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49.

»Darf man einmal hineinsehen?« fragte Nechljudow.

»Bitte sehr,« sagte der Hilfsinspektor mit einem höflichen Lächeln und richtete an den Aufseher irgend eine Frage. Nechljudow blickte durch eins der Gucklöcher. Dort ging ein hochgewachsener junger Mann mit einem kleinen schwarzen Bärtchen, im bloßen Unterzeug, hastig auf und ab; als er das Geräusch an der Tür vernahm, schaute er auf, zog finster die Brauen zusammen und fuhr fort, auf und ab zu gehen.

Nechljudow sah durch eine zweite Öffnung: sein Auge begegnete einem andern, erschrockenen, großen Auge, das durch das kleine Loch sah; er trat rasch von der Tür zurück. Er sah durch ein drittes Guckloch und erblickte dort einen Menschen von auffallend kleinem Wuchse, der zusammengekrümmt auf seinem Bett lag, den Kopf in den Schlafrock gehüllt hatte und offenbar schlief. In einer vierten Zelle saß ein bleicher Mensch mit breitem Gesichte, der den Kopf tief gesenkt hielt und die Ellbogen auf die Knie stützte. Als er Schritte vernahm, hob er den Kopf empor und sah nach der Tür. In dem ganzen Gesichte, und besonders in den großen Augen, lag ein Ausdruck hoffnungsloser Traurigkeit. Es interessierte ihn offenbar nicht zu erfahren, wer da in seine Zelle hineinschaute. Wer auch hineinsah – er erwartete anscheinend von niemand etwas Gutes. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich Nechljudows; er gab es auf, noch in weitere Zellen zu schauen, und begab sich nach Menjschows Zelle 21.

Der Aufseher sperrte das Schloß auf und öffnete die Tür. Ein muskulöser junger Mann mit langem Halse, gutmütigen runden Augen und kleinem Bärtchen stand neben der Schlafbank, sah erschrocken auf die Eintretenden und zog rasch seinen Arrestantenrock an. Die großen, runden Augen des Gefangenen, die fragend und erschrocken von Nechljudow zum Aufseher, von diesem zum Hilfsinspektor und von letzterem wieder zu Nechljudow hin und her irrten, fielen diesem ganz besonders auf.

»Der Herr hier will dich über deine Sache befragen,« sagte der Hilfsinspektor.

»Ich danke sehr ergebenst.«

»Ja, ich habe von Ihrer Sache gehört,« sagte Nechljudow, während er weiter in die Zelle hineinging und vor dem vergitterten, schmutzigen Fenster stehen blieb. »Ich möchte jedoch von Ihnen selbst darüber etwas hören.«

Menjschow kam gleichfalls an das Fenster und begann ohne Umstände zu erzählen, anfangs schüchtern, von Zeit zu Zeit den Inspektor ansehend, dann aber immer mutiger und freier. Als darauf der Inspektor die Zelle ganz verließ, um im Korridor irgendwelche Anordnungen zu treffen, gewann er seine ganze Unbefangenheit wieder. Seine Erzählung war nach Sprache und Manier ganz die Erzählung eines schlichten, braven Burschen vom Lande, und es berührte Nechljudow ganz besonders seltsam, diese Erzählung aus dem Munde eines Arrestanten in entehrendem Gewande und im Gefängnis zu hören. Nechljudow hörte zu und musterte gleichzeitig die niedrige Schlafbank mit der Strohmatratze, das Fenster mit dem dicken eisernen Gitter, die schmutzstarrenden, feuchten, verschmierten Wände und die unglückliche Gestalt des mit kläglichem Gesichte dastehenden jungen Bauernburschen, die durch die Filzpantoffeln und den Schlafrock ganz entstellt erschien. Und es ward ihm immer wehmütiger zu Mute: er konnte nicht glauben, daß das, was dieser gutmütig dreinschauende Mensch erzählte, die Wahrheit war – so furchtbar war ihm der Gedanke, daß ein Mensch, um nichts und wieder nichts, nur weil er selbst von andern schwer gekränkt worden, von seinesgleichen einfach gepackt, in diesen entstellenden Kittel gesteckt und hier eingesperrt worden sein sollte. Noch furchtbarer aber erschien ihm die Möglichkeit, daß diese so wahrhaft klingende Erzählung, die mit der einfachsten, gutmütigsten Miene vorgetragen wurde, erfunden und erlogen sein könnte. Der Inhalt der Erzählung war, daß der Schankwirt im Dorfe bald nach Menjschows Verheiratung diesem seine junge Frau abspenstig gemacht hatte. Überall hatte der Beleidigte sein Recht gesucht, überall war er abgewiesen und dem Schankwirt Recht gegeben worden. Einmal hatte er seine Frau mit Gewalt zurückgeholt, doch war sie ihm am nächsten Tage wieder entlaufen. Da ging er hin, um sie zur Rückkehr aufzufordern, doch der Schankwirt sagte ihm, sie sei nicht da, und hieß ihn fortgehen, während Menjschow sie doch beim Betreten des Hauses selbst gesehen hatte. Da er nicht ging, schlug der Schankwirt mit Hilfe seines Knechts ihn blutig; tags darauf aber brach auf dem Hofe des Schankwirts ein Feuer aus. Man beschuldigte Menjschow samt seiner Mutter der Brandstiftung, er war aber unschuldig und hatte zur Zeit, als das Feuer ausbrach, bei einem Gevatter geweilt.

»Du hast es wirklich nicht angelegt?« fragte Nechljudow.

»Ich dachte gar nicht daran, gnädiger Herr. Der Bösewicht, der mir so Schlimmes angetan, hat seinen Hof selbst in Brand gesteckt. Er hatte ihn kurz vorher versichert, wie es hieß. Und dann hat er es auf mich und die Mutter geschoben, wir seien da gewesen und hätten ihm gedroht. Das stimmt wohl, daß ich ihn damals ausgescholten habe – mein Herz ertrug's nicht länger. Den Hof aber habe ich nicht angesteckt, und ich war auch nicht da, als das Feuer ausbrach. Absichtlich hat er es auf den Tag eingerichtet, als ich mit der Mutter da war, um das Versicherungsgeld zu bekommen.«

»Ist's wirklich so gewesen?«

»Ja, so ist's wirklich gewesen, vor Gott kann ich's sagen, gnädiger Herr. Nehmen Sie sich meiner väterlich an!« – Er wollte niederknien und sich bis zur Erde verneigen, und nur mit Mühe konnte Nechljudow ihn davon zurückhalten. »Helfen Sie mir, um nichts gehe ich zu Grunde.« Und plötzlich ging ein Zucken über sein Gesicht, und er begann zu weinen. Er streifte den Ärmel des Schlafrocks auf und trocknete mit dem Ärmel des schmutzigen Hemdes seine Tränen.

»Schon fertig?« fragte der Inspektor durch die Tür der Zelle.

»Ja. Verlieren Sie nur den Mut nicht, wir werden tun, was möglich ist,« sagte Nechljudow und ging hinaus. Menjschow stand in der Tür, so daß der Aufseher an ihn anstieß, als er sie zumachte. Während der Aufseher das Schloß zusperrte, blickte Menjschow durch das kleine Guckloch der Tür.


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