, entrang sich ihr ein tiefer Seufzer.


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