Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

36.

Lange Zeit konnte die Maslowa in dieser Nacht keinen Schlaf finden, sie lag mit offenen Augen da, starrte nach der Tür, die von der auf und ab schreitenden Küsterstochter jeden Augenblick verdeckt wurde, und machte sich ihre Gedanken.

Sie sagte sich, daß sie um keinen Preis dort, auf Sachalin, einen Sträfling heiraten, sondern sich sonst irgendwie einrichten werde, mit irgendeinem Schreiber, Aufseher oder sonstigen Beamten. »Sie sind dafür alle zu haben. Nur abmagern darf ich nicht, sonst bin ich verloren.« Und sie erinnerte sich, wie der Verteidiger, und auch der Vorsitzende, sie angesehen hatte, und wie alle, die ihr zufällig im Gericht begegnet waren oder absichtlich an ihr vorübergingen, sie betrachtet hatten. Sie erinnerte sich, wie ihre Kollegin Berta, die sie im Gefängnis besuchte, ihr erzählt hatte, daß jener Student, den sie während ihres Aufenthalts bei der Kitajewa geliebt hatte, wieder hingekommen sei und nach ihr gefragt und sie sehr bedauert habe. Sie erinnerte sich der Prügelei mit der Rothaarigen, die ihr so leid getan; sie erinnerte sich des Bäckers, der ihr für ihr Geld ein Weizenbrot mehr geschickt hatte, als ihr zukam. Gar vielerlei ging ihr durch den Sinn, nur an Nechljudow dachte sie nicht. Sie dachte überhaupt nie an ihre Kindheit und Jugend, am wenigsten an ihre Liebe zu Nechljudow. Das tat ihr gar zu sehr weh, diese Erinnerungen lagen unberührt irgendwo tief in ihrer Seele. Selbst im Traume hatte sie Nechljudow nie gesehen. Im Gerichtssaal hatte sie ihn nicht etwa darum nicht erkannt, weil er damals, als sie ihn zum letztenmal gesehen, in Uniform gewesen und nur ein kleines Schnurrbärtchen und kurzes, wenn auch dichtes, krauses Haar gehabt hatte, während er jetzt kaum mehr jung aussah und einen Vollbart trug, sondern vielmehr darum, weil sie eben nie an ihn gedacht hatte. Sie hatte alle ihre Erinnerungen an ihn in jener schrecklichen, finstren Nacht begraben, als er, vom Kriegsschauplatz zurückkehrend, am Gute der Tanten vorübergefahren war, ohne bei ihnen vorzusprechen. Damals wußte Katjuscha bereits, daß sie schwanger war. Bis zu jener Nacht hatte sie noch immer darauf gehofft, daß er sie aufsuchen würde, und das Kind, das sie unter dem Herzen trug, fiel ihr nicht nur nicht lästig, sondern der Gedanke an das in ihr keimende junge Leben erfüllte sie vielmehr mit Erstaunen und Rührung. Jene Nacht aber hatte alle ihre Hoffnungen vernichtet, und das Kind, das sie erwartete, war ihr fortan nichts als ein Hindernis.

Die Tanten hatten Nechljudow eingeladen und ihn bestimmt erwartet, er hatte jedoch depeschiert, daß er nicht kommen könne, da er zu einem bestimmten Termin in Petersburg sein müsse. Als Katjuscha das erfuhr, beschloß sie, nach der Bahnstation zu gehen, um ihn dort zu sehen. Der Zug passierte die Station um zwei Uhr nachts. Katjuscha hatte die beiden alten Fräulein zu Bett gebracht, hatte die kleine Maschka, die Tochter der Köchin, zum Mitgehen beredet, ihre alten Schuhe angezogen, ein Tuch um den Kopf genommen und sich nach der Station auf den Weg gemacht.

Es war eine dunkle, regnerische, stürmische Herbstnacht. Der Regen klatschte in großen Tropfen nieder, um zeitweise wieder aufzuhören. Auf dem Felde sah man den Weg nicht unter den Füßen, und im Walde war es vollends schwarz wie in einem Ofen. Obschon Katjuscha den Weg gut kannte, kam sie im Walde doch von ihm ab und erreichte die kleine Station, auf der der Zug nur drei Minuten Aufenthalt hatte, nicht, wie sie gehofft, vor Eintreffen des Zuges, sondern erst nach dem zweiten Läuten. Als sie auf den Perron kam, erblickte sie Nechljudow sogleich durch das Fenster eines Coupés erster Klasse. Das Coupé war hell erleuchtet, auf den Plüschsesseln saßen zwei Offiziere einander gegenüber und spielten Karten. Auf dem Tischchen am Fenster brannten zwei dicke, überträufelnde Kerzen. Er saß in eng anliegenden Beinkleidern und weißem Hemd auf der Seitenlehne des Sessels, stützte sich gegen die Rückenlehne und lachte über irgend etwas. Kaum hatte sie ihn erblickt, als sie auch sogleich mit der frosterstarrten Hand gegen das Fenster klopfte. In diesem Augenblick aber erklang das dritte Glockenzeichen, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, indem er zuerst nach rückwärts und dann Wagen für Wagen stoßweise vorwärts ging. Einer der beiden Kartenspieler erhob sich mit den Karten in der Hand und sah durchs Fenster. Sie klopfte noch einmal und preßte ihr Gesicht ganz dicht an die Scheibe. In diesem Augenblick kam auch der Waggon, vor dem sie stand, ins Rollen und fuhr weiter. Sie schritt, ins Fenster schauend, nebenher. Der Offizier wollte das Fenster öffnen, bekam es jedoch nicht auf. Da erhob sich Nechljudow, schob den andern zur Seite und versuchte das Fenster zu öffnen. Der Zug beschleunigte seinen Lauf, so daß Katjuscha ganz rasch gehen mußte. Immer schneller bewegte sich der Zug – und jetzt endlich ging das Fenster nieder. In diesem Augenblick stieß der Schaffner Katjuscha zur Seite und sprang in den Waggon. Sie blieb hinter dem Waggon zurück, lief aber auf den nassen Brettern des Perrons immer weiter; dann war der Perron zu Ende, und Katjuscha mußte acht geben, um auf den Stufen, die zur ebenen Erde hinabführten, nicht zu fallen. Sie lief und lief, obschon der Waggon erster Klasse längst weit voraus war. Die Wagen der zweiten Klasse eilten rasch an ihr vorüber, in noch rascherem Tempo jagten die Wagen der dritten Klasse vorbei – doch sie lief und lief noch immer. Als der letzte Wagen mit den Laternen vorüber war, war sie bereits über die Wasserstation hinaus, außerhalb des Zaunes, und der Wind warf sich auf sie, riß ihr das Tuch vom Kopfe und trieb ihr die nassen Kleider dicht an die laufenden Beine, daß sie wie angeklebt schienen. Ihr Tuch ward vom Winde weit fortgeweht, aber sie lief noch immer.

»Tantchen Michajlowna!« schrie das kleine Mädchen, kaum mit ihr Schritt haltend, »das Tuch ist fortgeflogen!«

Katjuscha blieb stehen, warf den Kopf zurück, umfaßte ihn mit den Händen und brach in lautes Schluchzen aus.

»Er ist weggefahren!« schrie sie auf. »Er sitzt im hell erleuchteten Coupé auf dem weichen Sessel, er scherzt und trinkt – und ich stehe hier, im Kot, im Dunkeln, in Wind und Wetter und weine,« dachte sie im stillen, setzte sich auf die Erde und begann laut zu schluchzen, daß die Kleine erschrak und sie in dem nassen Kleide umarmte.

»Tantchen, wir wollen nach Hause gehen!«

»Sowie ein Zug kommt, werf ich mich auf die Schienen, und alles ist zu Ende,« dachte Katjuscha, ohne der Kleinen zu antworten.

Es war ihr fester Entschluß, den Tod auf den Schienen zu suchen. Aber plötzlich fühlte sie, wie das Kind – sein Kind – in ihrem Leibe sich bewegte, und wie durch einen Zauber war das, was sie eben noch so furchtbar gequält hatte, daß sie es nicht überleben zu können meinte, wie verschwunden. Aller Zorn gegen ihn, jeder Gedanke, sich durch Selbstmord an ihm zu rächen, war fort. Sie beruhigte sich, stand auf, strich ihr Haar und ihre Kleider zurecht, nahm das Tuch um und ging nach Hause.

Ganz erschöpft, naß und schmutzig kehrte sie heim, und mit diesem Tage begann in ihr jene seelische Wandlung, infolge deren sie das wurde, was sie nun war. Seit jener furchtbaren Nacht verlor sie ihren Glauben an Gott und an das Gute. Sie hatte früher an Gott geglaubt und war davon überzeugt gewesen, daß auch die andern Menschen an ihn glaubten. Seit jener Nacht jedoch war sie der Überzeugung, daß niemand an ihn glaube, und daß alles, was von Gott und seinem heiligen Gesetz geredet wurde, eitel Lüge und Betrug sei. Er, den sie geliebt, und der, wie sie bestimmt wußte, auch sie geliebt hatte – er hatte sie verlassen, nachdem er ihrer Gefühle gespottet. Und dabei war er noch der beste aller Menschen, die sie kannte. Alle andern waren noch weit schlimmer – alles, was weiter mit ihr geschah, bestätigte das bei jedem Schritt. Seine Tanten, diese frommen alten Damen, jagten sie aus dem Hause, als sie ihnen nicht mehr so dienen konnte wie früher. Von den Menschen, mit denen sie nun zusammenkam, waren die Frauen nur darauf bedacht, durch sie Geld zu verdienen, während die Männer, von jenem alten Bezirkskommissar angefangen bis zu den Aufsehern im Gefängnis, in ihr nur einen Gegenstand ihrer Lust sahen. Und für niemand auf der Welt gab es andere Beweggründe des Handelns als eben diese. In dieser Auffassung hatte jener alte Schriftsteller sie bestärkt, zu dem sie damals, im zweiten Jahre ihres freien Aufenthalts in der Stadt, in Beziehungen getreten war. Er hatte ihr gerade heraus erklärt, daß eben darin – er hatte es Poesie und Ästhetik genannt – alles Glück bestehe.

Alle lebten nur für sich, für ihren sinnlichen Genuß, und alle Worte über Gott und das Gute waren Betrug. Und wenn sich einem schon einmal die Frage aufdrängte, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet sei, daß alle einander Böses zufügen, und daß alle leiden, so mußte man eben hierüber nicht weiter nachdenken. Überkam sie die Schwermut, so rauchte oder trank sie oder suchte die Gesellschaft eines Mannes, und es ging vorüber.


 << zurück weiter >>