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43.

Zu gewohnter Zeit ertönte in den Korridoren des Gefängnisses das Pfeifen der Aufseher. Die schweren Schlösser erklirrten, und die Türen der Korridore und Zellen wurden geöffnet; barfüßig oder in Filzpantoffeln schlurrten die Arrestanten durch die Gänge; die Kübel wurden aus den Zellen geschafft und verbreiteten einen entsetzlichen Geruch im ganzen Gebäude; die Arrestanten und Arrestantinnen wuschen sich, zogen sich an und traten zum Appell an, worauf sie sich kochendes Wasser zum Tee holen durften.

Beim Tee fand in allen Zellen des Gefängnisses eine lebhafte Unterhaltung darüber statt, daß an diesem Tage zwei Arrestanten mit Ruten geprügelt werden sollten. Der eine der Delinquenten war ein sehr belesener junger Mann, ein Handlungsgehilfe namens Wassiljew, der in einem Anfall von Eifersucht seine Geliebte getötet hatte. Die Zellengenossen hatten ihn wegen seiner Munterkeit, Freigebigkeit und Standhaftigkeit gegenüber den Gefängnisbehörden gern. Er kannte die gesetzlichen Vorschriften und verlangte, daß sie erfüllt würden, und aus diesem Grunde war er bei den Beamten des Gefängnisses nicht beliebt. Vor drei Wochen hatte einer der Aufseher einen Kübelträger geschlagen, weil dieser ihm die neue Uniform mit Kohlsuppe begossen hatte. Wassiljew war für den Geschlagenen eingetreten – es sei vom Gesetz verboten, die Arrestanten zu schlagen, meinte er. »Ich werde dir das Gesetz schon anstreichen,« hatte der Aufseher zu Wassiljew gesagt und grobe Schimpfworte hinzugefügt. Wassiljew hatte ihm mit gleicher Münze gedient, und der Aufseher wollte nach ihm schlagen, doch Wassiljew packte seine Hände, hielt sie eine ganze Weile fest, drehte ihn dann um und stieß ihn zur Tür hinaus. Der Aufseher beschwerte sich, und der Inspektor ließ Wassiljew in den Karzer sperren.

Der Karzer bestand in einer Reihe dunkler Kellerräume, die von außen durch Riegel verschlossen wurden. In solch einem dunklen, kalten Karzer gab es weder Bett, noch Tisch, noch Stuhl, so daß die darin Eingesperrten auf dem schmutzigen Fußboden sitzen oder liegen mußten, wo die Ratten über sie hinwegliefen. Diese Tiere bevölkerten die Karzer in ganzen Scharen und waren so zudringlich, daß die Eingesperrten das Stück Brot, das ihnen als Nahrung gereicht wurde, in der Dunkelheit vor ihnen nicht verstecken konnten. Sie fraßen ihnen das Brot aus den Händen weg und griffen sogar die Häftlinge selbst an, sobald diese aufhörten, sich zu bewegen. Wassiljew hatte sich geweigert, den Karzer zu betreten, da er unschuldig sei, und man versuchte, ihn mit Gewalt hineinzustoßen. Er setzte sich zur Wehr, und zwei Arrestanten waren ihm dabei behilflich, sich den Armen der Aufseher zu entwinden. Da taten sich die Aufseher, darunter auch der seiner Körperkraft wegen berühmte Petrow, zusammen, warfen die Arrestanten zu Boden und stießen sie in die Karzerzellen. Dem Gouverneur wurde sogleich Bericht erstattet, daß so etwas wie ein Aufruhr im Gefängnis stattgefunden habe. Es wurde eine Verfügung erlassen, laut welcher die beiden Hauptschuldigen, Wassiljew und ein heimatloser Landstreicher, je dreißig Rutenhiebe erhalten sollten. Die Züchtigung sollte im Besuchszimmer der weiblichen Abteilung stattfinden.

Am Abend bereits waren sämtliche Insassen des Gefängnisses von der bevorstehenden Exekution unterrichtet, und in den Zellen wurden lebhafte Gespräche darüber geführt.

Die Korablewa, Schönlieschen, Fedoßja und die Maslowa saßen in ihrer Ecke beim Tee und unterhielten sich über das Ereignis des Tages. Sie waren rot im Gesichte und sehr aufgeregt, denn sie hatten bereits Branntwein getrunken, der jetzt bei der Maslowa nicht mehr ausging, und mit dem sie ihre Freundinnen freigebig bewirtete.

»Ich würde nichts sagen, wenn er Spektakel gemacht oder sich sonst frech betragen hätte,« sagte die Korablewa mit Bezug auf Wassiljew, während sie mit ihren kräftigen Zähnen kleine Stückchen Zucker zum Tee abbiß. »Aber er ist doch nur für einen Kameraden eingetreten, deshalb darf doch heute nicht mehr geprügelt werden!«

»Es soll doch ein so lieber Mensch sein,« meinte Fedoßja, die mit bloßem Kopfe, von dem die langen Zöpfe über ihren Rücken herabfielen, der Pritsche mit der Teekanne gegenüber auf einem Holzscheit saß.

» Ihm solltest du es sagen, Michajlowna,« wandte sich die Bahnwärterin an die Maslowa; unter »ihm« verstand sie Nechljudow.

»Ich sage es ihm auch, er tut alles für mich,« antwortete die Maslowa lächelnd und den Kopf zurückwerfend.

»Wer weiß aber, wann er wieder herkommt! Und die sollen doch jetzt gleich abgestraft werden!« sagte Fedoßja. »Wie schrecklich ist das doch,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu.

»Ich habe mal zugesehen, wie sie im Gemeindegericht einen Bauern geprügelt haben,« begann die Bahnwärterin zu erzählen. »Der Schwiegervater hatte mich zum Dorfältesten geschickt, und wie ich hinkam, hatten sie ihn gerade vor.«

Die Erzählung der Bahnwärterin, die sich recht lang ausdehnte, wurde durch das Geräusch von Schritten und durch ein Stimmengewirr, das sich vom oberen Korridor her vernehmen ließ, unterbrochen.

Die Frauen schwiegen still und lauschten.

»Jetzt haben sie ihn hingeführt,« sagte Schönlieschen. »Sie prügeln ihn noch zu Tode. Gar zu erbost sind die Aufseher über ihn, weil er ihnen nichts durchgehen läßt.«

Oben wurde alles still, und die Bahnwärterin erzählte ihre Geschichte zu Ende, wie sie im Gemeindegericht erschrocken sei, als sie zusah, wie dort in der Scheune der Bauer geprügelt wurde, und wie sich ihr förmlich das Herz im Leibe umgekehrt habe. Hierauf erzählte Schönlieschen, wie einmal Schtscheglow mit Peitschenhieben bestraft worden sei, und wie er dabei nicht einen Ton über die Lippen gebracht habe. Dann räumte Fedoßja das Teegeschirr ab, und die Korablewa wie auch die Bahnwärterin begannen ihre Säcke zu nähen, während die Maslowa, die Arme um die Knie schlingend, in trübem Hinbrüten auf ihrer Pritsche saß. Eben wollte sie sich wieder hinlegen und schlafen, als die Aufseherin sie nach dem Bureau rief, wo ein Besucher sie erwartete.

»Erzähl' ihm ganz bestimmt auch von uns,« sprach die alte Menjschowa, die wegen Brandstiftung angeklagt war, während die Maslowa vor einem Spiegel, von dem das Quecksilber zur Hälfte abgefallen war, sich das Tuch umband. »Nicht wir haben das Haus angezündet, sondern er selbst, der Bösewicht. Sein Knecht hat es ja gesehen! Er wird es nicht leiden, daß eine Seele unnütz zugrunde geht – sag' ihm nur, er solle sich mal den Mitrij herausrufen lassen. Mitrij wird ihm alles erzählen, wie's auf der Hand liegt; was soll denn das, daß man uns hier ins Loch sperrt, wo wir doch nicht 'ne Ahnung haben, während er mit 'ner fremden Frau großtut und in der Schenke herumsitzt, der Halunke!«

»Das ist gegen alles Gesetz,« bestätigte die Korablewa.

»Ich sag's ihm, unbedingt sag' ich's ihm,« versetzte die Maslowa. »Nun noch rasch einen Schluck, damit ich mehr Mut habe,« fügte sie, mit den Augen blinzelnd, hinzu.

Die Korablewa goß ihr einen halben Becher voll ein. Die Maslowa trank ihn aus, wischte sich den Mund und ging in heiterster Stimmung, den Kopf hin und her wiegend und pfiffig lächelnd, hinter der Aufseherin über den Korridor.


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