Moritz August von Thümmel
Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich
Moritz August von Thümmel

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Erquickender hat kaum jemals die freie Luft auf mich gewirkt, als da ich aus diesem Kerker an das Licht trat. Ich hüpfte mehr, als ich ging, meinem sprechsüchtigen Begleiter zu, der mich an dem Tore des Arsenals ungeduldig erwartete. Er konnte nicht begreifen, wie ich zwei volle Stunden an die häßliche Galeere habe verschwenden und sie den Schaustücken entziehen mögen, die ich ja jetzt nur im Flug würde betrachten können. Da sein Zeitvertreib ungleich mehr als der meine bei der Sache im Spiel war, so läßt sich auch mein Verdruß gar nicht mit der Größe des seinigen vergleichen, als ich dastand, alle meine Taschen umwendete, und endlich mit zitternder Stimme mein Einlaßbillett – für verloren erklären mußte, so wie es mein Schnupftuch war. Das eine war für mich leichter zu entbehren als das andere. Während sich nun der Soldat unter lauten Wehklagen, um das wichtige Dokument zu suchen, so eilig auf die Beine machte, als ob es sein Gehirn wäre, das ich verloren hätte, hielt ich es für rätlicher, dem dringenden Beruf meiner Nase zu folgen und nach dem Gasthofe zu wandern, als unter freiem Himmel seine hinkenden Nachrichten zu erwarten; doch rief ich noch zu seinem Troste ihm die Versicherung nach, daß ich den folgenden Morgen ganz dem Arsenale und ihm widmen, und die heute versäumten Stunden wieder einbringen wollte. Dieser kleinliche Zufall ist mir eigentlich heute gar sehr zu passe gekommen: denn ungerechnet den Zwang, dessen er mich zwar nur vor der Hand entledigt, die Waffen unsers Erbfeindes zu bewundern, so hat er mir doch immer die Muße verschafft, dir in der ersten Wärme der Empfindung, die doch gewiß am ähnlichsten malt, die Szenen meines Morgens zu schildern. Zweitens läßt er mir auch Zeit, mich abzukühlen, ehe ich in die vornehme Gesellschaft gehe, in die mich der Mittag einführen wird. Wohl gut, daß er in der großen Welt drei Stunden später eintritt als in der physischen. Inzwischen, denke ich, sollen die Bilder, die jetzt noch so lebhaft mir vorschweben, ziemlich verblichen und brauchbarer pour la belle conversation an ihre Stelle getreten sein. Denn welche Dame, ich bitte dich, würde mir zuhören, wenn meine Erzählung zum Ohnmächtigwerden sie aus dem hellen Speisesaale in jene düstre Sklaven-Baracke versetzen wollte? Ebensowenig würde ich Glück bei ihr machen, wenn ich mir einfallen ließe, während sie mich anlächelt oder die Zähne stochert, dem heldenmütigen Kapuziner eine Lobrede zu halten, und an ihrer Seite seiner funfzig, der bessern Zukunft geopferten Jahre, und der widernatürlichen Zufriedenheit zu huldigen, mit der er, ohne nur einmal in ein schönes Auge geblickt zu haben, auf seinem heiligen Posten steht. Mit dir, Eduard, ist es etwas andres. Du mußtest mir wohl Ehren halber Stich halten, denn du zählst dich zu den philosophischen Köpfen. Doch diese, lieber Gott, sind mir heute selbst so zum Ekel geworden, daß es mich Wunder nimmt, wie ich mich noch im geringsten mit ihnen abgeben mag . . .

Ein glänzender Mittag, Eduard, ein Gastmahl, wie es nicht jeder Intendant der königlichen Marine zu geben vermag, wenn er es nicht von Toulon ist, an dessen Küste die berühmten Dattelmuscheln zu Hause sind, die ihm als ein ausschließendes Vorrecht zukommen. Ich fand an diesem Beherrscher der Hölle, die ich heute morgens bestieg, zu meiner Verwunderung einen sanften, liebreichen Mann in seinen besten Jahren. Er empfing mich als den Freund seines Freundes mit Güte und Achtung. Unsere erste Zusprache inzwischen – ob sie gleich von beiden Teilen nur auf gemeine Höflichkeiten beschränkt war – mißlang jedoch ein wenig; so sehr hat man selbst bei gleichgültigen Gesprächen es für ein Glück zu achten, wenn man in dem Innern des andern keine verborgene Saite berührt, die traurig oder widrig zurücktönt. Seine Worte kehrten mir immer eine Spitze zu, und meine Antworten? Du magst selbst urteilen, wie klug und artig sie ausfielen. Gleich seine Frage, wie mir das Arsenal gefallen, gab mir einen Stich in das Herz. Rot bis über die Ohren, dankte ich ihm bloß für seinen Erlaubnisschein, ohne meiner Unachtsamkeit zu gedenken, die ihn vereitelt hatte. Zu sehr Weltmann, um eine unbeantwortete Frage zu wiederholen, brachte er mich sehr ungesucht auf unsern König zu reden. Mein Lob, in das er herzlich mit einstimmte, wäre auch nicht übel gewesen, wenn ich nur nicht dabei – ich weiß auch nicht, wie mir war – einen Tadel seiner Vorliebe für die Franzosen mit eingewebt hätte; denn dazu war doch hier in der Tat der rechte Ort nicht. Von ihm ging er auf die Annehmlichkeiten Berlins, und zuletzt auf die Energie – wie er es ausdrückte – der deutschen Nation über, ohne nur im mindesten ihren Mangel an andern guten Eigenschaften zu erwähnen. Ich hätte mich gern im Namen aller dazu bekannt, um das Schmeichelhafte, das auch für mich in seinem allgemeinen Urteile lag, ein wenig zu mäßigen; aber ich wußte in diesem Augenblicke vor lauter erregtem Patriotismus nichts an uns auszusetzen, was sich der Mühe verlohnte. – »Ich kenne zwar Ihr Vaterland nur aus einer nichts weniger als empfindsamen Reise, die ich im Siebenjährigen Kriege dahin als Fähndrich tat, und von der ich als Oberster einer Brigade wieder zurückkam.« – »Ew. Exzellenz wohnten also wohl der schrecklichen Schlacht bei Minden bei?« – »Ja,« antwortete er, »ich führte in derselben die Grenadiere von La Tour gegen Ihre Dragoner an . . .«

Bald nachher setzten wir uns zur Tafel. Hier bekam ich meinen Platz neben zwo Damen, von denen mich sogleich die eine in ein Gespräch zu ziehen wußte, das jedem, der hungriger darnach gewesen wäre als ich, vollkommene Sättigung gewähren konnte; denn es gehörte als geistige Nahrung in die Klasse der Schüsseln, die man durch immer neuen Zusatz von Brühen so sehr verlängern kann, als man will. War ihr weiß gemacht, daß ich ein Literator sei, oder glaubte sie es meiner listigen Miene anzusehen; genug, ich hatte noch nicht drei Löffel von der Suppe genossen, als ich schon mit ihren zwei vorzüglichsten Lieblingen des vergangenen und des laufenden gelehrten Jahrhunderts, mit Moliere und Büffon, bekannt war. – »Niemand«, sagte sie von dem ersten, »hat feiner unsre kleinen Blößen an das Licht gezogen, und die Schleichwege zu dem Labyrinthe des weiblichen Herzens deutlicher angegeben, so daß man schwerlich jetzt einen derselben ohne Gefahr einschlagen könnte, von Männeraugen ertappt zu werden.« – Sie blickte mir dabei so herzhaft in die meinen, daß ich sie niederschlug. – »Dadurch«, fuhr sie fort, »ist ein gewisses Zutrauen unter beiden Geschlechtern entstanden, das vieles abkürzt und desto anziehender ist, je steifer es sich auf die Kenntnis gegenseitiger Schwächen gründet.« . . . »Ich dächte, Madam – – –« – »Und der Zweite,« fuhr sie fort, ohne mich anzuhören, »wie hat er sein menschenfreundliches Herz, seine umfassenden Kenntnisse und die Harmonie der Sprache benutzt, um uns in lauter Spaziergängen zu der Quelle der wahren Natur zu führen, zu der wir ehedem höchst langweilige Umwege machen mußten! Sein Grundsatz von der Liebe, der jetzt allgemein angenommen wird, wie viel hat er nicht zur Ersparung unserer kostbarsten Zeit beigetragen!« – »Welcher, um Vergebung?« fiel ich ihr in die Rede. – »Daß in dieser Leidenschaft«, antwortete sie mit einer dogmatischen Miene, die ihr nicht so ganz übel anstand, »nichts gut sei, was nicht – um es kurz zu sagen – gerade zum Ziel führt . . .« »Was, mein Herr,« überströmte mich jetzt der Fluß ihrer Beredsamkeit aufs neue, »was sagen Sie von seinem hinreißenden Stile? Voltaire ist gewiß in seinen Gedichten ein rührender, melodischer Sänger: aber ich gestehe, daß ich in beiden Rücksichten die Prose unsers Büffons den schönsten Versen des Dichters vorziehe. Vergleichen Sie nur die Stelle, wo jener von den Schrecknissen der Natur spricht, mit dem Voltairischen Gedichte über das Erdbeben von Lissabon. Wer von beiden hat hier das Grausen der menschlichen Seele bei solchen Vorfällen am bestem geschildert?« – Indem wurde mir der Flügel einer Poularde mit Trüffeln gebracht. Der Duft davon reizte meine Zunge; aber ich ließ sie unbefriedigt, um nur endlich der ihrigen Ruhe zu erschaffen. Es gelang mir vortrefflich. – »Solche Vergleichungen«, begann ich mit einer klugen Miene, »machen unstreitig ein großes Vergnügen; und derjenige unter den Schriftstellern, wie Madam sehr richtig bemerken, ist gewiß der größere, der es am besten versteht, durch die Magie der Sprache unsere gesunkenen Empfindungen auf ihre erste Höhe zu treiben, und sie uns gleichsam, wie auf Noten gesetzt, zur Wiederholung des Spiels wiederzugeben. Wenn Büffon zum Beispiele denselben Schauer in Ihrem Herzen zu erregen weiß, den Ihnen diese schreckliche Naturbegebenheit zu der Zeit verursachte, da sie vorging, so – – –« – »Welche Naturbegebenheit?« unterbrach sie mich hastig – »Des Erdbebens von Lissabon,« antwortete ich ganz unbefangen; und ohne mir eine Silbe darauf zu erwidern, drehte sie sich nach der andern Seite. – »Ich meinte – – –« rief ich ihr nach; aber sie tat nicht, als ob sie mich hörte, und ich verlor alle Hoffnung, daß sie mir diesen groben chronologischen Irrtum so bald vergeben würde.

Ich war so verblüfft, daß eine Weile verging, ehe ich nur daran dachte, daß ich auch zur linken Hand eine Nachbarin habe. Die gelehrte Vielsprecherin hatte allein Schuld, daß ich nicht einmal wußte, wie sie aussah. Ich erfuhr es nur zu bald. Drei brillantene Astern strahlten mir auf den ersten Blick nach ihr gerade in die Augen, blendeten mich aber lange nicht so, als der junge wallende Busen, den sie verzierten. Wäre ich bei Sinnen gewesen, so würde mich dieser Anblick wenig geirrt haben. Aber, Gott mag wissen, wie es zuging . . . . Genug, ich kehrte betrogener um, als eine Hase vor dem Schützen, und blickte auf den Tisch mit einer Verlegenheit, die in der klugen Wendung, die sie einschlug, um sich zu verstecken, erst dadurch recht ans Licht kam. Spielend mit meinem blanken Messer, bemerkte ich das unselige London –ich wollte, es wäre Konstantinopel gewesen – auf der Klinge, und ohne ein Auge davon zu verwenden, fing ich nun an meine reizende Nachbarin, seitwärts, mit einer ganz neuen Lobrede auf den englischen Stahl zu unterhalten. Noch hatte ich sie nicht zur Hälfte hervorgestottert, so mischte sich ein Malteser-Ritter darein, der auf der andern Seite neben ihr saß. – »Es kann wohl nichts in der Welt«, sagte er, »dem englischen Stahl so sehr zur Ehre gereichen, als der Übergang von einem solchen Bukett, an einem solchen Platze, zu ihm.« – Was denkst du wohl, wie sich unsere gemeinschaftliche Nachbarin dabei benahm? Sie schien sein Epigramm nicht zu hören, und antwortete nur meinen schlichten Bemerkungen. Dafür taten jetzt meine Blicke ihr Möglichstes, um ihre Schüchternheit wieder gut zu machen. Aber es währte nicht lange, so verdarb ich mein Spiel aufs neue. Ich hörte Saint-Sauveurs Stimme, sah mich nach ihm um, fand ihn an der Seite einer jungen Dame, und: »Ach, wer ist denn«, stürzte mir die Frage heraus – »dieser Engel von Mädchen, dies ungeschminkte, edle Gesichtchen zur Rechten des Brigadiers?« – Sie blickte hin, – »die Tochter vom Hause,« antwortete sie gleichgültig und legte mir geschwind überzuckerte Kastanien vor, um mir, glaube ich, das Maul zu stopfen . . .

Eine Stunde nach der Mahlzeit, die fröhlich verplaudert wurde, setzte sich ein Teil der Anwesenden an den Spieltisch; der jüngere Zirkel, dem auch ich mich anschloß, vereinigte sich zu einem Spaziergange nach dem königlichen Garten. Jeder Herr bot einer seiner Nachbarinnen den Arm; da aber die Liebhaberin der Natur die Karten meiner Unterhaltung im Mondscheine vorzog, und der schöne Busen, von dem die Dame, ehe sie ging, die Astern absteckte, dem Malteser-Ritter zuwallte, so würde ich allein mitgeschlendert sein, hätte nicht ein glückliches Ohngefähr mir das große Los verschafft, die Tochter vom Hause zu führen. Indem wir nämlich die Treppe herabstiegen, kam ein Offizier der Marine heraus, und hinter ihm ein Kommando, worunter ich auch den lahmen Gefreiten erblickte. Er zeigte mir im Vorbeigehen das wiedergefundene Einlaßbillett, und ich hätte nicht umhin gekonnt, ihm ein Wort darüber zu sagen, auf die Gefahr zehntausend von ihm anzuhören, hätte mir nicht indem der Brigadier die Hand des schönen Kindes, das er führte, in den Arm gelegt, um dem Seeoffizier, der ihn beiseite winkte, zu folgen. Sie mußten etwas Wichtiges miteinander abzutun haben, denn mein Freund ließ sich den ganzen Abend nicht wieder sehen, und zum ersten Male vermißte ich ihn nicht. Die Gesellschaft, sobald sie in dem weitläuftigen Garten anlangte, verteilte sich in einzelnen Gruppen zu zwei oder mehreren Personen, die sich trennten, sich vertauschten, und wieder zusammentrafen, wie es der augenblicklichen Laune einer jeden gemäß war . . .

Ich habe dir zwar schon vorhin die Vorzüge des Engels an meinem Arme mit einzelnen, dem Lobe geheiligten Worten angedeutet. Aber ich weiß schon, wie es mit solchen Worten geht. So gewählt sie auch sein mögen, gleiten sie doch über das Gehirn, wie die glänzenden Kügelchen des Quecksilbers über eine Glastafel, hinweg. Man muß sie erst auflösen und zu einer Unterlage verarbeiten, wenn man den Strahl, der uns blendet, auch in die Augen eines andern zu spielen gedenkt. Leider hat mein in Asche verwandeltes Tagebuch, an dem in dieser Rücksicht auch nichts verloren ist, bis zu der heutigen Mitternachtsstunde nur Schilderungen aus der weiblichen Welt sammeln können, die, wenn ich das Dosenstück einer gewissen Margot ausnehme, das ich dir wohl gegönnt hätte, nicht wert waren, das Kabinett eines echten Liebhabers des schönen Geschlechts zu verzieren. Es tut mir daher recht wohl, daß ich einmal auf ein Profil gestoßen bin, das selbst neben einer heiligen Familie von Raphael kein unebenes Seitenstück abgeben würde, hätte mir nur das Original lange genug sitzen können, um mehr als einen Schattenriß von ihm zu entwerfen. Diese unvollkommene Darstellung wird indes immer noch unendlich schätzbarer sein, als die ausgemaltesten Stücke meiner vorigen Sammlung. Es war schon ein Zug seltener Gutmütigkeit, daß die junge Schöne ohne Abnahme an Freundlichkeit ihre Hand aus dem Arme eines bekannten Freundes in den meinigen legte; daß sie aber auch nachher, als ihr im Garten die Wahl eines andern Gesellschafters frei stand, sich mit einem Fremden begnügte, der weder über die Tagesgeschichte der Stadt mit ihr schwatzen, noch in der ihm ungewohnten Sprache durch leichte Scherze ihr Ohr reizen konnte, muß ich ihr schon höher anrechnen. Doch, daß sie bei ihren sechzehn Jahren sich die Zeit nahm, ein Herz, das in der Nähe des ihrigen schlug, zu behorchen, daß sie verstand, den verdeckten Wert desselben zu entwickeln, seine flatternden Fäden aufzufangen, mit der zartesten Fühlbarkeit ihren Gehalt zu unterscheiden, und nur die bessern dem Gewebe ihrer schönen Seele anzuknüpfen, das, Eduard, war mir vollends eine so ungewöhnliche Erscheinung, als ich je eine erlebt habe . . .

Wenn ich dir aber nun den Gang der Gespräche, die mich so anzogen, vorzeichnen, aus ihrem gefälligen Inhalte die Schönheit des Herzens, dem sie entflossen, an das Licht stellen will – ja, Freund, da entschlüpft mir die Feder. Solche seine Schattierungen der Rede sind ihr so unerreichbar, als nimmermehr dem Pinsel jenes ätherische Farbenspiel sein kann, das unter unzähligen Abwechselungen dem anbrechenden Morgen voran geht . . . Ihre anfangs muntern Töne gingen, ganz ungleich dem Schlage der Nachtigall, die mit einem Adagio anfängt, mit einem Allegro endigt, nach und nach in immer rührendere Noten, immer schmelzendern Flötenlaut über, und hoben und trieben mein sympathetisches Gefühl bis zum Bedürfnisse der Tränen. Ich wollte ihr von unserm Könige erzählen; ich konnte nicht. Ich versuchte von meinem Vaterlande zu sprechen; aber die Stimme versagte mir. Mir war, als ob ich in der Ferne Klagen der Unschuld, über den dunkelhellen Bergen her den Ruf der Ewigkeit hörte. Die trostarmen Vergessenen auf der Galeere erschienen mir in allem ihrem Jammer, und ich konnte der Aufforderung nicht länger widerstehen, dem Engel, der mir zuhörte, die Seelenleiden meines heutigen Morgens an das Herz zu legen. Wir hatten uns kurz vorher einem Blumenbeete gegenüber gesetzt, wohin sie einem Gärtnermädchen von ihrem Alter, das mit einem Handkörbchen dahin ging, gefolgt war. Sie nickte ihr schon im Vorbeigehen freundlich und bekannt zu, und bestimmte nun durch ihr Gutachten die Auswahl der Blumen, die jene einsammelte. Sobald mein Gespräch aber ihr Mitleiden erreichte, teilte sie nicht weiter ihre Aufmerksamkeit zwischen uns beiden. Sie verließ den Platz, als ob er zu buntfarbig für den Ernst ihrer jetzigen Empfindungen wäre, und führte mich, ohne ein Wort zu sagen, um keins der meinigen zu verlieren, nach einem dunkeln Bogengange, an den eine kleine versteckte Laube stieß. Hier – wo der verschwiegene Mond nur durch die Blätter über dem grünen Rasensitze zitterte, auf den wir uns niederließen – in dieser nächtlichen Stille – allen Augen außer jenem, verborgen, das über uns schwebte – hier, an der Seite einer weichen weiblichen Seele, denke selbst, wie viel meine Erzählung unter diesen Umständen gewinnen mußte. Das liebe Kind beehrte sie mit dem reinsten Beifall, und, »o mein armer Vater!« schluchzte sie am Ende derselben, – welch einer Haushaltung des Kummers bist du vorgesetzt!« – »Und welchen Wundern der Tugend zugleich!« fiel ich ihr ins Wort, und teilte ihr nun auch, durch ihr Mitgefühl noch mehr befeuert, die Trauergeschichte des frommen Kapuziners in Ausdrücken mit, die vielleicht nie über meine Lippen wärmer gegangen sind. Durch Hülfe eines hellen Mondblicks sah ich, wie unter ihren blauen, gen Himmel erhobenen Augen ein stilles Gebet auf ihrem rosigen Munde schwebte. Ich glaubte eine Heilige in ihrer Verklärung zu sehen, und schwieg. Meine Brust war gepreßt. Sie hörte mich seufzen, drückte mir die Hand, und der Strudel hoher Empfindungen schien mich in eine andere Welt zu versetzen.

Indem tönte die Gebetglocke eines nahen Nonnenklosters in unsere Stille herüber. »Ach! ist es schon so spät?« fuhr sie jetzt von der Rasenbank auf, und eilte durch den finstern Bogengang dem bunten Lustbeete zu, von welchem wir hergekommen waren. Ich folgte ihr, doch nur von weitem, nach, wie sie zu erwarten schien, sah, wie sie sich neben das Körbchen setzte, das die junge Gärtnerin indes mit Hyazinthen, Maiblumen und Granatenblüten gefüllt und hingestellt hatte, und sah, als ich näher herbeikam, wie sie mit tränendem Auge eine einzelne, geruchlose, eine Passionsblume, herausnahm, an ihre Brust steckte, die Hand sinken ließ und sich in tiefes Nachdenken verlor. Ich lehnte mich zitternd an einen Orangenbaum in einer mäßigen Entfernung von ihrem Sitze. Drei feierliche Pulse der Klosterglocke weckten sie wie aus dem Schlafe. Sie sah sich erschrocken und noch erschrockner um, bis das Mädchen, das sie erwartete, aus dem Gewächshause gelaufen kam. – »Geschwind, Marie,« rief sie, und trug ihr das Körbchen einige Schritte entgegen, »noch ist die Pfortentür nicht verriegelt, aber – eile.« Indem ward sie meiner gewahr, kam auf mich zu, und da ihr meine großen Augen nur zu deutlich verrieten, was in mir vorging, war dies dem lieben Kinde schon hinreichend, meine Neugier zu befriedigen.

»Meine Unruhe über das Körbchen ist Ihnen gewiß aufgefallen. – Es ist ein festgesetzter Tribut, den ich einer Freundin im Kloster übersende, so oft ich diesen Garten besuche. Sie ging hier gern und öfters mit mir spazieren, liebte das erste Grün des Frühlings, liebte die Blumen so sehr, und kann jetzt hinter den hohen Mauern nicht einmal mit einem Blicke das geringste Gräschen erreichen. Über Ihre bewegliche Geschichte, mein Herr, hätte ich mich beinahe mit meinem Geschenke verspätet – ich würde mir's nicht verziehen haben. Ich kann mir die Freude der guten Agathe so lebhaft denken, wenn sie aus dem Betstuhle in ihre Zelle zurückkommt und meine Blumen findet, die ihr die Versicherung geben, daß ich in dem Garten bin, mich nach ihr sehne, und ihr so lange in der Nähe bleibe, bis sich keine Glocke mehr hören läßt. Das habe ich dem guten Kinde bei unsrer letzten Umarmung versprochen. In drei Wochen geht ihr Probejahr zu Ende – oh, wie zittre ich für sie! Denn ach! mein Herr, sie wählt das Kloster – ein schreckliches Unglück, wen es trifft! – nicht aus Neigung, sondern aus Not, weil sie keine Verwandte, kein Vermögen und in der weiten Welt nur an mir eine Freundin hat, die ihr nicht helfen kann! Bald muß sie dem Andenken auch dieser feierlich entsagen; Gott wolle ihr beistehen, daß sie es willig tue!« – Ein Tautropfen, der unter diesen Klagen der Freundschaft aus den Augen der schönen Beterin in den Kelch der Trauerblume an ihrem Busen herabfiel, erschütterte wie ein elektrischer Schlag meine Nerven. – »Ach! wenn meine Erzählung«, konnte ich kaum in abgebrochenen Worten herausbringen, »Ihr edles, teilnehmendes Herz gerührt hat, oh, wie haben Sie mir es vergolten.« – Wir wußten beide vor Wehmut nicht wieder zur Sprache zu kommen, bis das dumpfe Geläute gänzlich verhallt war. Da erst kehrte ihre Fassung zurück; aber die meine blieb aus. – »Ich habe Sie, mein Herr«, fing sie gelassener an, »bis in die Nacht aufgehalten, ohne daran zu denken, wie unbekannt mit meinem Kummer und wie fremd Sie mir sind. Aber eben darum waren Sie mir in diesen Feierstunden meiner Betrübnis kein überlästiger Zeuge. Lassen Sie uns jetzt gehen, mein Herr. Die Gesellschaft ist längst auseinander. Am Ende des Gartens erwartet mich, wie allemal, meine Gouvernante.« – In stiller, andächtiger Ehrfurcht folgte ich nun diesem wundervollen Geschöpfe, das unter der Hülle hoher weiblicher Schönheit einen Geist besitzt, der mir so überirdisch vorkam, als müsse er schon vor ihrer Geburt in den Reihen der Seligen geglänzt haben. Halte dies nicht für eine schwülstige Phrase, Eduard; denn wahrlich, ich wüßte dir die Empfindungen meiner Seele nicht natürlicher und verständlicher auszudrücken.

Im Fortgehen kam uns in der Allee die ältliche Dame entgegen, die weniger das Ansehen hatte, Aufseherin des Fräuleins, als ihre ältere Freundin zu sein. Sie empfing ihre holde Vertraute, die mir die letzten Stunden des nun entflohenen Tages zu der unvergeßlichsten Epoche meines Lebens erhoben hat, sie empfing sie mit schweigender, aber darum nicht weniger herzlichen Umarmung, in der gewiß schon alles lag, was zu ihrem gegenseitigen Verständnisse gehörte und keiner Worte bedurfte. Nur mir hatte sie etwas zu sagen – aber was? Der Brigadier sei auf einen Augenblick dagewesen und habe ihr, weil er nicht Zeit gehabt, mich aufzusuchen, das Schnupftuch zugestellt, das mir diesen Morgen entkommen wäre. – – Wenn du dir einen Mann vorstellst, der unter bänglichem Gefühle des Lebens sich über den Erdball erhebt, seine Blicke in die Tiefen der Ewigkeit senkt, und an Gott und Unsterblichkeit sauget, und dem in diesen Augenblicken ein Weib in das Ohr schreit: Mein Herr, Sie haben ein Loch in dem Strumpfe – so kannst du ungefähr erraten, wie mir in der kostbaren Minute meiner vielleicht ewigen Trennung von dem erhabenen Kinde eine so gleichgültige Nachricht und der Anblick meines einfältigen, längst vergessenen Schnupftuchs gefallen mußte. Ich steckte es mit weit mehr Ärgernis ein, als ich bei seinem Verlust hatte, machte der jüngern Dame im Geist und in der Wahrheit, der ältern hingegen bloß nach dem gewöhnlichen Schnitte, meine Verbeugung, und ging nun, die Arme ineinander geschlagen, langsamen Schrittes meine Straße.

Das wilde Lärmen, in welchem ich den goldenen Anker wiederfand, war mir nach meiner jetzigen Stimmung äußerst zuwider. Den Schlaf zwar konnte es mir nicht rauben – der floh meine Augenlider ohnehin – aber es mußte mich doch, wenn es anhielt, nicht wenig in dem ruhigen Überblicke meines verlebten Tages, und, worauf ich mich besonders freute, in der Wiederholung der vielen süßen Empfindungen stören, die aus der Geistesüberströmung meiner vortrefflichen Gesellschafterin habsüchtig nur zusammengetragen, und gleichsam in Masse und mit der Hoffnung nach Hause gebracht hatte, sie mit aller Muße zu ordnen und zu zergliedern. Der Wirt, als er mir vorleuchtete, gab mir, als Ursache des Nachtgetümmels in seinem Gasthofe, die Hinrichtung eines Delinquenten an. – »Bei solchen Gelegenheiten,« setzte er hinzu, »gewinnt unsereins am meisten; denn kein Schauspiel macht und erhält das Volk munterer und durstiger als dieses«. – »Der rohe Mensch ohne Kultur«, warf ich zur Antwort hin, »gibt viele dergleichen Rätsel zu lösen.« – »Tun Sie dem kultivierten Menschen nicht Unrecht,« verhöhnte mich der Wirt; »einer ist wohl so unerklärbar als der andere: doch mein Beruf ist es heute nicht zu philosophieren, sondern meinen Zechgästen Wein aufzutragen.« – Er wollte nun gehen; ich vertrat ihm die Tür. – »Nur noch ein Wort, lieber Mann! Können Sie mir wohl Bescheid geben – – –« »O ja,« unterbrach er mich, »vollkommen.« – »Wissen Sie doch noch nicht, worüber,« fuhr ich ihn an. – »Vermutlich doch,« versetzte er, »über den Tod des Gehenkten; denn heute wird nur davon gesprochen.« »Nichts weniger,« gab ich zur Antwort; »was geht mich der Gehenkte an! Die Rede ist von der liebenswürdigen Tochter des Herrn Intendanten, deren Bekanntschaft ich heute gemacht habe.« – »Läuft ziemlich auf eins hinaus,« kauderwelschte der betrunkene Kerl. »Nächster Tage wird Fräulein Klärchen« – der Name gab mir einen Stich durchs Herz – »auch nicht viel besser als exekutiert sein.« – »Herr!« polterte ich ihn an, »Sie sind nicht gescheut, oder haben mich nicht verstanden. Um mich kurz zu fassen, wollte ich nur fragen, ob Fräulein Klärchen das einzige Kind des Herrn von Saintaignan sei?« – »Seine einzige Tochter ist sie,« – antwortete er mir jetzt besonnener. »Doch vergeben Sie, ich will nur einen Blick auf meine Wirtschaft werfen, und bin sogleich wieder zu Ihren Diensten.« Mit dieser Versicherung flog er vor einer Stunde zur Stube hinaus, ohne sich weiter um mich zu bekümmern. –

*

Ach, mein Eduard! bis hierher hatte ich geschrieben, und da ich dir nichts mehr zu erzählen hatte, war ich eben im Begriffe zu Bette zu gehen, als der Wirt sachte die Türe öffnete, und, da er mich noch aufsah, hereintrat. – »Endlich,« hustete er mir entgegen, »ist es ruhig in meinem Hause. Mein Tagewerk ist vollbracht, bis auf die Erklärung, die ich Ihnen von meiner vorigen Rede noch schuldig blieb. Sie erkundigten sich nach Fräulein Klärchen. Das schöne Mädchen scheint Eindruck auf Sie gemacht zu haben. Sie sind nicht der erste Fremde, dem das widerfährt. Exekutiert – sagte ich? Nun, das war nur scherzweise. Ich würde von der ganzen Sache nichts wissen: aber die Dame, die Sie bei ihr werden gesehn haben, und ihre Gouvernante von Jugend auf, ist meiner Frauen Schwester; durch sie erfahren wir alles. Nächster Tage, sagte ich? Hören Sie nun, wie ich's meine. Künftigen Sonntag, wird sein der vierundzwanzigste, feiert Fräulein Klärchen ihren sechzehnten Geburtstag; aber wie? Sie setzt sich ganz früh mit meiner Schwägerin in einen zugemachten Wagen, in Begleitung eines Geistlichen, schneeweiß gekleidet, wie ein armer Sünder, steigt nicht weit von Marseille bei den Urselinerinnen aus, läßt sich ihr langes Haar abschneiden, tritt ihr Probejahr an und wird in einer Zelle begraben. Der Zirkel ihrer Freunde und Bekannten mit aller seiner Kultur trinkt dann, so gut als heute meine Gäste, ein Glas mehr als gewöhnlich. Sieht das nicht ganz wie eine Exekution aus, mein Herr?« – »Um Gottes willen,« brach ich jetzt los, »um Jesus Barmherzigkeit willen, Herr Wirt, besinnen Sie sich. Ich spreche von Fräulein von Saintaignan – von der Tochter des hiesigen Herrn Intendanten.« – »Und spreche ich denn von einer andern?« erwiderte er. – »Dieses herrliche Geschöpf, sagen Sie, würde Nonne?« – »Ganz gewiß, mein Herr! Wundert Sie das?« – »Aber, bester Mann,« trat ich ihm jetzt mit gefalteten Händen näher, »wäre es denn möglich, daß ein so verständiger Vater seine einzige Tochter, einen solchen Engel –« – »Vermutlich damit sie es bleiben soll,« fiel mir der Wirt in die Rede, »bestimmte sie – nicht ihr Herr Vater – zum Kloster – da tun Sie ihm Unrecht – sondern die Mutter tat es vor zehn Jahren auf ihrem Sterbebette.« – »Aber was, ich beschwöre Sie, was brachte denn diese aberwitzige Frau auf diesen barbarischen Einfall?« – »Ich will nicht mit Ihnen um Worte streiten,« antwortete der Wirt; »aber wer kann das genau wissen? Was ich darüber habe schwatzen hören, will ich Ihnen mitteilen. Der Beichtvater, erzählen einige, habe es der Sterbenden zur Bedingung ihrer Seligkeit gemacht. Dawider wäre nichts einzuwenden. Es ist die Schuldigkeit dieser Herren; aber ich glaube es nicht einmal. Meine Schwägerin auch nicht. Diese war bei der seligen Marquise bis zu ihrem Verscheiden und hatte Fräulein Klärchen auf dem Schoße. Auf der andern Seite vor dem Bette kniete der Sohn, der um zehn Jahre älter als die Tochter, natürlich der Mutter auch zehnmal lieber war. Und in diesen bangen Minuten, wie sich meine Schwägerin ausdrückt, wurde das Schicksal der beiden Kinder für die Zukunft entschieden. Die Dame machte, was diesen Punkt betrifft, den Dominikaner, der sie einsegnete, durch eine förmliche Urkunde zum Exekutor – da haben Sie's ja, – ihres letzten Willens, dessen Vollstreckung, wie gesagt, nächsten Sonntag seinen Anfang nimmt, und in Jahresfrist der Schwester den Schleier, dem Bruder die ganze mütterliche Erbschaft zuspricht. Er wird dadurch einer der reichsten Herren im Lande, und er verdient es. Ein wohlgebildeter braver Offizier, dem das Herz auf dem rechten Flecke sitzt.« – »Wenn Sie wahr sprächen, Herr Wirt,« schluchzte ich, »würde er die Erbschaft nicht annehmen.« – »Er sollte sie nicht annehmen?« schrie der Kerl, »sollte die schönen Güter in der Normandie, sollte die Plantagen in Sankt Domingo nicht annehmen? Ist denn der letzte Wille einer Mutter nicht unumstößlich? Wird denn das Fräulein nicht zeitlebens gut aufgehoben? und war ihr denn die Wahl des Klosters nicht freigestellt?« –

»Der letzte Unsinn einer schwachköpfigen, sterbenden Schwärmerin,« beantwortete ich mit Bitterkeit seine gehäuften dummen Fragen, »die niemanden darüber zu Rate zieht als einen Dominikaner, kann weder Kraft bei ihren Erben, noch Gültigkeit vor Gerichte haben.« – »Um Vergebung,« wendete der Wirt dagegen ein, »Frau von Saintaignan war nichts weniger als eine schwachköpfige, war vielmehr eine sehr kluge, rechtschaffene und empfindsame Dame, und das Vermögen, über das sie Verfügung traf, kam von ihr her. Ich sehe auch bei Gott nichts Unkluges und nicht halb so viel Unbilliges in so einem Testamente, als bei einem Majorate; denn jenes erhält die Familie nicht allein auf Erden, sondern auch im Himmel bei Ansehn.« – »Gehen Sie, Herr Wirt,« unterbrach ich ihn, »Sie haben vorhin sehr richtig über Ihren Beruf geurteilt: Philosophie liegt wirklich ganz außer Ihrer Sphäre. Gehen Sie und schaffen Sie mir ein Glas Limonade.« – Er ging; doch ehe ich mich noch im geringsten von meinem Schrecken erholt hatte, stand er mit seiner Bouteille und seinem Geschwätze wieder vor mir. – »Da Sie doch,« sagte er, indem er mir einschenkte, »eine Flasche Limonade nötig haben, um über das Schicksal Fräulein Klärchens Ihr Blut zu beruhigen, wie viel werden Sie nicht brauchen, wenn Sie erst die Geschichte des Bruders erfahren!« – »Ich mag sie gar nicht wissen, Herr Wirt. Was so eine Seele angeht, ist mir ganz gleichgültig.« – »Das wird es Ihnen nicht bleiben; lassen Sie mich nur erst erzählen. Daß Fräulein von Saintaignan den Schleier annimmt, gereicht keinem Menschen zum Nachteile, so wenig als ihr selbst. Ihr Herz ist noch nicht vergeben, und das Kloster befreit sie von allen Nachstellungen. Wenn einem Manne aber, wie dem jungen Marquis, des Heilands wegen eine Braut untreu wird, so ist dies wohl ein seltneres Unglück, und unserm jungen Herrn muß es noch viel schmerzhafter fallen, weil sein Schwesterchen vielleicht noch mehr Anteil daran hat als der Heiland.« – Jetzt erst schenkte ich seiner Erzählung meine ganze Aufmerksamkeit. – »Die junge schöne Prinzessin von Montbasson«, fuhr er fort, »wurde hier unter der Aufsicht meiner Schwägerin mit Fräulein Klärchen zugleich erzogen. Erstere war von jeher dem Bruder bestimmt; dem ungeachtet gewannen die beiden jungen Leute einander lieb, die Zeit verging, der Tag ihrer Vermählung war schon festgesetzt, und der Bräutigam wurde nächstens von der Armee erwartet. Dieser Zwischenraum, so kurz er war, warf alles über den Haufen. Die Freundschaft zur Schwester stritt schon lange in dem Herzen der Prinzessin mit der Liebe zum Bruder, und, was wohl noch nie erhört ist, sie siegte. Die schöne Verlobte entschloß sich kurz, schrieb ihrem Bräutigam einen betränten Abschiedsbrief, flüchtete, ehe sich meine Schwägerin dessen versah, in das Kloster, das ihre Gespielin gewählt hat, und erwartet dort nun schon seit acht Wochen die baldige Wiedervereinigung mit ihr auf Leben und Tod. Dergleichen heldenmütige Entschließungen, mein Herr, dergleichen Freundschaft, Treue und Hingebung ist nur in unserer Religion möglich. Wenn auch sonst nichts ihre Göttlichkeit bewiese, solche Beispiele würden es allein tun. Der junge Herr, sagt man, soll untröstlich sein. Das ist begreiflich. Man wird freilich eine Schwester gelassener einkleiden sehen, von der man erbt, als eine geliebte Braut, die alles mitnimmt und dem Himmel aufhebt, was wir schon als uns zugehörig betrachteten, und das unserer Phantasie von unersetzlichem Werte scheint.« – »Wer hart genug ist,« antwortete ich, »eine solche Schwester dem Moloch – der Mönchswut zu opfern, verdient statt der Schmeichelei eines liebenden Auges die Umarmungen der Furien. Gott tröste und segne nur die beiden trefflichen Mädchen – was kümmert mich der unnatürliche Bruder!«

Der Wirt schlich während meines heftigen Ausfalls gähnend davon. Ich schlüpfte in meine Kammer – aber woher sollte mir der Schlaf kommen? – stürzte wieder heraus, setzte mich an meinen Schreibtisch, und sitze noch da, fluche der geistlichen Verräterei an der Menschheit und zanke zur Abwechslung mit dem Schicksale. Ich kann mich nicht trösten über den Verlust, den Welt, Tugend und Freude durch die Mordtat an diesem unvergleichlichen Mädchen erleidet. Jetzt erst begreife ich ihre Erschütterung, als die Klosterglocken zum nächtlichen Gebete läuteten; jetzt erst fühle ich das ganze Gewicht der stillen Träne, die ihr über die Wange in den Kelch der Passionsblume rollte; erst jetzt wird es mir klar, warum ihre Bewunderung des ausduldenden Kapuziners sich in Beben und Gebet verlor, warum ihr Auge so gerührt über den Blumen hing, die sie ihrer eingekerkerten Agathe darbrachte, und ich verstehe die Wehklage über ihr Unvermögen der verwaisten Armen zu helfen . . .

*

O du, deren melodisch-tönende Trauerstimme mir das Herz jetzt schneidend durchdringt, wohl hattest du recht: ich entdecke mit Stolz den Sinn deiner Rede, daß ich zwar unbekannt mit deinem Kummer, doch des Mitgenusses deiner Schwermut nicht ganz unwürdig sei. Hält mich auch der Nachschwung in die lichtvolle Höhe der Unsterblichkeit, aus der du, gleich einem Engel, auf diesen Totenhügel herabschimmerst, immer noch fern von dir, so gibt mir doch schon der mindeste Nebenstrahl deines heutigen Abglanzes alle Ehre und Würde wieder, die ich in der niederen Sphäre des Leichtsinns und der Wollust verlor. – Dich, die jeden Kreis erheitert, jeden geselligen Trieb veredelt, konnte ein Vater, der Lebensgenuß, Freuden und Feste liebt, zu der Einsamkeit eines Klosters verdammen? – eines Klosters? wo deine von ihm entsprossene und sorgsam gepflegte Jugendblüte, bei den höchsten Ansprüchen auf Gefallen und Liebe, wo deine sanften Herzens-Erwartungen und jene geheimen Ahndungen mütterlichen Entzückens – einem Götzenbilde zum unnützen Weihrauch dienen, und die Keime zu den reichsten Ernten menschlichen Glücks in dem Darrofen einer Zelle dumpf werden und vertrocknen sollen? – Unglückliches Kind! Entferne dich, wie die Tugend vom Laster, von deinem abscheulichen Bruder, der die Stirn hat, das Verbrechen seiner Erbschaft mit dem letzten Willen einer in Wahnsinn sterbenden Mutter zu beschönigen. Entferne dich, noch ist es Zeit, von den arglistigen Lockungen der frömmelnden Sirenen, die dich in den Strudel ihrer Langenweile zu ziehen drohen. Erhalte deine holde Munterkeit der freien, mit dir verwebten Natur – fern von dem heiligen Schneckengang eines ungebrauchten, strafbaren Lebens. Und entflöhest du als Bettlerin dem undankbaren Lande, dessen Zierde du bist, so würdest du doch die Sonne auf- und untergehen, den Wald grünen, die Saatfelder wogen sehen, würdest die Lerchen singen, den Bach rieseln hören, und in dem großen Tempel Gottes eine redliche, freiwillige Dienerin seiner ausspendenden Liebe sein. –

Dreimal habe ich die niedergelegte Feder wieder erhoben und meine Herzensangst durch das Adagio der Elegie zu besänftigen versucht; aber das Vorgefühl der unnennbaren Leiden, denen das unbefangene Kind, zur Feier seines Geburtstages, träumend entgegengeht, foltert mich zu sehr, um meinen Schmerz täuschen zu können. – Muß sie denn hin, die arme Verlockte, wo schon so viele lebendig begraben wurden, die ihr an Schönheit, Tugend und Frohsinn gleich waren; nun, so stärke sie Gott bei dem Erwachen ihres Bewußtseins! Er lasse sie vollen Ersatz in der Freundschaftsquelle der Unnachahmlichen finden, die dem ehelichen und mütterlichen Berufe freiwillig entsagt, um jeden Kelch mit ihrer Jugendgespielin zu trinken, und auf denselben Stufen, gleichen Schritts mit ihr, in die Region der Auserwählten zu steigen! Möge der Gedanke untrennbarer Vereinigung euch immer als ein lachender Genius zur Seite stehen und durch dieses kurze Leben begleiten; ihr göttlich verschwisterten Seelen! – Zwo Blumen – so denk' ich mir euch – zwo herrliche Blumen im Tale, umringt von unübersteiglichen Felsen, die, der Kenntnis der Menschen und ihrer Neugier ewig verborgen, ihr blühendes Dasein in dem leeren Luftraume verdunsten – aber, ein Engel des Himmels hat sie unter seiner Obhut, sonnet, pflegt und schmückt sie, und findet Wohlgefallen an ihrer Eintracht und Schönheit. – Wer kann sagen, daß sie Unrecht leiden? Wer kennt den Umfang ihrer Bestimmung? – An dieses tröstende Bild will ich mich halten und mein Hauptküssen damit polstern, und so oft ich murrend – – –

*

Gott! was ist mir begegnet! Es lag, Eduard – während der drei Stunden, die ich dir vorjammerte, lag eine der schauderhaftesten Nachrichten auf meinem Pulte. Ich entdeckte sie, da ich mir eine Träne abtrocknen wollte, die mir meine Trauer um das schöne, edle, duldende Kind entriß. Indem ich mein Schnupftuch entwickelte, fiel ein Brief heraus. Hier lies seinen Inhalt.

»So sehr ich auch für Überraschungen bin, lieber Wilhelm, so hätte ich derjenigen doch gern entbehrt, die du mir heute zu sehr ungelegener Zeit verschafft hast.« –

Was zum Henker, dachte ich bei mir selbst und legte meine flache Hand auf das Blatt, will der Marquis mit diesem spitzigen Eingange? Ich konnte es nicht erraten und las fort. –

»Ich würde mich über meinen verlornen Spaziergang kaum getröstet haben – das Glück, das dir ward, gehörte mir, du führtest Klärchen, und ich inzwischen mußte deine tollen Geschäfte bei ihrem Vater vertreten – wäre mir nicht zu einiger Entschädigung der Spaß geblieben, dich am Ende mit den Folgen deiner angenehmen Zerstreuung, die alle deine Schritte durch die Welt begleitet, selbst stärker noch zu überraschen als du mich.« –

Zur Sache; lieber Marquis, rief ich voller Ungeduld. Ach, ich erfuhr sie nur zu geschwind!

»Dein verlornes Schnupftuch und dein unbenutztes Einlaßbillett haben sich wieder gefunden. Ich soll dir das erstere im Namen des Königs überliefern. In Ansehung des andern wird dich das darüber gehaltene Protokoll verständigen, das ich von dem Herrn Intendanten Erlaubnis habe, dir im Auszuge mitzuteilen:

Nachdem der angeblich aus Chursachsen gebürtige Ehrlieb Fürchtegott Freiherr von . . ., der seit drei Jahren wiederholter Betrügereien halber, sonderlich in verbotenen Spielen, auf die königlichen Galeeren allhier gebracht worden, heute dato sich des Verbrechens schuldig gemacht, und eingestanden hat, daß er diesen Morgen die Unachtsamkeit eines andern hier durchreisenden Deutschen, der die Galeeren besah, benutzt, und mit derselben Hand, die er nach einem Almosen jenem entgegen streckte, nicht nur dessen Taschentuch, sondern auch einen Erlaubnisschein zur Besichtigung des königlichen Arsenals, diebischerweise entwendet, und beides eine Stunde nachher einem englischen Herumstreicher für sechs Livres verkauft habe; nachdem ferner nur gedachter, aus Glocester gebürtiger Vagabund sich in anständige Kleidung arglistig versteckt, und unter dem angemaßten, auf dem Einlaßschein ausgedruckten Namen des rechtmäßigen Eigentümers sich Zugang in das Arsenal zu verschaffen kühnlich versucht, und nicht vermocht hat, seine dabei hegende verräterische Absicht zu leugnen, solche vielmehr durch sein wörtlich folgendes Geständnis außer allem Zweifel gesetzt ist usw. – als haben die königlichen Admiralitäts-Gerichte allhier für Recht erkannt, und sprechen demnach für Recht: daß beide genannte, ihrer Beschuldung überführte Gaudiebe, und zwar der englische Matrose, nachdem ihm der Name, den er sich fälschlich zugeeignet, abgenommen, und sein eigner ehrenverlustiger an die Stelle gesetzt worden, auf das im Hafen vor Anker liegende, noch uneingeweihete neue Kriegsschiff Vengeance gebracht, dem zur Vollstreckung des Urteils bereits angewiesenen Offizier daselbst überliefert, und vor Untergang der Sonne an den Mastbaum aufgeknüpft und gehenkt werden, bis der Tod erfolge. v. R. w.«

*

Bei den letzten Worten – unheimlicher ist mir in meinem Leben nicht zumute gewesen – entfiel der Brief meinen zitternden Händen, das Atemholen, das mir während des Fortlesens schon schwer genug ankam, schien jetzt ganz auszubleiben. Für alles in der Welt hätte ich nicht gewagt mich umzusehen; denn mir war immer, als ständen von den beiden Gehenkten der Freiherr auf der einen, der Matrose auf der andern Seite meines Lehnstuhls, um mich über ihre Hinrichtung zur Verantwortung zu ziehen. Nebenbei fuhr mir auch der krasse Gedanke durch den Kopf, daß, wenn ich nicht dem lahmen Gefreiten zu gut bekannt gewesen, und es dem englischen Spion gelungen wäre, meine Einlaßkarte zu seiner gottlosen Verräterei zu benutzen, wie leicht mein ehrlicher Name statt seiner den Galgen geziert und mich dem gerechten Hasse der vortrefflichen Nation bloßgestellt haben würde, die mir nichts als Liebes und Gutes erzeigt hat. In diesen scheuen Augenblicken sprudelte mein abgebranntes Licht, verlosch, und alle Schrecknisse der Nacht stürzten über mich zusammen. Mein brausender Kopf – was ist doch der Mensch für eine armselige Maschine! – drückte sich, wie im Vorgefühl der Erdrosselung, zwischen die Achseln, Galle überlief meine Zunge, und ein häßlicher Krampf sträubte mein Haar. So verschwitzte und verhorchte ich eine lange peinliche Stunde in einer Todesangst, die von den Gehenkten auf mich vererbt schien. Endlich – es war die heftigste Erschütterung meiner gespannten Nerven, aber auch die letzte – hörte ich von weitem ein Posthorn schmettern und einen Wagen vor das Haus fahren. Der Postillion – ich hätte ihm billig für den blinden Passagier ein Trinkgeld bezahlen sollen – brachte mir meine entlaufene Vernunft zurück. Ermannt sprang ich von meinem heißen Lehnstuhle auf, hob die Vorhänge und öffnete das Fenster. Mein Grausen verflog. Ich sah lebende Menschen, und den Anbruch des Morgens schon hell genug, meinen furchtbaren Brief weiter zu lesen. Schamrot und lächelnd hob ich ihn vom Boden auf, las herzhaft die Mordgeschichte noch einmal samt der Nachschrift, die ich dir noch abschreiben will.

»Damit du nun auch hörst,« fährt Saint-Sauveur fort, »wie erbaulich sich dein Landsmann bei seinem Übergang in die andere Welt betrug, so lege ich dir einen Auszug der Anzeige des Offiziers bei, der die Exekution kommandiert hat.« – – »Und als nun beide Verurteilte auf dem Verdeck zusammentrafen, weigerte sich jeder die Leiter zuerst zu besteigen. Da sich die Sonne schon stark neigte, befahl ich, um keinem Unrecht zu tun, den Streit durch Würfel zu entscheiden, deren auch sogleich drei gebracht wurden. Zur Kenntnis des menschlichen Herzens, wenn es bis auf einen gewissen Grad verdorben ist, verdient angemerkt zu werden, daß die Freude des Deutschen bei Erblickung derselben unmäßig war. Als er sie von dem Engländer, der zuerst warf, übernahm, küßte er sie, rieb sie warm zwischen den Händen, und: ›Es geht doch nichts über ein Hasardspiel!‹ sagte er, warf, und verlor durch einen Punkt weniger den ausgesetzten Preis. Unwillig, doch entschlossen, machte er sich nun auf den Weg. Indem ihm der Strick um den Hals gelegt wurde, sagte er zum Nachrichter: ›Ich bin aus der Übung gekommen. In den Bädern, besonders in Ronneburg, verstand ich's besser. Hätte ich den Satz Würfel gehabt, die mir der dortige Kammerpräsident abnehmen ließ, der Engländer sollte, bei meiner Kavaliers-Parole, eher gebammelt haben als ich. Noch ein Wort, lieber Freund, mache Er seine Sache gut: ich kann Ihn belohnen; denn ich habe die drei Würfel in dem Rumor heimlich eingesteckt; die gehören nun Sein. Sie können Ihm etwas eintragen, ich will Ihm sagen wie: Schreibe Er unter meiner Adresse nach Leipzig, so kommt der Brief sicher an meinen nächsten Blutsfreund. Diesem biete Er sie an. Er macht gewiß einen guten Handel; denn die Würfel eines Gehenkten sind schon etwas wert. Sie sollen nie fehlen, sagt man. Schade, daß ich nicht selbst versuchen kann, was daran ist! Eile Er aber, damit der Kauf noch vor der Michaelis-Messe – – –‹ Hier stieß ihn der Nachrichter von der Leiter.«

»Aus dem, was du gelesen hast, darf ich wohl voraussetzen, daß dir morgen das schmalste Mittagsbrot anderwärts schmackhafter dünken wird, als das prächtigste Fest unter dem Mastbaume der Vengeance. Die angenommene Einladung ist leicht wieder abgesagt. Laß uns also, was wohl das klügste ist, mit dem Tage von hier aufbrechen, damit wir noch vor Untergang der Sonne, die du heute deinem Landsmann hast auslöschen helfen, unser schuld- und straffreies Tal erreichen. Dort wird es dir hoffentlich eher behagen, die reichhaltige Geschichte des verlaufenen Tags in eigene stille Betrachtung zu ziehen, als umringt von Fragen und Zuhörern. – Wo wolltest du Zeit hernehmen, die Neugier aller zu befriedigen, in deren Mäuler du geraten bist? Auf den Malteser-Ritter allein müßtest du eine gute Stunde rechnen. Er ist zu sehr Genealogist, um nicht bei Gelegenheit des Mastbaums – den Stammbaum des gehenkten Edelmanns bis auf den nun ausgegangenen Zweig zu beleuchten, Ahnenprobe mit ihm anzustellen, und dabei zu bedauern, daß eine solche Stiftsfähigkeit, für die mancher ehrliche Bürger gern Haus und Hof hingeben würde, wenn er sie dadurch erlangen könnte, so schändlich verloren gegangen sei. Hast du nun für dergleichen genealogische Ergetzungen keinen Sinn, trauest du dir nicht Festigkeit genug zu, den Bemerkungen deiner moralischen Tischnachbarin, dem vielsagenden höflichen Stillschweigen des Intendanten, den Sticheleien deines lahmen Begleiters, mit einem Worte, allen den Folgen von Heute, gesetzten Schritts morgen entgegen zu treten; so halte dich gegen fünf Uhr früh, wo ich bei dir vorfahren werdet zur Abreise gefaßt.

Saint-Sauveur.«

*

Das trifft ganz vortrefflich zusammen! Eben schlägt es. Ich bin völlig, noch von gestern her, gekleidet, und höre, wenn ich mich nicht irre, den Wagen des Marquis über die Gasse herrollen. – Richtig, er ist's.

den 21. Februar.


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