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6.

Der Vorsitzende des Gerichtshofes war frühzeitig erschienen. Der Vorsitzende war ein hochgewachsener, beleibter Mann mit einem starken, bereits ergrauenden Backenbart. Er war verheiratet, führte jedoch ebenso wie seine Frau ein recht lockeres Leben. Sie legten einander nichts in den Weg. Er hatte heute morgen von einer Gouvernante, einer Schweizerin, die im Sommer in seinem Hause gelebt hatte und jetzt auf der Durchfahrt vom Süden nach Petersburg in der Stadt angekommen war, ein Briefchen erhalten, daß sie ihn zwischen drei und sechs Uhr im »Hotel Italia« erwarte. Es lag ihm daher daran, die heutige Sitzung recht früh beginnen und enden zu lassen, damit er noch vor sechs Uhr seine rothaarige Klara Wassiljewna, mit der er während des letzten Sommers in seiner Villa einen Roman angeknüpft hatte, im Hotel anträfe.

Sobald er sein Kabinett betreten hatte, verriegelte er die Tür, holte aus dem untersten Fache des Aktenregals ein Paar Hanteln hervor und führte damit etwa zwanzig Bewegungen nach oben, nach vorn, nach der Seite und nach unten aus, worauf er, die Hanteln hoch über dem Kopfe haltend, dreimal die Kniebeuge machte.

»Nichts erhält einen doch so gesund, wie das Abbrausen und Turnen,« dachte er, mit der linken Hand, deren Goldfinger einen kostbaren Ring trug, den Muskel des rechten Oberarmes betastend. Er hatte nur noch die »Mühle« zu machen – eine Übung, die er vor dem langen Sitzen in einer Verhandlung nie verabsäumte – als plötzlich an der Tür gerüttelt wurde. Irgend jemand wollte sie öffnen. Der Vorsitzende legte rasch die Hanteln an ihren Platz zurück und öffnete die Tür.

»Verzeihen Sie,« sagte er.

Ins Zimmer trat eins der Mitglieder des Gerichtshofes, ein Herr in goldener Brille, von kleinem Wuchse, mit hohen Schultern und finsterem Gesichte.

»Matwjej Nikititsch ist wieder einmal nicht da,« sagte der Eintretende unzufrieden.

»Nein, leider nicht,« entgegnete der Vorsitzende, während er sein Amtsgewand anlegte. »Er muß immer zu spät kommen.«

»Merkwürdig – daß er sich daraus kein Gewissen macht!« sagte der Richter mit dem finsteren Gesichte, setzte sich unwillig hin und holte seine Zigaretten hervor.

Dieser Richter war ein sehr pünktlicher Mann. Er hatte am Morgen ein unangenehmes Rencontre mit seiner Frau gehabt, die ihr Monatsgeld vorzeitig ausgegeben hatte. Sie hatte ihn um einen Vorschuß gebeten, er hatte ihr jedoch erklärt, daß er das prinzipiell ablehne, und so hatte es eine Szene gegeben. Die Frau sagte, daß sie unter diesen Umständen auch kein Mittagessen kochen könne, er möge sich nur danach einrichten. Damit waren sie voneinander geschieden, und er fürchtete nun, daß sie ihre Drohung wahr machen könnte, denn er mußte bei ihr auf alles gefaßt sein.

»Das hat man nun von seinem moralischen Lebenswandel,« dachte er, während er den übers ganze Gesicht strahlenden gesunden, heiteren, gutmütigen Vorsitzenden ansah, der, die Ellbogen breit auf den Tisch stützend, sich mit den wohlgepflegten weißen Händen durch den dichten, langen Backenbart fuhr, der ihm links und rechts über den gestickten Uniformkragen fiel. »Der ist immer munter und guter Dinge, und ich habe ewig meinen Ärger!«

Der Sekretär trat mit einem Aktenbündel ins Zimmer.

»Ich danke Ihnen bestens,« sagte der Vorsitzende und rauchte sich eine Zigarette an. »Welche Sache wollen wir zuerst nehmen?«

»Ich denke, den Giftmord,« sagte der Sekretär in gleichgültigem Tone.

»Meinetwegen, nehmen wir den Giftmord,« sagte der Vorsitzende, in der Annahme, daß dieser Prozeß bis vier Uhr beendet sein würde, so daß er dann gleich wegfahren konnte.

»Ist denn Matwjej Nikititsch noch nicht da?«

»Nein, noch immer nicht.«

»Ist Brewe schon da?«

»Ja,« antwortete der Sekretär.

»Dann sagen Sie ihm doch, wenn Sie ihn sehen, daß wir mit dem Giftmordprozeß anfangen.«

Brewe war der Staatsanwaltsgehilfe, der in dieser Sitzung die Anklage zu vertreten hatte.

Als der Sekretär in den Korridor hinaustrat, stieß er gerade auf Brewe: mit hoch emporgezogenen Schultern ging dieser in aufgeknöpfter Uniform, das Portefeuille unterm Arm, fast im Laufschritt, laut mit den Absätzen polternd und den freien Arm wie einen Perpendikel hin und her schwingend, im Korridor daher.

»Michail Petrowitsch läßt ergebenst anfragen, ob Sie bereit sind,« wandte sich der Sekretär an ihn.

»Gewiß, ich bin immer bereit,« sagte der Staatsanwaltsgehilfe. »Welche Sache kommt zuerst dran?«

»Der Giftmordprozeß.«

»Ausgezeichnet!« sagte der Staatsanwaltsgehilfe, doch fand er diese Wahl durchaus nicht so besonders ausgezeichnet: er hatte nämlich eine schlaflose Nacht hinter sich. Er hatte an einem Abschiedssouper teilgenommen, das einem Kollegen gegeben worden war; bis gegen zwei Uhr war fleißig getrunken und gespielt worden, dann war die ganze Gesellschaft nach einem öffentlichen Hause gefahren – demselben, in dem noch vor sechs Monaten die Maslowa gelebt hatte. Er hatte also keine Zeit mehr gehabt, die Akten der Giftmordsache zu studieren, und wollte sie jetzt rasch durchsehen. Der Sekretär, der es wußte, daß Brewe die Akten des Giftmordprozesses noch nicht kannte, hatte absichtlich, um ihm einen Possen zu spielen, dem Vorsitzenden geraten, diesen Fall zuerst vorzunehmen. Der Sekretär war ein Mann von liberaler, ja sogar radikaler Gesinnung, während Brewe konservativ war und, wie fast alle in Rußland im Staatsdienst angestellten Deutschen, sich streng zur orthodoxen Kirche hielt; der Sekretär liebte ihn nicht und neidete ihm seine Stellung.

»Nun – und wie steht es mit dem Prozeß gegen die Skopzen?« fragte der Sekretär.

»Ich sagte schon, daß ich diese Sache ablehne,« sagte der Staatsanwaltsgehilfe. »›Wegen Mangels an Zeugen‹, wird meine Erklärung an den Gerichtshof lauten.«

»Aber das ist doch ganz gleich ...«

»Es geht wirklich nicht,« sagte der Staatsanwaltsgehilfe und eilte rasch nach seinem Kabinett.

Er nahm den Prozeß der Skopzen Eine russische Sekte. offiziell darum nicht auf, weil ein ganz unwichtiger, für die Entscheidung der Sache nicht in Betracht kommender Zeuge nicht aufzufinden war – in Wirklichkeit jedoch wollte er die Sache nicht vor ein aus intelligenten Leuten zusammengesetztes Geschworenengericht bringen, das leicht einen Freispruch fällen konnte. Laut Verabredung mit dem Vorsitzenden sollte die Verhandlung dieser Sache auf eine Session in einer Kreisstadt verschoben werden, wo mehr Bauern als Geschworene fungieren und darum auch mehr Chancen einer Verurteilung gegeben sein würden.

Immer lebhafter wurde das Treiben im Korridor. Am dichtesten drängten sich die Leute vor dem Saale der Zivilabteilung, in dem der Prozeß verhandelt wurde, von dem vorhin der wohlunterrichtete respektable Herr den übrigen Geschworenen erzählt hatte. In der Pause kam aus diesem Saale jene alte Dame heraus, die der geniale Advokat um ihr Vermögen gebracht hatte, um es seinem Klienten zuzuschanzen, einem geriebenen Geschäftsmann, der darauf nicht das geringste Recht besaß. Natürlich wußten sowohl die Richter als auch der Gegner der Dame und sein Advokat, wie die Sache in Wirklichkeit lag, aber die Angelegenheit hatte eben eine solche »Wendung« genommen, daß sie unbedingt der Alten ihr Vermögen absprechen und es dem Geschäftsmann zuerkennen mußten. Die alte Dame, eine dicke Person im Staatskleide, mit ungeheuren Blumen auf dem Hute, trat aus der Saaltür heraus, blieb im Korridor stehen und sagte, die feisten kurzen Arme wie Flügel bewegend, immer wieder zu ihrem Advokaten: »Was soll nun werden? Erbarmen Sie sich! Was soll ich nun anfangen?« Der Advokat betrachtete die Blumen auf ihrem Hute, hörte gar nicht auf ihre Worte und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Gleich nach dem alten Frauchen trat aus der Saaltür der Zivilabteilung, übers ganze Gesicht strahlend, raschen Schrittes jener berühmte Advokat, der es bewirkt hatte, daß die Alte mit dem Blumenhute das Nachsehen hatte, während der Geschäftsmann, der ihm zehntausend Rubel Honorar gezahlt hatte, über hunderttausend Rubel erhielt. Aller Augen wandten sich dem Advokaten zu, und er fühlte das, und sein ganzes Äußere schien zu sagen: »Bitte, nur keine Ovationen!« – worauf er so rasch wie möglich an allen vorüberging.


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