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53.

Ihr Gespräch wurde durch den Inspektor unterbrochen, der sich erhob und erklärte, daß die Besuchszeit zu Ende sei und man sich trennen müsse. Nechljudow stand auf, verabschiedete sich von Wjera Jefremowna und ging nach der Tür, an der er stehen blieb, um zu beobachten, was sich weiter vor ihm abspielen würde.

»Herrschaften, es ist Zeit, es ist Zeit!« sagte der Inspektor, der abwechselnd aufstand und sich wieder setzte.

Die Aufforderung des Inspektors rief bei den im Zimmer anwesenden Gefangenen und Besuchern nur eine besondere Lebhaftigkeit hervor, doch dachte niemand ans Fortgehen. Einige standen auf und sprachen stehend weiter, andere setzten ihre Unterhaltung im Sitzen fort. Etliche begannen sich unter Tränen zu verabschieden. Ganz besonders rührend war der Abschied der Mutter von dem schwindsüchtigen Sohne. Der junge Mensch drehte noch immer an dem Stück Papier und setzte dabei eine immer finstrere Miene auf – alles nur, um sich nicht von der Verzweiflung der Mutter anstecken zu lassen. Als diese hörte, daß sie fortgehen müsse, legte sie den Kopf an die Schulter des Sohnes und begann heftig schnaubend und schwer atmend zu schluchzen. Das Mädchen mit den schönen Augen, dem Nechljudows Blick immer wieder unwillkürlich folgte, stand vor der schluchzenden Mutter und suchte sie mit tröstenden Worten zu beruhigen. Der Alte mit der blauen Brille stand da, hielt seine Tochter an der Hand und nickte mit dem Kopfe zu dem, was sie sagte. Auch das junge Liebespaar erhob sich – Hand in Hand standen beide da und schauten einander wortlos in die Augen.

»Das sind die einzigen, denen hier wohl zu Mute ist,« sagte, auf das Liebespaar zeigend, der junge Mann in dem kurzen Jackett, der neben Nechljudow stand und gleich ihm die Abschiednehmenden betrachtete.

Die beiden Verliebten, der junge Mann in der Guttaperchajacke und das anmutige blonde Mädchen, streckten, als sie die Blicke Nechljudows und des andern auf sich gerichtet fühlten, die Arme, ohne ihre Hände loszulassen, vor, warfen den Oberkörper zurück und begannen sich lachend wie im Tanze zu drehen.

»Heute Abend werden sie hier im Gefängnis getraut, und sie folgt ihm nach Sibirien,« sagte der junge Mann.

»Nach Sibirien?« fragte Nechljudow.

»Ja, er ist zu Zwangsarbeit verurteilt. Die sind wenigstens vergnügt, sonst ist hier wenig Tröstliches zu hören,« versetzte der junge Mann, während er zuhörte, wie die Mutter des Schwindsüchtigen herzerbarmend schluchzte.

»Bitte, Herrschaften, bitte! Zwingen Sie mich nicht, strenge Maßregeln zu ergreifen,« sagte der Inspektor und wiederholte mehrmals seine Worte. »Nun, bitte, gehen Sie schon,« sprach er schwach und unentschlossen. »Was ist denn das? Es ist längst Zeit. Das geht doch nicht, ich sage es zum letzten Male,« wiederholte er in düsterem Tone, während er seine Maryland-Zigarette abwechselnd auslöschte und wieder anrauchte.

Endlich trennten sich Besucher und Gefangene: diese gingen durch die innere, jene durch die äußere Tür ab. Im Gefängnis verblieben die beiden jungen Leute in den Guttaperchajacken, und der Schwarze mit dem struppigen Haar; auch Maria Pawlowna blieb da, mit dem kleinen Knaben, der im Gefängnis geboren war.

Die Besucher entfernten sich langsam. Schwer daherschreitend ging der Alte mit der blauen Brille hinaus, und dicht hinter ihm ging Nechljudow.

»Ja, eine merkwürdige Wirtschaft ist das hier,« sagte der redselige junge Mann im Jackett, gleichsam ein unterbrochenes Gespräch fortsetzend, während er zugleich mit Nechljudow die Treppe hinabstieg. »Ein Glück noch, daß der Kapitän ein guter Kerl ist, der sich nicht streng an die Regeln hält. Sie können doch wenigstens ein Wort miteinander reden und sich gegenseitig ihr Herz ausschütten.«

Als Nechljudow im Gespräch mit Medynzew – unter diesem Namen hatte der junge Mann sich vorgestellt – in den Flur gelangt war, trat der Inspektor mit müdem Ausdruck auf ihn zu.

»Wenn Sie also die Maslowa sehen wollen, dann kommen Sie, bitte, morgen,« sagte er, offenbar bestrebt, Nechljudow gegenüber recht liebenswürdig zu sein.

»Sehr gern,« sagte Nechljudow und verließ rasch das Gebäude.

Wieder überkam ihn, und zwar diesmal in ganz besonderer Stärke, jenes fast an physischen Ekel grenzende Gefühl sittlichen Abscheus, das er jedesmal empfand, wenn er das Gefängnis betrat.

»Woher nur dieses Gefühl stammen mag?« fragte er sich und fand keine Antwort auf die Frage.


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