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46.

»Ja – so also liegen die Dinge! So!« dachte Nechljudow, während er das Gefängnis verließ. Jetzt erst begriff er seine Schuld in ihrem vollen Umfange. Hätte er nicht erst den Versuch gemacht, seine Tat wieder gutzumachen, er hätte nie das Verbrecherische, das in ihr lag, so vollständig erkannt, und auch ihr wäre das Unrecht, das ihr angetan worden, nicht so klar zum Bewußtsein gekommen. Jetzt erst kam das alles in seinem ganzen furchtbaren Ernst zu Tage. Jetzt erst sah er, was er aus der Seele dieses Weibes gemacht hatte, und auch sie sah und begriff, was aus ihr gemacht worden war. Bisher hatte Nechljudow mit seinem Gefühl nur gespielt, hatte sein Wohlgefallen gehabt an sich und an seiner Reue, jetzt aber jagte ihm das alles geradezu einen Schrecken ein. Sie verlassen – das sagte ihm sein Gefühl – konnte er jetzt nicht, doch konnte er sich auch nicht vorstellen, wie sich seine Beziehungen zu ihr weiter gestalten würden.

Als Nechljudow eben aus dem Gefängnis trat, steckte ihm irgend jemand einen Zettel zu. Sobald er auf der Straße war, las er ihn. Der Zettel war in flotter Handschrift mit Bleistift geschrieben, in neuester orthographischer Manier, und hatte folgenden Wortlaut:

»Ich höre, daß Sie öfters ins Gefängnis kommen und sich für eine Strafgefangene interessieren. Ich möchte Sie einmal sprechen, sehen Sie zu, daß man es Ihnen gestattet. Ich kann Ihnen vieles mitteilen, was für Ihren Schützling wie auch für die politischen Gefangenen von Wichtigkeit ist. Ihre dankbare Wjera Bogoduchowskaja.«

»Bogoduchowskaja! Woher kenne ich nur den Namen?« dachte Nechljudow, der noch ganz unter dem Eindruck der Zusammenkunft mit der Maslowa stand und im ersten Augenblick mit dem Namen und der Handschrift keine Erinnerung zu verbinden wußte. »Ah!« ging es ihm plötzlich durch den Kopf – »die Diakonstochter, auf der Bärenjagd damals!«

Wjera Bogoduchowskaja war irgendwo in dem öden Gouvernement Nowgorod Dorfschullehrerin gewesen, und Nechljudow war einmal mit ein paar Freunden in jene Gegend gekommen, um auf Bären zu jagen. Die Lehrerin hatte sich an ihn mit der Bitte gewandt, ihr doch die Mittel zu geben, die es ihr ermöglichten, die Hochschulkurse zu besuchen. Nechljudow hatte ihr das Geld gegeben und sie vergessen. Jetzt begegnete ihm diese Dame als politische Verbrecherin wieder, sie saß im Gefängnis, wo sie offenbar seine Geschichte in Erfahrung gebracht hatte, und nun bot sie ihm ihre Dienste an.

So leicht und einfach sich damals alles abgewickelt hatte, so schwierig und umständlich schien es ihm jetzt, mit ihr zusammenzukommen. Er erinnerte sich gern und lebhaft an jene Zeit und an seine Bekanntschaft mit der Bogoduchowskaja. Es war vor der Butterwoche, in einer ganz abgelegenen Gegend, sechzig Werst von der Eisenbahn entfernt. Sie hatten Glück auf der Jagd gehabt, hatten zwei Bären erlegt und saßen eben, kurz vor der Abfahrt, beim Mittagessen, als der Bauer, bei dem sie abgestiegen waren, in die Stube trat und die Mitteilung machte, daß die Tochter des Diakons da sei und den Fürsten Nechljudow sprechen wolle.

»Ist sie hübsch?« fragte irgend jemand.

»Laßt doch das,« sagte Nechljudow und erhob sich vom Tische. Er wunderte sich, was für ein Anliegen wohl die Tochter des Diakons an ihn haben könne, setzte ein ernstes Gesicht auf und begab sich nach der Stube des Wirts hinüber.

Dort fand er ein junges Mädchen in einem groben Filzhute und einem kurzen Pelz, sehnig, mit einem hageren, unschönen Gesicht, in dem nur die Augen und die gewölbten Brauen über ihnen hübsch genannt werden konnten.

»Na, nu sprich mal mit dem Herrn, Wjera Jefremowna,« sagte die alte Wirtin – »das ist nämlich der Fürst selber. Ich geh' hinaus.«

»Womit kann ich Ihnen dienen?« begann Nechljudow.

»Ich ... ich ... sehen Sie, Sie sind reich, Sie werfen das Geld für solche Torheiten wie die Jagd fort. Und ich ...« Sie war sichtlich verwirrt bei ihren Ausführungen. »Ich möchte nur eins: den Menschen nützlich sein, und leider vermag ich das nicht, weil ich nichts gelernt habe.«

»Was soll ich also tun?«

»Ich bin Lehrerin, und ich möchte gern die Hochschulkurse besuchen, aber man läßt mich nicht zu. Das heißt – zulassen würde man mich schon, aber ich habe nicht die Mittel dazu. Geben Sie mir das nötige Geld, ich werde die Kurse besuchen und es Ihnen später abzahlen.«

Ihre Augen hatten einen so aufrichtigen, herzlichen Ausdruck, und ihr ganzes Wesen, ihre zugleich entschlossene und schüchterne Art machte einen so rührenden Eindruck, daß Nechljudow, der sich, wie stets in solchen Fällen, ganz in ihre Lage versetzte, ihrer Bitte nicht widerstehen konnte.

»Ich meine, wenn die reichen Leute Bären totschlagen und die Bauern betrunken machen können, was doch sicher zu tadeln ist, so können sie doch auch einmal etwas Gutes tun. Ich würde nur achtzig Rubel brauchen. Wollen Sie es nicht tun – nun, dann ist mir's auch recht,« sagte sie unwirsch, als sie Nechljudows ernsten Blick fest auf sich gerichtet sah, in der Meinung, daß sie seine Miene in einem für sie ungünstigen Sinne zu deuten habe.

»Im Gegenteil – ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben ...«

Als sie begriffen hatte, daß er ihr Anliegen erfüllen wolle, errötete sie und schwieg.

»Ich hole es Ihnen gleich,« sagte Nechljudow.

Er ging in den Hausflur und traf dort einen seiner Jagdgefährten, der sein Gespräch mit der Lehrerin gehört hatte. Ohne auf die Scherze des Freundes zu achten, entnahm er aus seiner Brieftasche das Geld und brachte es ihr.

»Bitte, bitte, keinen Dank – ich muß Ihnen danken.«

Mit Vergnügen erinnerte sich Nechljudow dieses Vorkommnisses. Es fiel ihm ein, daß er mit einem Offizier, der mit von der Partie war, beinahe in Streit geraten wäre, weil dieser die Sache in einen schlechten Scherz verkehren wollte, daß dann ein anderer Kamerad für ihn Partei nahm und sie aus diesem Anlaß Freundschaft miteinander schlossen. Die ganze Jagdpartie war überhaupt sehr glücklich und vergnügt verlaufen, und als sie in der Nacht nach der Eisenbahnstation zurückfuhren, war er in allerbester Stimmung gewesen. In langer Kette jagten die zweispännigen Schlitten auf den schmalen Wegen durch den bald hohen, bald niedrigen Forst, dessen Tannen mit dicken Schneelagen wie mit großen Kuchen bepackt waren. Irgend jemand hatte sich eine angenehm duftende Zigarette angesteckt, deren rotes Feuer im Dunkel glühte. Der Jagdhelfer Ossip lief, bis an die Knie im Schnee, von Schlitten zu Schlitten, saß bald da, bald dort mit auf und erzählte von den Elentieren, die jetzt durch den tiefen Schnee irren und die Rinde der Espen benagen, und von den Bären, die in ihren tief im Dickicht verborgenen Höhlen sitzen und ihren warmen Atem durch die Luftlöcher ausstoßen.

Alles dessen erinnerte sich Nechljudow jetzt, und vor allem des Glücksgefühls und des Bewußtseins seiner Gesundheit, Kraft und Sorglosigkeit, das ihn damals erfüllte. Die Lunge atmete die frostkalte Luft tief ein und schien fast den Halbpelz sprengen zu wollen, ins Gesicht fiel ihm der Schnee, den die Joche der Pferde von den Ästen schüttelten, Wärme empfand er im Körper, Frische im Gesicht, und keine Sorge, kein Vorwurf, keine Furcht und kein Wunsch nagte an seiner Seele. Wie köstlich war ihm zu Mute! Und jetzt? O Gott, wie peinvoll, und wie bedrückend schwer war das alles! ...


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