Moritz August von Thümmel
Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich
Moritz August von Thümmel

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Das erste Hülfsmittel, nach dem ich griff, war die Klingelschnur. Bastian, dachte ich, soll dir die überlästige Einsamkeit verscheuchen und deiner ärgerlichen Unterredung mit dir selbst durch die Dazwischenkunft seines muntern Geschwätzes ein Ende machen. »Wie steht es, Freund,« rief ich ihm entgegen, als er hereintrat: »weißt du mir nichts von meinen Hausgenossen zu erzählen?«

»Oh, sehr viel,« antwortete er mir mit einer selbstgefälligen Miene: »ich habe in Ihrer Abwesenheit das Glück gehabt, sie beide zu sprechen. Die Alte, mein Herr, hat einen Anschlag auf Sie!«

»Auf mich?« fuhr ich auf: »das verzeihe ihr Gott!« –

»Ja, mein Herr,« erwiderte Bastian: »aber er ist nicht böse gemeint, und ich wünschte selbst – – – doch lassen Sie sich nur erst den ganzen Vorfall erzählen. Ist es Ihnen nicht schon aufgefallen, wie ich Ihre Entfernung genützt, wie ich Ihre Zimmer gekehrt und Ihre Möbel gesäubert habe? Nun war ich eben daran, der Figur unterm Spiegel den Staub abzublasen, als die Damen aus der Kirche zuzückkamen, und mich in dieser Beschäftigung auf dem Vorsaale antrafen. Die alte Tante trat zuerst zu mir. – Nehme er sich in acht, mein Freund, sagte sie mir, daß er ja über dem Putzen dem schlafenden Engel nicht schade! – Und, mein guter Freund, sagte die Nichte, die auch herzutrat: Sein Blasen wird ihm wenig helfen – der Staub sitzt zu fest. – Warte er! ich hole ihm etwas Baumwolle, damit wird es eher gehen. – Sie trippelte in ihr Zimmer, kam bald zurück; da sie mich aber mit ihrer Tante im Gespräche sah, nahm sie mir die Figur ab – und es währte keine zehn Minuten, so ward der Engel unter ihren Händen wieder wie neu.«

»Wie?« unterbrach ich den weitläufigen Burschen: »Klärchen hat ihn mit eigenen Händen geputzt? Da muß ich doch – – –«

Ich sehe es nun zum voraus, Eduard, es wird Dir sehr geringfügig vorkommen, wenn ich Dir jetzt erzähle, wie ich bei diesen Worten aufsprang und mich bedächtig und langsam über den schlafenden Amor bog, um zu sehen, wie glänzend er aus Klärchens Händen gekommen sei. Du hast aber Unrecht! Nichts ist dem Beobachter geringfügig, wenn es darauf ankommt, Charaktere zu schildern. Die unmerklichsten Züge, die der große Haufe übersieht, können dem Seelenmaler von Bedeutung werden und durch eine glückliche Übertragung auf die Leinewand seinem Gemälde vielleicht alle die Physiognomie geben, nach der gemeine Pinsler vergebens herumstören. Rubens hatte ein lachendes Kind gemalt. – Er tat einen einzigen Pinselstrich – und siehe! es weinte zum Erstaunen der Umstehenden.

Gesetzt also, daß mein Hinblick auf den gereinigten Amor mir zu einer Bemerkung verholfen hätte, die der Aufbehaltung wert sei, die es verdiente, einst ihren Platz in Klärchens Legende zu finden; würdest du nicht gezwungen sein, das Auge zu bewundern, das nie vergebens auf seine Entdeckungen ausgeht – dem Scharfsinne des Mannes zu huldigen, der auch in Sonnenstäubchen Farben bemerkt, die sich zu seinen psychologischen Schattierungen benutzen lassen; und würde dir nicht die Sicherheit seiner Hand gefallen, die mit so kleinen Mitteln die Wirkung eines Rubens hervorbrächte?

Hätte mir Bastian auch nicht gesagt, daß Klärchen den Engel gesäubert habe, es wäre doch für mich entschieden gewesen, daß es nur eine jungfräuliche Hand sein könne, die es tat. Sie hatte die Figur im ganzen zwar funkelnd und weiß wieder hergestellt, bis auf eine Kleinigkeit, die, da sie unmöglich zu übersehen war, ihr also wohl so erstaunlich befremdend gewesen sein mußte, daß sie ihre Baumwolle darüber verlor. Dies, schloß ich weiter, würde ihr nicht geschehen sein, wenn sie mehr bewandert in der Mythologie, weniger fremd in der Naturgeschichte, und nicht so schreckhaft wäre, wie ein kleines Kind, das bei allem, was ihm Ungewohntes aufstößt, große Augen macht und davonläuft. Ich schloß ferner, und, wie ich glaube, sehr richtig, daß, da sie die Figur sogar wenig kannte, sich wohl noch kein Mietmann rühmen könne, daß ihn die schöne Nachbarin auf der Stube besucht habe, in welcher der Engel schläft. Und ich schloß endlich, daß, bei allen ihren petrarchischen Vorbereitungen und ihrem Umgange mit drei geistlichen Vätern ihre Kenntnisse doch zum Erstaunen beschränkt und von einer so ruhigen Einfalt sein müßten, als sie wohl noch nie auch der strengste Richter von einer Heiligen verlangt oder erwartet hat. Das alles, Freund, schloß ich aus dem Staube, der, höchstens in der Länge eines Zolls, an dem schlafenden Engel zurückblieb.

Ob man von dem Gesichtspunkte, den ich ins Auge gefaßt hatte, allemal ausgehen müsse, um über den Wert oder Unwert eines rätselhaften Mädchens zu urteilen, will ich nicht entscheiden; soviel ist aber gewiß, daß Klärchen durch den Mangel ihrer Kenntnisse und durch das augenscheinlich erste Schrecken ihrer Hand, unendlich in meiner Vorstellung gewann. Auch die einzelnen Züge, die ich vorher schon von ihr aufgefaßt hatte, wurden durch diesen noch hervortretender und trugen das ihrige bei, mich mit mir selbst über die Ehrfurcht zu vereinigen, die ich einer so frisch erhaltenen Tugend schuldig bin. Ach! wenn es wahr ist, daß es Heilige gibt – und wie könnte ich jetzt daran zweifeln? – so verdient Klärchen wohl diesen Titel vor allen ihres Geschlechts: Sie, die schon als Kind nur in den Kramläden der Klöster ihre Spielwerke suchte, und immerfort, wie es die Figur zeigt, unbekannt mit denen blieb, die für ihr Alter gehören; Sie, deren Stimme noch unverdorben blieb, ob sie gleich so oft mit ihren Beichtvätern gewechselt hat, wie ich mit meinen Spazierschuhen, das heißt, bis ich ein Paar gefunden habe, das mir recht sitzt.

Was hat mir nicht alles Herr Fez von ihren kleinen Spekulationen erzählt, die mir nach und nach wieder beifallen werden. Eins nur davon: Ihr erster Vertrag mit der Maria – ist er nicht eben so fein ausgedacht, als er fromm ist? Ich frage dich selbst, Eduard, welche Schöne würde bei dem Übergange in die Zeit ihrer Rosen so viele Besonnenheit behalten, als dieses unschuldige Kind? so daß es sie alle, wie sie unter seiner Hand aufschießen, mit der minorennen Angst, es möchte die ganze Stadt ihren Reichtum erfahren, und mit der Sorge in Empfang nimmt, was es damit anfangen, und wer sie bewachen solle? und bei der Unerfahrenheit, welche wohl dem Verwelken, welche der Beraubung am nächsten sei? einzeln erst diese – dann jene, und endlich den ganzen Strauß – der Mutter in den Schoß legt. Es liegt ein System von Unschuld in diesen kindischen Begriffen, daß ich den Kurzsichtigen bedauern würde, der keinen Zusammenhang darin fände. Er muß nie ein unbefangenes Herz unter Augen gehabt – nie eine Klara gekannt, oder gar das Unglück haben, an keine weibliche Tugend zu glauben.

Für eine solche Heldin ihres Geschlechts, als ich Dir jetzt gemalt habe, Eduard, könnte ich selbst meine Stimme zu den Beiträgen ihres verarmten Vaterlands geben, um ihre Seligsprechung zu befördern; um so mehr, da eine so billige Steuer schwerlich öfter als einmal in einem Jahrhunderts vorfallen dürfte. – Und gegen dies herrliche Geschöpf konnte ich auf Augenblicke verblendet genug sein, niedrige Absichten zu hegen?

»Fahre nun fort, Bastian,« rief ich aus einer Art von Bedürfnis, eine andere Stimme zu hören als die meinige; denn ich hatte mir nichts Höfliches zu sagen. – »Sie suchte mich auszuforschen,« fuhr der Erzähler fort. – »Wer denn?« unterbrach ich ihn. – »Sie sind zerstreut, mein Herr,« antwortete Bastian: »Sie haben verhört, oder vergessen, was ich Ihnen eben in diesem Augenblicke erzählte. Die alte Tante war es, die mich über den Besuch ausforschen wollte, den Ihnen diesen Morgen der Herr im Purpur abstattete. Diese vornehme Bekanntschaft mochte in ihren einfältigen Augen wohl einen gewaltigen Glanz auf Sie werfen, mein Herr. Ich wußte nun freilich selbst nicht viel davon; aber was tut das? Man muß niemanden seine gute Meinung von andern benehmen, am wenigsten ein treuer Bedienter, wenn es das Ansehn seines Herrn betrifft; so muß man im gemeinen Leben denken, wie man in der Religion tut. Auch suchte ich es so sehr aufzustutzen, als ich konnte, und so erzählte ich am Ende mehr Rühmliches von Ihnen, mein Herr, als mir selbst bekannt war. Was wollen Sie sagen, Madam? antwortete ich: das ist nicht der erste Purpurmantel, den mein Herr vor seinem Bette sieht. Von einem Erzbischof, von einem Prälaten an den andern empfohlen, wird er von allen wie ein Freund vom Hause empfangen. Es ist ein Spaß, mit so einem Herrn auf Reisen zu sein; denn wo wir nur hinkommen, fliegen uns die vornehmsten Geistlichen wie die Spatzen ins Haus. Sollte nicht etwann sein guter Herr, mutmaßte dabei die Alte, gar die fromme Absicht haben, zu unserer einzig selig machenden Religion überzugehen? – Kann wohl sein, erwiderte ich, und ich wünsche es von Herzen; denn seine jetzige mag so gut sein wie sie will, so sieht man doch wohl, wie blaß und mager er dabei geworden ist. – Das dünkt mich auch, fiel mir hier Mamsell Klara ins Wort: er dauert mich, wenn ich ihn ansehe. – Laßt es gut sein, Kinder, war zuletzt der Ausspruch der Tante. Ich müßte mich sehr irren, wenn es bei einem Manne, der solche Anzeigen gibt, der so weit herkommt, um unsere Klerisei aufzusuchen, der einen so verständigen Menschen von unserm Glauben, sagte die Tante, in seinen Diensten hat, und der seine Wohnung bei uns nahm, es müßte sonderbar zugehen, wenn es bei dem nicht zum Durchbruche kommen sollte. – Hier schwieg sie, und da ich an ihren Lippen und Zeichen sah, daß sie ein Paternoster für Sie betete, so tat ich ein gleiches; auch Klärchen setzte den Engel beiseite, schlug ihre Augen in die Höhe und knötelte an ihrem Rosenkranze, und es war einige Minuten ganz still auf dem Vorsaale.« –

»Ist das der Anschlag, den die Alte auf mich hat?« fragte ich meinen Bastian lächelnd. »Nun, der mag wohl noch hingehen – aber nur weiter!« –

»Ach! mit welchem Seelenvergnügen,« fuhr er jetzt noch lebhafter fort, »haben Tante und Nichte die Andacht nicht heute morgens bemerkt, mit der Sie, mein Herr, als ob Sie schon zum Kapitel gehörten, dem heiligen Hochamte beiwohnten!« –

»Was sagst du?« fuhr ich auf: »Klärchen war in der Kirche, und ich habe es nicht geahndet?«

»Und doch« – erwiderte Bastian, »stand sie gar nicht weit von Ihrer Loge. Als Hausgenosse hatte ich mich neben sie gestellt; aber Sie waren so vertieft in Ihrer eigenen Andacht, daß Sie die unsere gar nicht gewahr wurden. Ich wünschte, Sie hätten das liebe Kind beten gesehen! Sie erbaute den ganzen Zirkel, der um sie her kniete, und ich bin versichert, es wurden ihr aus allen Ecken und Enden mehr Blicke, mehr Seufzer zugeschickt, als der heiligen Genoveva selbst.« –

»Hole mir eine Flasche oeil de perdrix, Bastian!« unterbrach ich hier den Schwätzer. »Tue dir auch selbst für deine heutige leibliche und geistliche Anstrengung etwas zugute – hier hast du einen kleinen Taler dazu: aber um meine Bekehrung bekümmere dich weiter nur nicht! Hörst du?«

Bastian machte eine erbärmliche Miene, steckte sein Trinkgeld ein und ging. Der gute Narr! Könnte ich in seine Munterkeit, in seine fröhliche Laune, in seine blühende Gesichtsfarbe und in seine Jugendkräfte so leicht übertreten als in seine Religion! –! Von so einem Umtausche ließe sich schon eher sprechen. Er kam bald wieder zurück, setzte mir den Wein stillschweigend auf den Tisch und entfernte sich mit einem so bedeutenden Blicke, als wollte er mir sagen: Brauchen Sie nur dieses Mittel! es ist das wirksamste zu Ihrer Bekehrung. Nun, das wollen wir sehen, dachte ich, zog den Pfropf aus der Bouteille und warf ihn wider die Wand.

*

Abends eilf Uhr

. . . Sobald ich diesen Nachmittag den Pfropf aus der Hand warf und mich mit meiner Flasche allein sah, entrunzelte sich meine Stirne, die noch von dem System her, das ich mir von Klärchens Unschuld zusammensetzte, alle Zeichen eines ernsthaften Nachdenkens trug. Ich lächelte meinen freundlichen Wein an, und, wie er mir erst unter die Nase sprudelte, setzte auch sein Geist den meinigen augenblicklich in Gärung. Ein flüchtiger Gedanke zog nach dem andern vorüber, ohne daß ich ihn aufhielt; bis endlich einer so zudringlich ward, daß ich ihn faßte und mir durch alle möglichen Sophistereien den Spaß machte, ihn so lange aufzustutzen, bis er mir am Ende zu meinem Unglücke über den Kopf wuchs.

Ich habe Dir, – Du hast es auch gewiß gefühlt, Eduard, mit aller Stärke der Wahrheit die Gründe vorgelegt, die für die Heiligkeit meiner vortrefflichen Nachbarin sprechen. Wie konnte es mir nur einkommen, jetzt als ein Advocatus Diaboli Beweise aufzusuchen, die sich auf das Unverschämteste ihrer Seligsprechung gerade entgegenstellten? Es ist unglaublich, und doch wahr. Wie ich diesen Irrweg einschlug, ahndete mir freilich nicht, daß ich so weit und bis zu dem Abgrunde vorrücken würde, vor dem mich noch schaudert. Mein Blut geriet bei jedem frischen Glase, das ich hinunterstürzte, mehr in Feuer, und meine Einbildungskraft gewann die Oberhand über meine bessern Gesinnungen. Ich konnte immer weniger an das herrliche Geschöpf hinter der Scheidewand ohne Begierde denken, und setzte sie mit einer unerklärbaren Frechheit, nach jedem Schlucke, den ich zuviel tat, von den hohen Stufen ihrer Würde immer tiefer und wieder tiefer herab, bis ich sie endlich, nicht ohne Schwierigkeiten, mit mir unter eine Linie gebracht hatte; und nun erst ging ich unbarmherzig mit ihr um. Die klarsten Beweise ihrer Unschuld schickte ich mit einem Schnippchen in die Luft. Ihre Heiligkeit schien mir nichts mehr, als eine angenommene Rolle zu sein, die sie gut genug vor dem Publikum spielte. Und um Dir alles zu sagen, wie es in so einer Seele aussieht, konnte ich sie mir endlich unter keinem andern Bilde mehr denken, als dem – der Iphigenia von Tauris, die wir einmal, noch als junge Leute von dem Theater nach Hause führten, und die uns, wie wir damals dachten, einen so frohen Abend verschaffte.

Nun kennst Du meine Grundsätze, Eduard, wenn Du anders das Wort hier gelten lassen willst. Von jeher hat mich nichts mehr aufbringen können, als wenn ein Fürst zum Beispiele mich durch seinen lakonischen Ernst über seine Regententugend – ein Minister durch höfische Zurückhaltung über seine Staatsklugheit – ein Pfarrer durch seinen faltigen Rock über seine innere Überzeugung – und ein Mädchen durch den Flitter ihrer Sentiments über ihre Tugend hinter das Licht zu führen gedenken. Es gehört ein so gutes Herz dazu als ich habe, daß ich nur selten bei solchen Gelegenheiten meiner Gabe zu spotten Raum gebe. Bei einem Mädchen aber, das sich mit so außerordentlichen Annehmlichkeiten, als Klärchen besitzt, in meiner Nähe für sicher hielt, weil sie auf ihren Betrug und meine Blindheit rechnete, das mein brennendes Herz zwei volle Tage mit der Ungewißheit getäuscht hatte, ob es sie als eine Heilige bewundern, oder als eine gemeine Sängerin behandeln solle – bei so einem Geschöpfe würde die Rache meines Mutwillens ohne Grenzen sein. Gewiß sollte sie mir die Gegenbeweise ihrer Unschuld auf das demütigendste ausliefern, ihren ersten und letzten Betrug in meinen Armen gestehen, und durch alle möglichen Züchtigungen der Liebe für den erborgten Schimmer büßen, durch den sie einen erfahrnen Mann zu blenden gedachte.

Noch will ich nicht entscheiden – sagte ich sehr großmütig – aber es gilt einen Versuch: und beschämt gestehe ich Dir, daß ich in diesem Augenblicke vor der Möglichkeit erschrak, in ihr eine Heilige zu finden; so sehr hatte ich mich schon daran gewöhnt, sie als ein irdisches Mädchen zu behandeln.

Sie mag eins oder das andere sein, fuhr ich nach einigem Nachdenken fort, so kann sie mir doch als ihrem Nachbar unmöglich verargen, daß ich ihr meinen Besuch mache. Soviel ich weiß, ist das in keinem römischen Kalender verboten; ja mich deucht sogar, ich habe gelesen, daß es die Pflicht einer Heiligen sei, wenn sie Heiden bekehren will, sich ihnen zu nähern, und keine gesellschaftlichen Mittel unversucht zu lassen, ihre Seelen an sich zu ziehen. – Klärchen sehnt sich also wohl so sehr nach meinem Umgange, als ich mich nach dem ihrigen, wenn es ihr, wie ich glaube, mit ihrem Gebete auf dem Vorsaale ein Ernst war: zumal diesen Abend, wo es, gegen das gestrige Geräusch, in ihrem Zirkel so still ist, als ob sie von Himmel und Erde vergessen wäre.

Mein Mut wuchs nun in demselben Verhältnisse, in welchem meine Flasche abnahm; und kaum war das letzte Glas überwunden, so war ich auch schon auf dem Wege nach Klärchen. Aber meine Bewegung dauerte diesmal nicht fort; denn in diesem Augenblicke, und da ich eben den Griff der Türe in die Hand nahm, trat ich zufälligerweise auf den Stöpsel meiner leeren Bouteille. Ich hob ihn auf und besah ihn. Kein Pfropf ist wohl noch so bedenklich besehen worden. Es war mir, als ob der Blick noch fest an ihm klebe, den mir Bastian so bedeutend zuwarf, als mir vorhin der Kork aus der Hand flog. Sollte Bastian mit seinem Blicke recht haben? befragte ich mich erschrocken, sollte es wirklich für die Religion gefährlich sein, sich in dem Taumel des Weins einer Heiligen zu nähern? Das muß ich zuvor noch untersuchen, sagte ich, und zog mich mit meinem Stöpsel langsam nach meinem Lehnstuhle, auf den ich mich nun in eine Lage warf, die zum Nachdenken eines Betrunkenen wie gemacht war. Auch mochte ich nur etwa eine halbe Stunde so gelegen haben, als ich schnarchend erwachte und unstreitig viel klärer in meiner Angelegenheit sehen gelernt hatte, als vorhin.

Es war schon spät, Eduard, und der Mond schon im Aufgehen; viel später, als heute vor sechs Tagen, da er mir auch schien, als die gute Margot mir ihr warmes Halstuch um den Kopf band. Hätte ich diesen Gedanken behutsamer verfolgt als ich tat, ich glaube, es wäre nichts aus meiner Visite geworden. So aber kam ich von Margots Halstuch auf das Halstuch der Heiligen, von dem Hundertsten in das Tausendste, und – mein guter Gedanke entwischte mir unter den Händen.

Indes war es doch drollig, daß ich noch immer wie angeheftet auf meinem Lehnstuhle verweilte, ohne mich ganz von dem Mißtrauen in meine Einsichten trennen zu können, das Du von jeher an mir gewohnt bist, und das mir immer noch anklebt, wie eine Nervenschwäche. Mein Vorsatz war zwar gefaßt; aber um ihn auszuführen, fehlte mir nur noch die Aufmunterung eines Freundes, der mir für den glücklichen Erfolg und für allen Schaden haftete, der daraus erwachsen könnte; und auch diese Gewähr wußte ich mir endlich zu verschaffen.

Ja, lieber Eduard, alles mein voriges Hin- und Herüberlegen hätte ich mir recht gut ersparen können, wenn ich eher an den gedacht hätte, der mir in Avignon alles in allem war – an den Vorbereiter der Jugend, an das Orakel der Stadt, an den ehrlichen Kirchner. Ich brauchte ihn nur noch einmal in Gedanken abzuhören, um zu wissen, woran ich mit Klärchen war. Sein dunkles Gespräch schwebte mir vor, als ob er mir gegenübersäße, und entwickelte sich jetzt zu meiner ungleich größern Zufriedenheit, als da ich ihn selbst hörte. Meine Wünsche bekamen ihre einzige wahre Richtung. Mit dem Übertritte zu Klärchens Religion, fühlte ich, habe es heute wohl nicht viel zu bedeuten, und ich steckte, um nicht wieder darauf zu treten, den Pfropf in die Tasche. Sein dunkles Gespräch? Mein Gott! durfte er es denn wohl weniger behutsam anlegen, wenn er seiner neuen Freundschaft für mich ein Geschick geben wollte, ohne geradezu seiner ältern für den Propst zu schaden? Wie war es möglich, daß ich so blind sein konnte? Ich erstaunte, als ich die feinen Winke erwog, die er mir, wie von ungefähr zuwarf, als ich die schlauen Bemerkungen analysierte, die er fallen ließ, und die Lokalfarben, die er zum Gemälde seines Vorgesetzten brauchte, mit den psychologischen Nachrichten verglich, die er mir von Klärchen mitteilte – ich erstaunte, sage ich, über die Deutlichkeit, die in allem dem herrschte. Der sonderbare Akzent, den er, wie es mir schien, ohne Not auf dieses oder jenes Wort legte, bekam nun Bedeutung und Sinn. Sein Aufruf meiner zugunsten des Probstes erklärte sich mir, wie das Einlaßbillett einer Komödie; und obgleich seine Rätsel so theologisch verflochten waren, als man sie nur von einem getauften Juden erwarten kann, so war mir doch weiter nicht bange, diese feinen Fäden glücklich auseinander zu wirren.

Den Dünsten gleich, die von den Auen
Beim Überschein der Sonne fliehn,
Sah mein geschärfter Blick des schlauen
Orakels Dunkel sich verziehn.
Ich forschte mit der Kraft, die Bacchus mir verliehn,
Dem schweren Rätsel nach, bis mit geheimem Grauen
Sein Knoten mir entgegenschien.
Neu, jung und moduliert! als keiner nach Berlin
Zu Markte kommt, und doch nicht von der rauhen
Antiken Festigkeit, um ihn,
Anstatt zu lösen, durchzuhauen –
Lag er im Schutz der heiligsten der Frauen,
Schon darum wert, um vor ihm hinzuknien.
Und wie der erste Trieb, sein Felsennest zu bauen,
Den jungen Adler hebt auf eine Höh', wohin
Kein Aug' es wagt, ihn nachzuschauen,
So überflügelte mein männliches Vertrauen
Das Heiligtum der Sängerin.
Ich forderte von ihr, die mir den Schlaf verwehret,
Solang' Ersatz für den verlornen Schlaf,
Bis ich den ganzen Schwarm der Freuden aufgestöret,
Die der Verlauf der Zeit vielleicht dem Propst bescheret,
Wenn die Ermüdete, als ein verirrtes Schaf,
Zu seiner Herde wiederkehret,
Und sah erstaunt, wie das, was jedem Teil gehöret,
In einem Punkt zusammentraf.

*

Hast Du selbst je von einem Plane gehört, lieber Eduard, der einfacher in seiner Anlage, geschmeidiger für die Ausführung, und für den Endzweck, den er beabsichtigt, so harmonisch in allen seinen einzelnen Teilen wäre? Wie geübt, dachte ich mit schuldiger Bewunderung, muß die Hand des Meisters sein, der ihn entwarf! wie groß seine Erfahrung der Welt, wie sicher seine Kenntnis des Lokals und seine Bekanntschaft mit den Sitten der Andächtigen!

Ich hatte nur einige Schritte über den Vorsaal zu tun, die bei dem hellen Scheine, den der Mond über ihn breitete, keine Schwierigkeit machten. Ehe ich aufbrach, bedachte ich noch, wie wenig man oft bei solchen Besuchen Herr seiner Zurückkunft ist, und setzte aus Vorsicht mein Licht in den Kamin. Im Vorbeigehn beim Spiegel würdigte ich auch noch meinen äußern Menschen einer flüchtigen Untersuchung, und wie vorteilhaft fiel sie diesmal nicht aus! Wäre der schlafende Amor in die Höhe gesprungen mich zu umarmen, wahrlich, ich hätte es in diesem Augenblicke für kein Wunder gehalten. So einen Schlummer möchte ich mir wünschen, sagte ich, indem meine freundlichen Augen den Ausdruck der glücklichsten Ruhe verfolgten, den ihm der Künstler zu geben gewußt hatte. – Ich gelobte, wenn ich so ausdrucksvoll von Klärchen zurückkäme, ihm das Restchen Staub abzuwischen, bei dem sich ihre zitternde Hand, mitten in der Arbeit, so artig zurückzog. Ob wohl allen Heiligen dieses Gefühl der Sensitiven eigen sein mag? und ob sie wohl solches auch noch bis nach Untergang der Sonne behalten? Ich sah, als ich in dem Spiegel wieder nach mir aufblickte, daß mich dieses Problem, und die Hoffnung es aufzulösen, rot gemacht hatten bis über die Ohren; und wie auserwählt schien nicht diese Farbe zu meinen großen vielversprechenden Augen, und wie schön nuancierte sie nicht mit dem Inkarnat meiner Lippen! – Ach, meine Lippen! Auf keinen andern habe ich je diesen Anreiz und dieses Hinstreben entdeckt. Ich möchte wohl, sagte ich höhnisch, das Mädchen sehn, das solche Figuren vor ihrer Tür abzuweisen das Herz hätte! Und so trat ich mit der Zuversicht eines guten Gesellschafters endlich über die Schwelle und gelangte glücklich an den Verschlag, der, wie der Vorhof zum Allerheiligsten, Klärchens Zimmer begrenzte.

Bei der Stille, die in diesem frommen Hause herrschte, war nicht viel Geräusch nötig, um ihr Ohr aufmerksam auf meine Annäherung zu machen. Auch rufte ich kaum ein paarmal ihren harmonischen Namen mit gedämpfter Stimme, so hörte ich auch schon ihre Kammer sich öffnen. Nun trippelte sie nach der Türe des Verschlags; nun hob sie – stelle Dir das Vergnügen vor, das mich durchzitterte – den Riegel auf; und lebhaft stand nun – Klärchen zwar nicht – aber ihre abgemergelte, zahnlose Tante, in ein weißes, kattunenes Nachtkleid gehüllt, vor mir.

In dem ersten Anfalle meines Schreckens dachte ich nichts gewisser, als die gute Frau habe wohl Lust, sich selbst meinen späten Besuch zuzueignen, und könne so von Gott verlassen sein, sich einzubilden, daß ich, ohne Scheu für ihr ehrwürdiges Alter . . . Aber sie ließ mich diesen heillosen Gedanken nicht endigen. Sie fuhr mir nur zu bald mit einem: »Was beliebt Ihnen, mein Herr?« auf den Hals, und zeigte dabei eine so schnackische Befremdung in ihrem Gesichte, als hätte sie in dem langen Laufe ihres Lebens noch nie eine männliche Gestalt im Mondscheine erblickt. Ich hingegen auf meiner Seite, und gewiß betroffener noch als sie – wahrlich, ich mußte mir ihre einfache Frage noch einmal wiederholen lassen, ehe ich meiner Stimme so mächtig ward, ein paar verunglückte Worte daraus zu antworten. Ich starrte das alte Weib vorher noch sprachlos und mit aufgerissenen Augen an – ein Anblick, der, wenn er auch sonst nichts Gutes hat, einem Menschen in meiner Lage doch einigermaßen dadurch wohltätig werden kann, daß er ihn aus einem hitzigen Fieber in ein kaltes versetzt. Mag man indes solche Veränderungen noch so sehr unter die guten Symptome rechnen, so möchte ich sie doch selbst meinen Feinden nicht wünschen. Ich weiß nun aus eigener Erfahrung, wieviel es dem armen Kranken kostet, die erhabenen Phantasien, die seine Seele beschäftigen, unter Zähnklappern verschwinden zu sehen.

»Die langen Abende – meine angenehme Nachbarschaft – die Einsamkeit,« – stotterte ich endlich in abgebrochenen Sätzen heraus, zu denen es mir je länger je schwerer ward, eine Verbindung zu finden. Meine Verlegenheit nahm mit jeder Sekunde zu, glaubte sich Luft zu schaffen, und verfiel darüber in die unbesonnenste Erklärung, die sich nur ausfündig machen ließ. »Liebe Madam,« sagte ich, »die anziehenden Reize Ihres guten Klärchens werden mich schon hinlänglich bei Ihnen entschuldigen, und die Freiheit, die Sie dem Probst erlauben, hoffe ich, werden Sie doch wohl nicht Ihrem Mietmanne versagen?« – Das hatte ich vortrefflich gemacht – Du hättest nur sehen sollen, was die alte Katze bei diesen Worten für Feuer fing. – »Klärchen? Klärchen,« beantwortete sie meine wohlgesetzte Rede, »nimmt keine nächtlichen Besuche – ja sie nimmt gar keine, und zu keiner Zeit an. Gehen Sie, mein guter Herr,« setzte sie höhnisch hinzu, »suchen Sie anderwärts Ihre Unterhaltung, und lassen Sie Ihre Nachbarn in Ruhe!«

Schwerlich hat noch jemand einen unfreundlichern Bescheid aus einem häßlichern Munde gehört. Da es aber noch einen empörendern Anblick in der Natur gibt, so gab sie mir auch den noch zugute: ich meine ein altes Weib, das die Begeisterte macht. Sie warf ihre beiden Irrwische von Augen in die Höhe, als ob sie die Engel aus dem Himmel verjagen wollte, legte ihre linke Hand auf ihr schlotterndes Halstuch, streckte ihren rechten Arm steif und gerade nach mir zu, und kreischte mir mit der Stimme einer Besessenen durch die Ohren:

Irrgläubiger! was treibet dich
So frech, so blaß, so schauerlich
Herum im Mondenschein?
Vernimm, furchtbares Nachtgespenst,
Es schließt die Burg, die du berennst,
    Ein Kind des Lichtes ein!

Und welch ein Kind! So voll und rund,
So früh kam noch kein Busen, und
Kein weiblich Herz in Flor.
Ein Seraph sah den ersten Flug
Der kleinen Sängerin, und trug
    Sie der Madonna vor;

Und diese nahm sie in Beschluß:
Und wollte selbst mit seinem Gruß
Sich Gabriel ihr nahn,
Sie ließ' ihn vor der Türe stehn,
Und hieß' ihn, spottend, weitergehn,
    So wie sie dir getan.

Der Probst, des Himmels Liebling, nur
Verehrt den Schöpfer der Natur
In meiner Nichte Reiz.
Der Reichtum ihres Gärtchens ist
Auch sein, und wird vor Räuberlist
    Gesichert durch sein †.

Und jedes Kreuz, das er ihr schlägt,
Weckt eine Blüte mehr, erregt
Ihm eine Hoffnung mehr;
Und sie bewahret, zum Erkauf
Des Himmels, ihren Vorrat auf,
    Und zu Mariens Ehr!

Von der Holdseligen bedeckt,
Erhält sich frisch und unbefleckt
Ihr schöner Erntekranz;
Und wenn ihm auch ein Kreuz verblich,
Der Probst mit einem Pinselstrich
    Hebt den verlöschten Glanz.

Was stört, verlorner Geist, dein Blick
Für Bilder in mir auf! – Erschrick
Und weiche meinem Fluch:
Dich müsse jede Jungfrau fliehn,
Maria keine dir erziehn
    Zu nächtlichem Besuch!

*

Oh! das soll mir schon recht sein, dachte ich, indes die alte Närrin während der sublimen Worte ihrer mystischen Romanze, die ich vielleicht ganz der Quere verstand, dasselbe heilige Zeichen mehrmal über ihre Brust und ihr Gesicht zog, die doch wahrlich dieses Schutzes gar nicht bedurften, und zugleich mit ihrem Zeigefinger auf etwas hindeutete, was mir doch nicht eher verständlich und sichtbar wurde, bis sie die Tür mir vor der Nase zugeschmissen und verriegelt hatte: – denn nun erst fiel mir eins von den Kreuzen in die Augen, auf die sich die Alte in ihrer Begeisterung bezog, und davon die eine Hälfte an der obern Bekleidung – die andere an dem Flügel der Türe, nun in einem ungetrennten Zuge wieder zusammenpaßten, vermutlich mit einer Kreide gemalt, über die ein Weihbischof den Segen gesprochen hatte. »Liegt es nur daran?« sagte ich und warf den Mund auf. »Diese Wunderzeichen des Propstes sind doch wohl noch zu verwischen, wenn ich nur erst die Stationen kenne, die er damit besetzt hat.« Und so schlich ich mit verbissenem Ärger in mein einsames Zimmer zurück.

Meine Abwesenheit konnte nicht lange gedauert haben; denn ich hatte nicht einmal nötig, mein Licht zu putzen, als ich es aus dem Kamin langte, es wieder auf den Tisch, und mich mit ineinandergeschlagenen Armen davorsetzte. Es währte eine ziemliche Weile, daß ich gedankenlos auf die leere Flasche hinblickte, ehe ich sie in Verdacht nahm, daß sie wohl an dem eben geschehenen Vorgange die meiste Schuld habe. Dies brachte mich gelegentlich auf den Text, den ich mir in Ansehung der verletzten Diät und Moral, die leider! bei mir immer gleichen Schritt halten, zu lesen hatte. »Ja!« rief ich aus, »man muß betrunken sein, um einen Augenblick an der Tugend und Unschuld dieser Heiligen zu zweifeln, und so ungleiche Absichten, als mir mein Gewissen vorwirft, darauf zu bauen. Ich habe es verdient, vor ihrer Tür abgewiesen zu werden; denn ich bin nicht wert über ihre Schwelle zu treten – nicht wert, ihr nur die Schuhriemen – geschweige sonst etwas aufzulösen, und das geringste der Kreuze zu verlöschen, womit der Propst ihre Zugänge verwahrt hat.«

Da ich nicht gewohnt bin, mich selbst zu schonen, sobald ich nur erst soweit bin, mich in die Augen zu fassen, so ward ich auch diesmal so böse auf mich, daß ich mich gern vor jedem ehrlichen Manne an den Pranger gestellt hätte, der mir die Wahrheit noch derber hätte sagen wollen, als ich es selbst tat. Ich fühlte in dieser ärgerlichen Stunde die Entfernung von Dir, mein Eduard, stärker als jemals, und wußte lange nichts an Deine Stelle zu setzen. Wie aber die gütige Natur für gewöhnliche Übel auch die Mittel dagegen vorzüglich gehäuft hat, und man zum Beispiele gegen einen bösen Hals, oder eine jede andere Krankheit, welche schleunige Hülfe verlangt, die bewährtesten Rezepte an allen Zäunen und Hecken findet; so, glaube ich, ist in unserm aufgeklärten Zeitalter kein Winkel der Erde mehr so verwildert, aus dem sich für eine kranke Seele, ihrem Bedürfnisse gemäß, nicht bald ein anhaltendes, bald ein abführendes Mittel auftreiben ließe. Wäre es Tag gewesen, so hätte ich freilich bei meinem Freunde, dem Buchhändler, das Aussuchen gehabt: so aber mußte ich mir zu helfen suchen wie es gehn wollte, und das tat ich auch. Ich näherte mich zum ersten Male der, zu der frommen Stiftung gehörigen, kleinen Bibliothek meines Kabinetts, sicher, daß ich hier ebenso gewiß ein oder das andere moralische Buch finden, als ich nicht umsonst nach Pimpernelle oder Klatschrosen ausgehen würde, wenn ich eines Gurgelwassers benötigt wäre.

Der erste Folioband, den ich herauszog, den ich aber auch ehrlich genug war, sogleich wieder an seinen Ort zu stellen, war Sanchez De matrimonio. Ich griff auf besser Glück nach einem andern von mittlerem Format, und bekam die Aphorismen des großen Emanuel Sa de dubio in die Hand.

Das ist wahrscheinlich, sagte ich, so ein Buch, als Du suchst, und setzte mich damit an meinen Tisch. Ich hätte auch für mein gegenwärtiges Bedürfnis kein besseres finden können. Auf allen Seiten strahlten mir die herrlichsten Anweisungen entgegen, sich mit Ehren aus den schlüpfrigsten Händeln seines Gewissens zu ziehen, und mit Hülfe kleiner artiger Distinktionen sich über alle Fehltritte zu beruhigen, die eine strenge, ungeläuterte Moral, im ganzen genommen, unbarmherzig verdammt. Du kannst denken, daß mir in meinen Umständen dieser Sittenlehrer ungleich mehr behagen mußte, als jeder andere, der, ohne nur die Schwierigkeit der Ausführung mit seinen Forderungen vergleichen zu wollen, mir geradezu gesagt hätte: Tue recht und scheue niemand! Das ist weiter keine Kunst. In diesem herrlichen Buche hingegen fand ich sogar mehr als ich suchte. Wieviel Vorwürfe, die ich mir in meiner ersten mißlaunigen Aufbrausung machte, würde ich mir nicht erspart haben, hätte ich diesen gründlichen Schriftsteller nur eine halbe Stunde eher gekannt! Ich las mich dick und satt, bis ich vollkommen überzeugt war, daß, wären mir auch alle die Absichten gelungen, an deren Ausführung mich das alte hämische Weib hinderte, ich zwar von der geraden Straße ab – doch gar nicht viel umgegangen wäre.

Ich schloß nicht unwahrscheinlich von dem Werte dieses einzelnen Buchs auf die Wichtigkeit der ganzen Sammlung, holte mir, um bei der Entscheidung meiner Streitfragen der Mehrheit der Stimmen gewiß zu sein, noch andere herbei, die auch, mehr oder weniger, den guten Gründen jenes großen Kasuisten beitraten, wovon ich dir besonders einen gewissen Thomas Tambourin nennen und empfehlen will, der mir wirklich vielen Spaß gemacht hat. Hier hast Du den Titel seines Buchs: Explicatio Decalogi, in qua omnes fere conscientiae casus, mira brevitate, claritate, et quantum licet, benignitate, declarantur. —

Ich war in guten Händen, wie Du siehst. Meine Lektüre ward immer anziehender. Der Unterricht dieser vortrefflichen Männer hatte mich endlich so fest gemacht, daß ich weiter keine Gefahr für mich sah, auch den ehrbaren Sanchez mit zu Rate zu ziehen. Ich las bis in die sinkende Nacht hinein, ohne seiner verwickelten Fragen und Auflösungen überdrüssig zu werden, und lege ihn jetzt, da mein abgebranntes Licht mir kaum noch Zeit läßt, meinen Bericht an Dich niederzuschreiben, mit den Worten aus der Hand, mit welchen die vorgedruckte Approbation seines geistlichen Zensors anhebt: Librum hunc legi, perlegi, lectitavi, Felix pensum D. Sanchez, Cathol: Majest: in Regio Incarnationis Coenobio a Sacello et Sacris: in quo nihil nec devium ab orthodoxa nostra fide, nec obvium bonis moribus percepi etc. Und gehe nun, ich gestehe es Dir, als der eifrigste Anhänger einer Gesellschaft zu Bette, der es, da sie so vorzügliche Mittel gegen menschliche Schwachheiten im Vertriebe hat, nicht fehlen kann trotz der kleinen Kränkungen, die sie in unsern Zeiten erlitten hat, an allen Enden der Erde Proselyten zu machen.

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