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32.

Das erste Gefühl, das Nechljudow am folgenden Tage beim Erwachen empfand, war, daß mit ihm etwas geschehen sei, und bevor er sich noch klar gemacht hatte, was dieses Etwas sei, wusste er bereits, daß es etwas Wichtiges und Gutes sei. »Katjuscha, das Gericht,« ging's ihm durch den Kopf, und er sagte sich, daß er nun die Lüge von sich tun müsse. Und welch merkwürdiges Zusammentreffen: an demselben Morgen kam endlich auch jener längst erwartete Brief von Maria Wassiljewna, der Frau des Adelsmarschalls, dieser Brief, dessen er jetzt so notwendig bedurfte! Sie gab ihm seine volle Freiheit zurück und wünschte ihm Glück zu seiner bevorstehenden Heirat.

»Heirat!« sagte er ironisch. »Wie weit bin ich jetzt davon entfernt!«

Und er erinnerte sich seiner gestrigen Absicht, alles ihrem Manne zu sagen, ihm seine Reue auszudrücken und sich zu jeder Genugtuung bereit zu erklären.

Am heutigen Morgen jedoch erschien ihm das nicht so leicht wie gestern. »Und dann – warum soll ich einen Menschen unglücklich machen, wenn er von nichts weiss? Sollte er mich fragen – nun, dann werde ich es ihm sagen. Aber eigens dazu hingehen, um es ihm zu sagen? Nein, das ist nicht nötig.«

Ebenso schwer erschien es ihm am heutigen Morgen, Missi die ganze Wahrheit zu sagen. Auch hier ging es nicht an, davon anzufangen – das wäre beleidigend gewesen. Es war eben unvermeidlich, dass in vielen Lebensverhältnissen etwas Unausgesprochenes blieb. Einen Entschluß aber faßte er an diesem Morgen: nicht mehr zu den Kortschagins zu gehen und ihnen die Wahrheit zu sagen, wenn sie ihn fragten.

Dafür sollte jedoch in seinen Beziehungen zu Katjuscha alles restlos ausgesprochen und geklärt werden.

»Ich werde in das Gefängnis gehen, werde ihr alles sagen und sie bitten, mir zu verzeihen. Und wenn es sein muss – ja, wenn es sein muss, werde ich sie heiraten,« dachte er.

Dieser Gedanke, um der sittlichen Gerechtigkeit willen alles zu opfern und sie zu heiraten, hatte für ihn an diesem Morgen etwas ganz besonders Rührendes.

Schon lange hatte er sich für einen Tag nicht mehr mit solcher Energie gerüstet. Als Agrafena Petrowna zu ihm ins Zimmer trat, erklärte er ihr sogleich mit einer Entschiedenheit, die er sich selbst nicht zugetraut hätte, daß er die Wohnung und ihre Dienste nicht mehr brauche. Man war seiner Zeit stillschweigend übereingekommen, dass er diese große, teure Wohnung behalten solle, um sie später, nach seiner Verheiratung, als Familienwohnung zu benutzen. Dass er nun die Wohnung aufgab, musste eine ganz besondere Bedeutung haben. Agrafena Petrowna sah ihn denn auch, als er es ihr ankündigte, nur kopfschüttelnd an.

»Ich danke Ihnen, Agrafena Petrowna, für alle Ihre Sorge um mich, aber ich brauche jetzt weder eine so große Wohnung, noch auch die ganze Dienerschaft. Wenn Sie mir jedoch behilflich sein wollen, dann haben Sie die Güte, sich der Sachen anzunehmen und sie vorläufig wegzuräumen, wie es bei Mama geschah. Und wenn Natascha kommt« – Natascha war Nechljudows Schwester – »dann mag sie alles weitere anordnen.«

Agrafena Petrowna schüttelte den Kopf.

»Wieso denn wegräumen? Man wird doch die Sachen noch brauchen,« sagte sie.

»Nein, man wird sie nicht brauchen, Agrafena Petrowna, man wird sie ganz bestimmt nicht brauchen,« sagte Nechljudow, und aus seinen Worten klang etwas, das auf ihr Kopfschütteln Antwort gab. »Sagen Sie, bitte, auch Kornej, dass ich ihm sein Gehalt für zwei Monate im voraus bezahlen werde, daß ich seiner Dienste jedoch nicht mehr bedarf.«

»Das sollten Sie doch alles nicht tun, Dmitrij Iwanowitsch,« sagte sie. »Sagen wir mal, Sie reisen ins Ausland – dann werden Sie doch die Wohnung nach Ihrer Rückkehr wieder brauchen!«

»Ihre Annahme ist nicht richtig, Agrafena Petrowna. Ich reise nicht ins Ausland; wenn ich reise, so geht es anderswohin.«

Er wurde plötzlich purpurrot.

»Ja, ich muss es ihr sagen,« dachte er – »es liegt kein Grund vor, es zu verschweigen. Alles muss gesagt werden, alle sollen es wissen.«

»Mir ist gestern etwas sehr Merkwürdiges und Bedeutsames begegnet,« sagte er. »Erinnern Sie sich der Katjuscha, die bei der Tante Maria Iwanowna war?«

»Gewiss doch, sie hat bei mir nähen gelernt.«

»Nun, diese Katjuscha hat gestern vor dem Schwurgericht gestanden, und ich war Geschworener.«

»Ach mein Gott, wie traurig!« sagte Agrafena Petrowna. »Was hat sie denn begangen?«

»Einen Mord – und den habe in Wirklichkeit ich begangen.«

»Wieso haben Sie ihn denn begangen? Sie reden so sonderbar«, sagte Agrafena Petrowna, und in ihren alten Augen zuckte ein Flämmchen auf.

Sie kannte die Geschichte Katjuschas.

»Ja, ich bin an allem schuld. Und das hat alle meine Pläne geändert.«

»Was für eine Änderung kann denn daraus für Sie entstehen?« sagte Agrafena Petrowna, ihr Lächeln zurückhaltend.

»Wenn ich die Ursache bin, daß sie diesen Weg eingeschlagen hat, dann muss ich auch alles tun, was ich kann, um ihr zu helfen.«

»Das ist Ihr guter Wille – jedenfalls trifft Sie da keine besondere Schuld. Das kann jedem passieren, und wenn es vernünftig angefasst wird, wird es eben wieder gut gemacht und vergessen, und man lebt weiter,« sagte Agrafena Petrowna streng und ernst. »Sie brauchen sich das nicht so zu Herzen zu nehmen. Ich hatte schon davon gehört, dass sie auf Abwege geraten ist, wer ist da also schuld?«

»Ich bin schuld, und darum will ich es wieder gut machen.«

»Nun, es dürfte wohl schwer sein, das wieder gut zu machen.«

»Das ist meine Sache. Und wenn Sie dabei an sich selbst denken, so will ich Ihnen nur sagen, dass der Wunsch Mamas ...«

»Ich habe nicht an mich gedacht. Die Gottselige hat so reichlich für mich gesorgt, dass ich keine Wünsche mehr habe. Lisanka« – ihre verheiratete Nichte – »bittet mich, zu ihr zu ziehen, und ich werde zu ihr gehen, sobald ich hier nicht mehr nötig bin. Machen Sie sich nur keine unnützen Sorgen über die Sache – so etwas kommt doch überall vor.«

»Nun, ich bin anderer Meinung. Jedenfalls bitte ich Sie, mir beim Aufgeben der Wohnung und beim Wegräumen der Sachen zu helfen. Seien Sie mir nicht böse – ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar für alles.«

Es war eine merkwürdige Erscheinung, daß von dem Augenblick an, da Nechljudow begriffen hatte, daß er ein schlechter Mensch und sich selbst zuwider sei, alle andern aufhörten, ihm zuwider zu sein, er empfand vielmehr allen andern, zumal Agrafena Petrowna und Kornej gegenüber, ein Gefühl der Achtung und Sympathie.

Er wollte auch Kornej gegenüber beichten, doch Kornej hatte eine so ehrerbietig-ernsthafte Miene aufgesetzt, daß er sich nicht dazu entschließen konnte.

Als Nechljudow, durch dieselben Straßen und mit demselben Droschkenkutscher nach dem Gericht fuhr, staunte er über sich selbst, wie sehr er sich heute als ein völlig anderer Mensch fühlte.

Eine Heirat mit Missi, die ihm noch gestern so nahe gelegen hatte, erschien ihm jetzt als etwas ganz Unmögliches. Gestern hatte er die Situation so angesehen, als ob gar kein Zweifel daran möglich wäre, daß sie glücklich sein würde, ihn zu heiraten; heute fühlte er sich unwürdig, nicht nur sie zu heiraten, sondern ihr überhaupt zu nahen. »Wenn sie nur wüßte, wer ich bin, dann würde sie mich um keinen Preis empfangen. Und ich habe ihr aus ihrem Kokettieren mit jenem Herrn einen Vorwurf machen wollen! Und wenn sie mich jetzt selbst heiraten wollte, könnte ich da wohl – ich will nicht sagen glücklich, sondern überhaupt nur ruhig sein, nachdem ich weiß, daß jene dort im Gefängnis sitzt und morgen oder übermorgen auf dem Etappenwege zur Zwangsarbeit nach Sibirien abgeführt wird? Sie, die ich zu Grunde gerichtet habe, wird in die Zwangsarbeit gehen, und ich werde hier die Gratulanten empfangen und mit meiner jungen Gattin Visiten machen! Oder ich werde mit dem Adelsmarschall, den ich so schändlich hintergangen habe, auf der Adelsversammlung die Stimmen für und gegen die Durchführung der Schulinspektion sammeln, um hinterher – welche Gemeinheit! – seiner Frau ein Rendez-vous zu geben! Oder ich werde an meinem Bilde weitermalen – das offenbar nie fertig werden wird, weil es sich für mich nicht schickt, mich mit solchen Spielereien zu beschäftigen. Nein, alles das ist jetzt für mich zu Ende,« sprach er zu sich selbst und war von innigster Freude über die Wandlung erfüllt, die sich in ihm vollzogen.

»Vor allem,« dachte er, »muß ich jetzt den Advokaten sehen und seine Entscheidung hören, und dann ... dann will ich sie, die Arrestantin von gestern, im Gefängnis besuchen und ihr alles sagen.«

Und als er sich vorstellte, wie er sie sehen, wie er ihr alles sagen, wie er reuig seine Schuld vor ihr bekennen und ihr erklären würde, daß er alles, was in seinen Kräften liegt, tun wolle, ja daß er sie auch heiraten wolle, um seine Schuld zu sühnen – da ergriff ihn ein solches Gefühl der Rührung, daß ihm die Tränen in die Augen traten.


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