Moritz August von Thümmel
Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich
Moritz August von Thümmel

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Möchte doch der Traum meines Lebens und mein neues Tagebuch nie andere Stunden enthalten, als mir heute zuteil wurden! Welch ein herzerhebender Anblick für einen, der kaum aus seinem einsamen, sonnenlosen Kerker getreten war, als wir in dem Hafen ankamen – als meine heitern Augen über den gedrängten Zirkel fröhlich-müßiger Zuschauer hinblickten, der jene fleißigen Männer umgab, die in voller Anstrengung ihrer Riesenkräfte das stolze Gebäude aus seinem Schwerpunkte von dem Boden zu heben suchten, auf dem es errichtet war, um es auf kreischenden Walzen in das Meer zu rollen! Bei dem Werft stiegen wir aus. – Indem wir uns dem neuerbauten Schiffe näherten, machte mich Saint-Sauveur besonders auf das Verdeck aufmerksam, das mit einer Menge Neugieriger besetzt war, die schon stundenlang auf den Augenblick lauerten, der die Masse in einen blitzschnellen Schwung setzen und einem andern Elemente übergeben werde. – »Dort«, sagte er lächelnd, »ist eine Empfindung zu holen, die dir noch fremd und auf das sonderbarste angenehm ist, wie das schon die Menge schließen läßt, die Geld und Zeit dafür hingibt.« – Ich sah mich ungewiß nach meinem Arzte um. – »Oh,« sagte dieser, »ich habe gar nichts dawider. Es ist der unschuldigste mechanische Versuch mit sich selbst, den ich kenne, und zugleich ein stärkendes Luftbad. Wenn nur ein Blutkügelchen, das in Ihrer Lunge stockt, mit dem Schiffe zugleich flott wird, so trägt es Ihnen vielleicht mehr ein, als dem Eigentümer, der es nach China schickt. Gehen Sie. Ehe es dahin segelt, wollen wir sie schon wieder abgeholt haben.«

Ich tat mir heute, wie ein lebhaftes Kind, dem man das Gängelband abnimmt, so viel auf die kleinste Bewegung zugute, daß ich zwar herzhaft die Strickleiter ergriff, aber nach dem ersten Tritte auf dieser schwankenden Stiege alle Mühe hatte, mich bei Mut zu erhalten. Steigst du doch, sagte ich spöttisch zu mir, so scheu und zitternd deiner Neugier nach, wie ein unerfahrnes Mädchen in das Brautbette. Zufällig kam ich auf dem Verdeck neben einem zu stehen, das jung und reizend genug war, um meinen unbedeutenden Einfall erst gefährlich zu machen. Still vor sich hin blickte sie über das Geländer, als ich zu ihr trat. – »Ist es auch das erstemal?« redete ich sie nachbarlich an. – »Ja,« drehte sie ihr Köpfchen nach mir; »auch erwarte ich schon lange den Schwung mit Ungeduld, von dem die Leute so viel Wesens machen. Meine Brust ist mir unbeschreiblich beklommen.« – »Mir geht es auch so,« erwiderte ich, »und wenn es erlaubt ist, eine Kleinigkeit philosophisch zu betrachten, so schwebt das Herz auch hier, wie bei jedem Übergange zu einer unbekannten Erfahrung, zwischen – wie soll ich sagen – – –« – »Nach meiner Empfindung«, fiel sie mir ins Wort, »schwebt es zwischen einer süßen Angst und einem ungestümen Verlangen.« – »Richtig, mein schönes Kind!« fuhr ich fort: »aber deshalb fürchte ich auch, daß der kritische, flüchtige Moment der Belehrung der angenehmen Unruhe unserer pochenden Herzen kaum wert sein wird; und in dieser Rücksicht tut es mir beinahe leid, daß wir – oder wenigstens, daß Sie hier sind.« – Sie warf ein Paar große fragende Augen auf mich. – »Weil«, antwortete ich, »Ihnen nun künftig nichts Ähnliches mehr vorfallen kann, was nicht durch das Gegenwärtige etwas von dem Reiz seiner Neuheit verlor. Sie nehmen jetzt eine Erfahrung voraus, die Ihnen zu einer andern Zeit – – Denken Sie an mich, ob ich nicht wahr rede.« – »Das will ich tun,« erwiderte sie lächelnd: »denn jetzt verstehe ich Sie nicht.« – Und das war kein Wunder, Eduard, verstand ich mich doch selbst nicht. Offenbar hatte die Theorie meines Freundes, die mir von heute mittag her noch in dem Sinne schwebte, Schuld an diesem Geschwätze mit dem Mädchen. Ich hatte sie selbst noch nicht ganz begriffen und suchte sie doch schon einem Kinderkopfe verständlich zu machen – ganz im Geschmack unsers philosophischen Zeitalters. Meine Einbildungskraft, sah ich wohl, war leichter in Bewegung zu setzen als das Frachtschiff. Dieses lag noch eine Weile nachher, als jene sich schon warm geflogen hatte, unerschütterlich auf dem Werfte. Endlich, als ob es einen kurzen heroischen Entschluß faßte, fing es – das Mädchen klammerte sich fest an mich – zu rollen an, schlug Flammen in die Höh, und einen Pulsschlag nachher schwebte es auf dem wogigen Meere. Fröhliches Getöse auf dem Verdecke begleitete es, Jubelgeschrei vom Ufer her wirbelte ihm nach, und die junge, seufzende, zitternde Schöne – Gott segne ihre fühlbaren Nerven – wußte jetzt wie ihr war, und ließ meinen Arm fahren. Ach, ich hätte ihr ihn gern noch länger geliehen, und, wie man dem Probegang einer ausgebesserten Uhr nachspürt, gern noch länger jene leisen Schwingungen verfolgt, die der Druck von ein Paar weiblichen Händen auf meine Fibern erregte. Aber jetzt bekümmerte sich weiter keine Seele um die andere. Was die Neugier vereinigt hatte, trennte die Befriedigung. Die Gesellschaft flog nun auf die vielen kleinen Boote auseinander, die sich zu ihrer Aufnahme näherten, und Saint-Sauveur erwartete mich in dem seinigen. – »Ich komme recht sehr zufrieden,« rief ich ihm entgegen, als ich einstieg, »von dem Versuche mit mir selbst zurück, und deine Theorie enthält mehr Wahres, als ich gedacht habe.« – Indem ruderte das Boot, auf dem sich meine neue Bekannte befand, bei dem unsrigen vorüber. Ich hätte wohl gewünscht, mit ihr zugleich an das Ufer zu steigen; aber ich landete einige Augenblicke – an denen vielleicht ein ganzer Roman hing – zu spät an.

Auf dem Hingange nach unserm Wagen kamen wir bei der Wohnung des ehrlichen Passerino vorbei. Die schwarze Tafel über der Haustüre, sein Sortiment menschlicher Gebrechen, mein Frühstück bei ihm, und die martervollen Tage, die gleich darauf folgten – alles trat in einem Blicke mir jetzt vor die Seele. Mit feuchten Augen teilte ich meinen Begleitern die Empfindung, die mir anflog und zugleich dir Nachricht mit, die ihnen freilich wenig verschlagen konnte, daß in diesem Hause der brave Mann wohne, der mein Lehrmeister in der Baukunst gewesen sei. Um meine ehemaligen Spöttereien über ihn, zu denen ich alleweile kein Herz hatte, wieder gut zu machen, und um seiner Kundschaft nicht Abbruch zu tun, lobte ich ihn als einen zweiten Vitruv. – »Ich habe ihm vieles zu danken,« sagte ich. – »Besonders auch«, fiel mir Sabathier in das Wort, »als Krankenwärter. Man las es in seinem verstörten Gesichte, wie sehr ihm Ihr Aufkommen am Herzen lag.« – »Das kann ich um so viel leichter glauben,« antwortete ich, »als an meinem Leben die Erfüllung eines Versprechens, eine Spazierfahrt hing, zu der schon der Wagen angespannt war, als ich mich legen mußte, und auf der er nichts Geringeres zu holen gedenkt, als sein zeitliches Glück und seine Unsterblichkeit. Diese wichtige Schuld hoffe ich morgenden Tages abzutragen.« – »Morgen?« fragte Saint-Sauveur verwundert. »Einen Weg zur Unsterblichlichkeit – in der Nähe von Marseille? Das ist mir etwas ganz Neues. Wie heißt denn dieses Ziel der Glorie?« – »Cotignac,« antwortete ich, und erregte damit ein lautes Gelächter. – »Nein,« rief Sabathier, »das könnte meinem guten Rufe schaden, wenn ich es zugäbe« – und – »Nein,« rief der Marquis, »denn von morgen an, Freund, lege ich für die ganze Woche Beschlag auf dich und deine Talente. Ich kann dir davon zu deiner Spazierfahrt keinen Tag frei geben, als den letzten, wo ich das angenehme Geschäft über mir habe, den Flügelmann meines Regiments zum Tode zu führen – und den armen Sünder in dem Augenblicke, der ihm drei Kugeln durch das Herz jagen soll, durch ein harmonisches Pardon zu überraschen.« – »Und womit«, fragte ich hastig, »hat denn der Unglückliche verschuldet, daß er deinem System zum Experimente dienen soll?« – »Nach seinem Verbrechen«, antwortete Saint-Sauveur rätselhaft, »darf ein Berliner nicht fragen. Bei euch wird deshalb kein Flügelmann der Todesangst ausgesetzt.« – Was wollte der Marquis damit sagen, Eduard? und was wollte er vorhin mit meinen Talenten? Ich begreife eins so wenig als das andere. Über meine Zeit, die er auf Wochen in Beschlag nimmt, muß ich mich auch noch mit ihm verständigen. Ich habe deren nicht viele mehr in diesem Lande zu verlieren, wenn ich anders mein Gerippe in Sicherheit haben will, ehe die Sonne noch glühender wird. Und doch kann ich an unsere baldige Trennung ohne Schaudern nicht denken. Wie kam es mir nicht schon so schwer an, daß ich die wenigen Stunden, die mir heute noch übrig blieben, ohne ihn hinbringen sollte! – Aber mein strenger Arzt riß mich unbarmherzig von seiner Seite und verwies mich, aus Furcht vor der Abendluft, in meine einsame Herberge. – »Wenn Ihnen«, tröstete er mich, »Ihre heutigen Lebensversuche wohl bekommen und zu einer guten Nacht verhelfen, so öffne ich Ihnen morgen die weite Welt, und überlasse Sie Ihrem Freunde – zur Nachkur.« – Möge er es zur guten Stunde gesagt haben.

*

Den 18. Februar

So hätte ich denn seit zwo Stunden das Lenkseil meiner selbst, das mir auf der Rennbahn des Lebens aus den Händen geschlüpft war, wieder in meiner Gewalt! Sabathier hat es mir so feierlich, als wenn es ein Doktorhut wäre, überreicht. Kaum war ich mit einem Gesichte ohne Runzeln aus meinem Bette ohne Falten gestiegen, und lächelte in dem frohsten Vorgeschmacke meinem Frühstücke zu, das man hereintrug, als mir sein Morgengruß so süß entgegentönte, wie eine Geßnerische Schäferflöte in meinem funfzehnten Jahre. Wie reichhaltig kam mir nicht sein freundliches Gespräch vor! Es würzte meinen guten Coffee noch mehr. Es belehrte mich ohne mir weh zu tun, und rührte mich durch die genauere Entwickelung des Wunders meiner Genesung . . .

Sabathier, mußt du wissen . . . ist Mitglied der preiswürdigen Fakultät zu Montpellier, und gegenwärtig auf einer wissenschaftlichen Reise begriffen, die er über Holland nach Edinburg tun will. Mein anonymer Wohltäter, – Gott segne ihn – der einen natürlichen Haß gegen alle Charlatane hat, wie die Pharaos-Ratze gegen die Krokodile, schlich und stieg dem nomadischen Medikaster bis vor mein Bette nach, verscheuchte den Geier, und sah sich eben ängstlich nach Hülfe für das gerupfte Täubchen um, das zappelnd da lag, als – der gute Sabathier vor dem heiligen Geiste ausstieg, und der Schall seines berühmten Namens an alle Wände des Gasthofs anschlug. Unverzüglich trat ihm der Unbekannte in den Weg, erzählte ihm schon aus der Treppe meine verzweifelte Lage, ließ ihm kaum Zeit sich umzukleiden, und, nachdem er sein Mitleiden auf das stärkste erregt hatte, führte er ihn vor mein Bette, und nahm ihm, unter meinen schon gebrochenen Augen, das Ehrenwort ab, seine Reise aufzuschieben und den kranken Deutschen nicht zu verlassen, bis nicht sein Schicksal entschieden sei. Der menschenfreundliche Arzt versprach es und hat es gehalten. Mein bösartiges Fieber fand in ihm einen Beschwörer, wie es einen bedurfte. Selbst die kleinen Nebenverhältnisse, in die er sich mit mir gesetzt fand, so unwichtig sie auch scheinen, waren hier nichts weniger als gleichgültig. Schon der Umstand einer gemeinschaftlichen Herberge mit ihm mußte mir den größten Vorteil gewähren. Dadurch ward es ihm möglich, mich zu allen Stunden zu beobachten und meinen Narrheiten abzuwarten, als ob ich der vornehmste Herr und er mein Leibmedikus wäre . . . Wenn ich starb, war ich sicher, daß es an meiner eigenen Krankheit geschah. Glücklich ist wohl jeder zu nennen, der in dem Nebel, den das unzählbare Heer von Seuchen um ihn herzieht, in dem Gedränge so vieler schwankenden Irrlichter, die dieser Duft bildet und nährt, und die sich ihm bei seiner Wanderschaft über das allgemeine Leichengefilde als Wegweiser anbieten, auf den Genius eines Kapp, Grimm, Meckels oder Tissots trifft, der ihm vorleuchtet. Ist sein Gewebe nun vollends schon von der Natur locker gesponnen, durch die Hände seiner Erzieher verworren, und von allen den Modefarben, in die es getaucht wurde, so mürbe gebeizt, als das meinige, und es findet sich, eben da der Lebensfaden zerreißen will, ein solcher Kunstweber als Sabathier zu ihm, der an der laufenden Spule die Fasern noch zu erwischen und so geschickt anzuknüpfen versteht, daß auch nicht der kleinste Knoten zurückbleibt, der das Flickwerk verraten könnte: so weiß ich nicht wie groß das Verdienst des Kranken sein müßte, das diesem seinem Glücke gleich kommen sollte.

Diese Betrachtungen machten mir es recht schwer, mich von dem Manne zu trennen, der sie veranlaßte, und der – ohne daß ich damit andern Ärzten zu nahe treten will – einzig in seiner Art ist. – Denn wo hat wohl einer von ihm einen solchen Abschied von seinem Kranken genommen, als Er von mir? Er faßte mich mit ernstem Anstande bei der Hand, setzte sich neben mir auf den Sofa, und ehe ich mich des Textes versah, über den er seine Beredsamkeit spannte, lag das menschliche Herz so meisterhaft zergliedert vor mir, als wenn Locke und Boerhave in ihm zusammengetreten wären, um mir zu demonstrieren, wie wenig ich, moralisch und physisch, wert sei. Ich mußte bei jedem Fetzen, den er mit seiner Sonde in die Höhe hob, heimlich gestehen, daß es ein Teil von mir war. In jeder Beule, die er öffnete, erkannte ich mein eigenes Geschwür, und fühlte in meinem Innern jeden Schnitt, den er doch nichts weniger als in meinem Kadaver zu tun schien. Es ward mir, mit einem Worte, immer klarer, daß die Kasuisten zu Avignon und der getaufte Jude so vielen Anteil an meinem hitzigen Fieber hatten, als Klärchen und der Seefisch – daß ich meiner Gesundheit nie weiter aus dem Wege gekommen sei, als in der Zeit, da ich sie suchte – und daß Sabathier, der, gleich dem großen Arzte des Lazarus, meine Heilung mit Stehe auf angefangen hatte, jetzt auch, wie Er, sie mit keinem bessern Rate zu beschließen wisse, als mit einem wohlgemeinten Gehe heim.

Ja, ja, Eduard, unstreitig ist es das klügste, was ich tun kann. Ich brauche wahrlich keine Erfahrungen mehr zu dem bewiesenen Satze zu sammeln, daß meiner Diät und meiner Tugend auf Reisen noch weniger zu trauen ist, als in meiner Heimat. Das Überraschungssystem meines Freundes soll mich nicht aufhalten. Gott weiß, was ich mir damit über den Hals ziehen könnte, wenn ich es so gründlich studieren wollte, als manches andere, das mich irregeführt hat.

Wie Sabathier am Ende seines lehrreichen Gesprächs nach dem Hute griff, verstand ich das Zeichen, flog in die Kammer vor meinen Schreibtisch, und indem ich geschwind berechnete, daß, wenn ich die Summe meines baren Reisegeldes gerade mit ihm teilte, ich in Verhältnis meiner vorigen täglichen Ausgaben immer noch durch mein hitziges Fieber gewönne – packte ich zwei Rollen zusammen, die einen ziemlich starken Beweis enthielten, wie hoch ich mein Leben schätzte, und trat damit in der Demut eines Genesenen, der dem Apollo nur einen schlechten Hahn opfert, vor meinen trefflichen Arzt. Aber dieser, als schwebe er in der Glorie jenes Gottes, erhob sich in demselben Augenblicke über alle gemeine Mitgesellen seiner Kunst. – »Sie vergessen, lieber Freund,« sagte er, »wie teuer Sie Ihr Leben schon bei dem Quacksalber gelöst haben, den ich vertrieb. Ich bin belohnt genug, daß ich nicht zu spät kam, um seine Rechnung und sein Vergehn gegen Sie ins Gleiche zu bringen, und durch meine Anzeige die Polizei aufzufordern, ihm das Handwerk, wo nicht ganz zu legen, doch solchem eine zweckmäßigere Richtung für das gemeine Beste zu geben.« – »Edler, großmütiger Mann,« sagte ich, legte meine Geldrollen aus der Hand und trocknete mir die Augen. – »Und was ist denn«, fuhr ich kleinlaut fort, »aus dem Quacksalber geworden?« – »Man ließ ihm,« antwortete Sabathier, »die Wahl, sich nach seinen Verdiensten entweder bestrafen oder belohnen zu lassen – entweder mit einem Wahrzeichen an der Stirn das Reich zu räumen, oder in demselben – Mäuse zu fangen. Er entschloß sich zu letzterm, unter der Bedingung, die man ihm gern zugestand, daß er den Doktortitel fortführen dürfe, den er in Erfurt gekauft habe. Er ist bei den hiesigen Hanf- und Taumagazinen angestellt, wo er gewiß von Nutzen sein wird.« – Ich leugne nicht, Eduard, diese Nachricht machte mir Freude. Nicht, als ob ich gerade sehr stolz darauf gewesen wäre, durch meine unschuldige Vermittlung einen solchen Landsmann in königlich französische Dienste gebracht zu haben, sondern weil es mir, bei meiner ewigen Spekulation über die Bestimmung des Menschen, wohltut, wenn ich einmal auf einen treffe, dem das Schicksal die seinige so deutlich anweist als diesem. – Übrigens mußte es mir wohl auf alle Weise lieber sein, daß der Zufall, neben vieler meiner Mitmenschen Erhaltung, nur den Tod der Mäuse mit meiner Genesung verkettet hatte, als umgekehrt – wie das bei vornehmern Kranken, als ich bin, wohl manchmal der Fall sein mag.

»Sehen Sie,« fuhr Sabathier fort, »so ist alles in seiner Ordnung. – Der Verzug meiner Reise ist mir hinlänglich durch das Studium Ihrer Krankheit bezahlt: denn schwerlich werde ich in Edinburg eine versäumt haben, die aus mehreren Fehlern gegen die Diätetik zusammengesetzt, aus so bösartigem Stoff entwickelt, den Nachforschungen eines Arztes würdiger und mir belehrender gewesen wäre, als diese. Auch soll sie mir bei meiner Aufnahme in die dortige Akademie zu einem sonorischen Perioden in meiner Antrittsrede verhelfen.« – Ich machte – einfältig genug – meinem medizinischen Freunde für dieses Lob meiner Krankheit eine tiefe Verbeugung, als ob er mir eine Schmeichelei gesagt hätte, erschrak über diesen neuen Mißgriff meiner Eigenliebe, und stotterte nun voller Verlegenheit: »Ihre Rechnung im Gasthofe werden Sie mir doch – –« – »Diese,« fiel er mir ins Wort, »ist durch den braven Mann berichtigt worden, der mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat.« – »Lieber Sabathier,« drängte ich mich jetzt näher an ihn, »Sie dürfen mich nicht verlassen, ohne mir den Schutzengel genannt zu haben, bei dem ich in einer so großen Schuld stehe, und die ich durchaus abtragen muß, wenn ich ruhig werden soll.« – »Ich würde es gern tun,« versetzte er, »hätte seine uneigennützige Tugend mir nicht Stillschweigen geboten. Wir wollen dem wackern Manne seinen eigenen Gang lassen und uns im stillen begnügen, eine Seele zu bewundern, die sich über das Geräusch menschlicher Beifalls-Äußerungen des Danks und den Schimmer ihrer eigenen Seltenheit erhaben fühlt.« – »O mein Freund,« erwiderte ich voller Betrübnis, »wie gern möchte ich dieser übermenschlichen Tugend huldigen! – Aber ich kann – wahrlich, ich kann nicht. Eine so heldenmütige Verleugnung der, allen Herzen angebornen Schwachheiten, erweckt« – – – ich hielt inne. – »Was erweckt sie denn?« fragte Sabathier. – »Den Verdacht – von dem ich meinen Wohltäter gern freisprechen möchte – eines übermäßigen Stolzes, der seine Blöße nur desto künstlicher versteckt, je lebhafter sein geheimer Wunsch ist, daß die Neugier sie enthülle. Eine Größe, die andere Menschen so sehr verkleinert, ist nicht nach meinem Geschmacke. Die Gleichgültigkeit des Unbekannten gegen meinen Dank ist sehr demütigend, und ich fühle es wahrlich auf das schmerzhafteste, wie viel Unbarmherzigkeit in seiner Großmut liegt.« – »Oder, wie viel Schonung,« sagte Sabathier lächelnd, umarmte mich noch einmal zum Abschiede, bat sich ein Empfehlungsschreiben nach Leyden an Jerom aus – und unter tausend Segnungen, die meiner stammelnden Zunge entströmten, eilte er in sein Zimmer den Anstalten der nahen Abreise zu.

*

Kaum war er fort, so stützte ich meinen Kopf auf den Arm. – »Schonung?« wiederholte ich, »was will er mit diesem rätselhaften Worte?« und es beschäftigte mein Nachdenken bei einer halben Stunde. Ich wollte lange nicht daran, die Erklärung als wahr anzunehmen, die sich mir aufdrang; aber, so wenig sie auch Schmeichelhaftes für mich enthält, so bleibt mir doch keine andre übrig. Der Unbekannte, stellte ich mir vor, mochte es wohl nach seiner Eigenheit ebensosehr für Pflicht halten, solange ich krank lag, mir beizustehen, als mir aus dem Wege zu gehen, sobald ich gesund ward. Die Beichte meines hitzigen Fiebers – ob das nicht wohl auch bei andern Ohrenbeichten manchmal der Fall sein mag? – hat ihm wahrscheinlich nichts weniger als Neigung gegen mich eingeflößt, und in dieser Rücksicht verrät seine stillschweigende Entfernung unstreitig eine seltene Schonung. Ein eifriger Katholik – mein Gott, – kann ja unmöglich einen Menschen lieben, schätzen und seiner Freundschaft wert halten, der die heilige Klara von Montfalcone mit ihren drei Blasensteinen verspottete, den Papst Alexander zur Hölle verwies, und selbst bei dem Anblicke der drohenden Ewigkeit keine Reue fühlte, Mariens Strumpfband vertauscht zu haben. Ich darf froh sein, daß der gute Mann meiner Rettung schon den Schwung gegeben hatte, ehe er erfuhr, wie wenig ich ihrer wert sei. Mir tut es zwar weh, daß zwei Herzen, die bereits einander so nahe waren, durch solche Windstöße wieder getrennt werden mußten; aber was kann ich dafür?

Um jedoch den Druck meiner Dankbarkeit los zu werden, will ich zum Ersatz meiner Schuld ein Geschenk in das Hospital schicken, und es als eine Nothülfe, die ich gegen den sonderbaren Heiligen nehme, der Versteckens mit mir spielt, in dem Wochenblatte anzeigen lassen. Das, hoffe ich, wird nach seinem Sinne sein . . . Doch da kommt mir ein Briefchen von Saint-Sauveur dazwischen, das ich erst lesen muß. –

*

Das war ein tätiger, reichhaltiger Morgen – Meine dringenden Geschäfte auf der vorigen Seite sind nun alle besorgt, und ich wende meine Augen, die unter blendenden Tränen den guten Sabathier abfahren sahen, wieder nach dir, mein Eduard, der mir sie von jeher immer am geschwindesten getrocknet hat. – Es ist zwei Uhr. Nur noch einige Zeilen, und ich unterwerfe mich sodann ganz sorgen-, gedanken- und willenlos der Leitung des reichen, romanhaften Marquis, dem meine Nachkur übertragen ist. Sein Wagen erwartet mich; seine heutige Ordre liegt vor mir. Geht er auch so ziemlich mit mir um wie mit einer Sache, ich lasse mir alles gefallen, ob mir gleich nicht alles gefällt; so kirre hat mich leider das Mißtrauen gemacht, das mir Sabathier gegen die eigene Aufsicht meiner selbst in den Kopf gesetzt hat . . . Dieses abgerechnet, hätte ich gar nichts dawider, auf einige Zeit aus meinem häuslichen Zirkel herauszutreten, der mich mechanisch in die Tage zurückzaubert, die ich doch gern vergessen möchte. Der überflüssigste Teil desselben, die beiden Puppenspieler, haben durch ihr Verplaudern meiner Historie mit Klärchen vollends ihr bißchen Kredit bei mir verloren; und doch scheinen sie gar nicht zu ahnden, wie unerträglich sie mir sind. Da unterbrachen sie mich erst vorhin mit dem possenhaftesten Anstande in meiner Schreiberei, um mich über einen Einfall zu Rate zu ziehen, der ihnen eine frohe Zukunft verspräche. – »Elektra,« hub der Prologus an. – »Geht zum Henker«, fuhr ich sie an, »mit eurer Elektra, und putzt dafür meine Schuhe!« – Auch Bastian, der gute Kerl, macht keinen Eindruck mehr auf mich mit dem Gesichte seiner Schwester; dafür erinnert er mich aber desto lebhafter an die ekeln Chinapulver, die er mir dutzendweise eingerührt hat. Es ist mir immer, so oft ich ihn ansehe, als ob ich einnehmen müßte. So wunderlich es von mir wäre, ihm dieses zum Vorwurfe zu machen, so bin ich doch froh, daß er mir einige Tage aus den Augen sein wird. Er kann unterdessen hier mit dem Wirte zusammenrechnen und sich mit den Anstalten zu meinem Aufbruche beschäftigen, den ich zu Anfang künftiger Woche festgesetzt habe. Die Freundschaft Saint-Sauveurs würde mich in jedem andern Lande zurückhalten; aber das hiesige Klima verstattet mir kein Weilen, und drängt und treibt mich wie einen Storch nach meinem deutschen Schattenneste; ach, es würde meine spröden Knochen vollends zu Pulver zerreiben, wenn ich hier bliebe. Daß ich nicht denselben Weg, aus dem ich herkam, zurück nehmen werde, kannst du wohl – ohne selbst mein Tagebuch betrübten Andenkens gelesen zu haben – bei einem neugierigen Reisenden voraussetzen, ob dir gleich jenes noch ganz andere Aufschlüsse darüber vertrauen würde. Nein! ich gedenke über Holland und über mein geliebtes Leyden heim zu gehen, ohne Avignon, Straßburg und Bruchsal nur in Gedanken zu berühren. In drei Wochen – ach Gott! – kann ich bei Jerom sein, und, wenn Sabathier so langsam fortreist, als er anfing, eher sogar als er und mein Brief. Das habe ich mir an den Fingern abgezählt, als ich ihn schrieb, und sie mir vor Freuden verbrannt, als ich ihn zusiegelte. So gar viel Papier werde ich nun wohl nicht mehr vertun. Ein halbes Buch, denke ich, soll hinreichen, bis ich dir in Berlin meine schreibselige Feder zu Füßen lege.

*

Das in halbdunkeln Tinten trefflich gemalte Zimmer, in welchem mich Saint-Sauveur diesen Mittag aufnahm, war ganz der rührenden Stimmung angemessen, die ich mitbrachte, und in der er mich – Gott weiß wie er das anfing! – drei Stunden, bis wir ins Freie kamen, zu erhalten verstand. Es gehört ein Wirt dazu, wie Er war, damit ein Gast, wie ich bin, nicht bei Tische den Abgang eines Dritten bemerkt . . . Er überraschte mich an dem heutigen Mittage um vieles angenehmer noch als an dem gestrigen – nicht durch die neuersonnenen Gerichte, die er mir vorsetzte, sondern durch die Menge feiner und erhabener Empfindungen, denen er in meiner Seele mit sokratischer Entbindungskunst Luft machte. Sie schienen mir wie Vertriebene, die sich unter einer tyrannischen Regierung versteckt hielten, von weitem herzukommen, einander zu ihrer Erhaltung Glück zu wünschen, und das Fest ihrer Wiederkehr in der alten Hütte zu feiern, aus der sie sich so lange verdrängt sahen. So sehr ich auch jetzt hinterher mich gerecht genug fühle, das Übergewicht seines Geistes in dem warmen Gespräche, das sich unter uns entspann, anzuerkennen, so wußte er doch während desselben den Schwerpunkt so geschickt zu verteilen, daß es mir vorkam, wir hielten einander vollkommen die Wage . . .

Auf einmal aber trieb mich eine Kleinigkeit von dem erhabenen Standpunkte herunter, aus den mich meine Eigenliebe gestellt hatte. Wir sprachen eben von dem Hange zweier gleich gestimmter Herzen, die, indem sie wie Magnete einander anziehen, auch, wie diese, alles Ungleichartige von sich abstoßen, und ungenutzt ihre Kraft in sich verzehren, wenn sie auf keinen Gegenstand treffen, der in ihren Wirkungskreis taugt. Ich gefiel mir außerordentlich in diesen zugespitzten Einfällen, die ich vorbrachte, und geriet darüber so in Feuer, daß ich nicht gewahr ward, was neben mir vorging – nicht eher sah, daß der Mundschenk eine Flasche Champagner lüftete, bis der Schall des herausgetriebenen Korks – bis der Name Sillery – bis das schäumende Glas, das er mir vorhielt, sich meiner Einbildungskraft schon bemeistert, und mich sechs Wochen zurück in das Bacchanal versetzt hatten, das ich am achten Januar mit jenem Gesindel feierte, das leider nur allzu magnetartig auf mich gewirkt hat. Heftiger kann in einer belagerten Stadt ein spielendes Kind nicht erschreckt und aus der Wiege geworfen werden, wenn das feindliche Signal in die Höhe steigt und der allgemeine Sturmlärm nachfolgt, als ich in diesem Augenblicke der widrigsten Erinnerung. Mag dir diese Vergleichung noch so poetisch vorkommen, sie ist darum nicht weniger treffend und wahr. Ich fühlte mich von dem unglücklichen Bilde, in welchem ich mich wie in dem niedrigsten Stücke von Teniers abgemalt sah, so gepreßt, daß mir die Lippen bebten, und mein Auge in Tränen stand, noch ehe der Schaum im Glase zerronnen war. Armer Wein, seufzte ich im stillen, der auf demselben Berge gewonnen, vielleicht auf demselben Stocke mit jenem gereift ist, der mir das häßliche Herz einer Heuchlerin enthüllte. Wäre mir dort dein Aufbrausen nicht ekel, dein Name nicht zum Mißlaute geworden, wie süß würdest du hier an der Seite eines edeln Freundes mir schmecken, und mit welchem Feuer würdest du meine Lobrede auf die gesellige Tugend beleben!

Saint-Sauveur, ob er gleich meine innere Bewegung gar nicht zu bemerken schien, kam ihr doch auf das tätigste zu Hülfe, denn er unterbrach mein angreifendes Selbstgespräch, indem er den Stuhl rückte und aufstand. Es ist die leichteste Art, der Seele eine andere Richtung zu geben, indem man dem Körper eine andere anweist. Der Unterschied, ob mich der Wind von der oder jener Seite anbläst, ob ich rechter oder linker Hand an meinem Schreibetische sitze, ob ich in einen Garten oder in einen Kirchhof blicke, bewirkt bei mir, wo nicht eine gänzliche Umschaffung meiner Denkungsart, doch eine merkbare Verschiedenheit der Begriffe. So ging es mir auch diesmal. Der Zauber, der mich nach Avignon versetzte, schien nur innerhalb des Zirkels meines Stuhls zu liegen. Sobald ich über ihn hinaus in das Fenster getreten war, will ich zwar nicht geradezu behaupten, daß ich mich meiner reuevollen Empfindungen schämte, aber ich bekam doch Fassung genug, den ganzen Auftritt für einen seltsamen Beweis der Nervenschwäche auszugeben, die mir noch von meiner Krankheit anhing, und mein Freund war auch so gut, es für bekannt anzunehmen. – »Wenn dich nur,« sagte er scherzhaft, indem er zugleich befahl, daß sein Phaëton vorrücken solle, »der Lärm nicht zu sehr erschüttert, den jetzt die schlagenden Nachtigallen in dem Birkenwalde treiben, wo ich dich hinführen will.« – Das brachte mich auf einmal aus meiner weinerlichen in eine bittere spaßhafte Stimmung. – »Birkenwald? Nachtigallen?« fing ich mit spottendem Tone seine Worte auf, »das klingt ungefähr in diesem Lande so hohl, als wenn man in Novazembla von Schmetterlingen und Orangen spräche.«

Ich habe gewiß schon in meinem Leben witzigere Einfälle gehabt, und beißendere Antworten ausgeteilt, als diese war, ohne mich ihrer zu rühmen; besonders seitdem ich bemerkt hatte, daß ein Bonmont Dienstags eine ganze Gesellschaft belustigen konnte, welches Mittewochs, wenn es der Erfinder als bewährt in andere Häuser herumtrug oder in seine Schriften aufnahm, gleichgültig angehört und gelesen wurde. Der scharfsinnige Herr mochte noch so genau Zeit, Gelegenheit und Umstände seines Epigramms angeben, keine Seele bekümmerte sich um den kleinen Balg, sobald er über die Geburtsstunde hinaus war. So würde ich also auch diesmal meine spitzige Gegenrede gar nicht erwähnt haben, hätte sich nicht ihr schlaffer Stachel eine Stunde nachher gegen mich selbst gekehrt, und mir eine Beule zugezogen, die ich nicht anders zu heilen wußte, als daß ich sie, unter großen Schmerzen, aufstach. Gott bewahre doch jedermann vor witzigüblen Launen! Ich konnte der meinigen nicht mehr Herr werden. So abschmeckend sie anfangs war, eine so laugenhafte Schärfe nahm sie an, als wir bei dem Schauspielhause und der bunten Menschenmenge, die dahin strömte, vorbeifuhren; und sie ward noch beißender, als wir unter die Frachtwagen auf der staubigen Chaussee gerieten: denn, statt es lieber gerade herauszusagen, wie ungern ich heute die Stadt und Alziren um die Bekanntschaft einer Bastide vertauschte, gab ich es durch mein Bezeigen auf eine viel auffallendere Weise zu erkennen. Ich schmiegte mich quer über in die Ecke des Wagens, drückte meinen runden Hut in die Augen, und bei jeder Staubwolke, die aufstieg, hielt ich Mund und Nase so geziert zu, als ob die Sandstraßen um Berlin mit Teppichen belegt wären. Jeder Sonnenstich schien ein Epigramm in mir zu entwickeln, und mir zu einer sinnreichen Anspielung zu verhelfen, die den kontrastierenden Unterschied meines fruchtbaren Vaterlandes mit der dürren Provence auf die ungesuchteste Art, wie ich glaubte, in das Licht setzte. Indem ich mich mit meinem Handschuh fächelte und mir den Hals lüftete, sprach ich entweder von den schattigen Alleen, die nach Charlottenburg führen, oder erinnerte meinen Freund an unsere kleinen Soupers in den Lauben zu Sanssouci. Ich war wie ausgetauscht, Eduard, fühlte in meiner Ungezogenheit weder den scharfen Verweis, der in dem Stillschweigen des Marquis lag, noch ließ ich mich durch den Gedanken, wie er doch nicht mehr, als sein Land erlaube, zu meinem Zeitvertreibe gewähren könne, so wenig irre machen, daß ich endlich sogar Hagedorn und Kleisten zu Hülfe nahm, um die große Wahrheit zu bestätigen, daß nichts in der Natur an Reiz über den Eintritt des Frühlings in Deutschland und unsern Maimonat ginge. Das Blut trat mir bei dieser vaterländischen Erinnerung in das Gesicht. – Ich blickte wild meinem Freund in die Augen. Er faßte mich bei der Hand und: »Was ist dir, lieber Wilhelm?« fragte er verwundert. – »O der herrlichen Dichter!« antwortete ich mit beschwerter Stimme. »Sie haben das Bild des Mais mit einer solchen Gewalt in mir rege gemacht, daß ich dich bei Gott versichern kann, lieber Saint-Sauveur, ich glaubte in diesem Augenblicke jenen Monat erreicht zu haben, unsre Frühlingsvögel zu hören, und den balsamischen Duft unsrer jungen Birken zu atmen. Eine lebhafte Einbildungskraft ist doch eins der wichtigsten Geschenke Gottes. Sie weiß dem Betrug die Gestalt der Wahrheit zu geben und unsre Wünsche in wirklichen Genuß zu verwandeln.« – »So wie sie«, fiel mir Saint-Sauveur in das Wort, »die auffallendste Wahrheit zu Betrug herabwürdigen kann.« – Dieser Einwurf meines Freundes war so paradox, daß ich ihn unmöglich ungerügt hingehen lassen konnte. – »Ein ganz neuer Satz,« sagte ich höhnisch, »aber wo ist der Beweis dazu, lieber Marquis? Willst du ihn führen?« – »Ja,« war seine bestimmte Antwort: und wahrlich, Eduard, er führte ihn, und wie? Ganz nach seinem gestrigen System: denn nie hat mich ein philosophischer Beweis durch eine angenehmere Evidenz überrascht als dieser. Die Wendung, deren er sich dabei bediente – sehr verschieden von den Subtilitäten der Scholastik – kam aus seiner und seines Kutschers Hand, an dessen Arm die Schnur befestigt war, die er anzog. Ein Griff in den Zügel, ein Hieb mit der Peitsche, und seine Behauptung – ich hätte vor Scham vergehen mögen – war vollständig erwiesen. Was ich eine Minute vorher für Magie der Einbildungskraft hielt, war Wirklichkeit. Ich hörte die Nachtigallen mit meinen körperlichen Ohren, und sog die besungene deutsche Mailuft mit beiden Lungenflügeln in mich – denn hier siehst du die Beule, die ich aufstechen muß – wir befanden uns, wie durch einen Zauberstab, in eine lange Allee von hundertjährigen Birken versetzt.

Ich konnte in der Fülle meines Erstaunens nicht zu Worte kommen, so gewaltig sie sich auch bis zu meinen Lippen vordrängten, war lange verloren in meinem Gefühl, ehe meine scheuen Blicke sich an meinen Freund wagten, und um Vergebung des Unsinns der vergangenen Stunde anflehten. Er verstand sie: aber er bestrafte mich nicht durch Gegenspott, so sehr ich ihn auch verdiente, sondern durch Güte. – »Reisende«, sagte er mit freundlicher Stimme, »sollten nie absprechende Urteile über ein fremdes Land fällen, bis sie nicht alle seine Winkel durchkrochen haben. Könnte ich dich doch, lieber Wilhelm, von allen deinen kleinen Vorurteilen so glücklich heilen, als es mir bei diesen gelang! denn sie hauptsächlich sind es, deren Kur mir Sabathier überlassen hat. Wie froh bin ich, daß ich dich bis jetzt ruhig in deiner trotzigen Lage erhalten konnte! Ein einziger Blick deiner Augen neben der Querlinie, auf die sie hinstarrten, würde dir schon von weitem das Ziel der Belehrung, die ich dir aufhob, entdeckt, und ihre gute Wirkung und deine Epigramme geschwächt haben. Jetzt blicke nur, ohne dich weiter zu schämen, an diese hohen Birken hinauf. Gibt es wohl in Charlottenburg ihresgleichen? Siehe, mit welcher Pracht unsere immer grünende Eiche sich hier ausbreitet. Wie reich würde sich euer König dünken, wenn ein solcher Fremdling seinen Park verschönerte! Sättige dein Auge an unserem Besenreisig, an dem gelbblühenden Geniste, das als eine Seltenheit in euern Gewächshäusern gepflegt wird, bade dich in dem Aushauche unserer würzhaften Kräuter und gestehe – ich verlange keine andere Genugtuung – daß euer Wonnemonat nicht reizender sein kann als unser Hornung.« – Es hätte mir die hartnäckigste Vorliebe meiner Heimat so fest in dem Herzen sitzen müssen, als einem Lappländer, wenn ich nur ein Wort gegen die offenen Beweise und die billige Forderung meines Freundes hätte vorbringen wollen. Seitdem ich Atem schöpfe, hat mich von allen den Maitagen, die ich in Deutschland erlebte, keiner in ein solches Wohlbehagen versetzt als die gegenwärtige Stunde. Das konnte ich ihm mit Wahrheit sagen. Es war seit meiner Krankheit der erste Ausflug ins Grüne, und die Sinnlichkeit hatte ein desto leichteres Spiel, da die Saiten, die sie rührte, frisch aufgezogen und zur Freude gestimmt waren. In dem sultanischen Gefühle eines mühelosen Genusses lag ich in dem schaukelnden Phaëton, freute mich der wohlriechenden Bogengewölbe über mir und des begleitenden Gesangs der Vögel, wovon ich bei dem gehemmten Trabe der Pferde keine Note verlor. Wie ein kraftvoller Jüngling, dem ein langes frohes Leben vorliegt, sich am Ausgange desselben seinen nebligen Grabhügel als eine Ruhebank denkt, die seiner Ermüdung wartet, so blickte auch ich auf den geraden breiten Weg hin, der sich durch den unabsehlichen Wald zog – dachte mir an dessen Ende die enge heiße Bastide meines Freundes, zwar nicht als einen Lustort, aber als eine Schlafstätte, die mir desto erträglicher vorkam, je später ich sie zu erreichen hoffte. War es also nicht schade, daß dieses wollüstige Hingeben meiner selbst, diese auf Genuß und Zeitgewinn gezogene fröhliche Rechnung, durch eine Grille des Marquis gestört wurde, zu der ich mir noch dazu vorwerfen mußte, ihm die erste Veranlassung gegeben zu haben?

Er befahl seinem Kutscher zu halten, blickte mir in meine sanft hinsterbenden Augen, und nötigte mich doch unter folgendem Gespräche aus dem Wagen. – »Guter Wilhelm! wenn ich dich so über der Natur brüten sehe, sollte es mir beinahe leid tun, dich von deinem behaglichen Neste aufzuscheuchen.« – »Wieso, lieber Marquis?« – »Ja nun, hier müssen wir uns auf die Füße machen und einen andern Weg suchen.« – »Einen andern Weg? Wohin denn?« – »Nach meiner Bastide. Du denkst doch wohl nicht, daß sie am Ende der großen Allee liegt? Das wäre der Rede noch einmal wert.« – – »Das, bester Mann, habe ich wirklich geglaubt.« – »Nun, so hattest du dich wieder einmal in dein Vaterland verflogen gehabt. Ein Schlag von Sommerhäusern wie die unsern, und eine prächtige deutsche Allee zum Zugange würde gut passen.« – »Aber, ums Himmels willen, wie kommt man denn zu deiner Bastide?« – »Eigentlich, lieber Freund, auf der Chaussee, die wir halben Weges verlassen haben; kürzer aber um vieles, wenn wir uns hier seitwärts, so gut es gehen will, durch das Gebüsch helfen. Es kommt auf eine böse Viertelstunde an, so treffen wir auf einen verlassenen Steinbruch, hinter welchem meine kleine Besitzung liegt. Ich habe ihn kürzlich dazu gekauft, ihn vollends durchbrechen lassen und mir dadurch einen weit nähern Eingang verschafft, der nur einige äußere Verzierung bedarf, um als etwas Rechtes in die Augen zu fallen. Da sind mir nun eine Menge Pläne durch den Kopf gegangen, ohne daß ich noch mit mir einig geworden bin. – Du kamst mir wie gerufen. Dein Ausspruch soll entscheiden. Das beschloß ich gestern vor dem Hause des italiänischen Baumeisters, bei dem du in der Lehre gewesen bist, legte deswegen Beschlag auf dich und deine Talente, und rechnete auf deine Vergebung, wenn ich dich mit dieser Spazierfahrt überlistete, trotz der Alzire, die dich beinahe mir abwendig gemacht hätte. Du siehst, daß ich meine eigennützigen Absichten gar nicht beschönigen will. Wie leicht könnte ich sie sonst hinter deine Nachkur verstecken! In Rücksicht dieser müßtest du mir noch danken, daß ich dein welkes Gesicht an die Sonne gebracht habe.« – »Hol der Henker seine kahlen Entschuldigungen,« murmelte ich in den Bart; »die machen weder seinen Antrag noch den Gang besser. Meine Talente? Das ist eine triftige Ursache! Ihretwegen konnten wir sitzen bleiben.« Und so stieg ich aus.

Es ist doch in Wahrheit eine Verlegenheit, wie es nur eine gibt, wenn man durch unverdientes Zutrauen anderer zu unsern bessern Einsichten, sich mit seiner Ignoranz aus einem schönen gebahnten auf einen so holprigen, verwachsenen Weg gedrängt sieht, als der war, den wir jetzt einschlugen, – um am Ende eines ermüdeten Gangs oder einer verlornen Lehrstunde seinem Gönner darzutun, daß er sich in der Wahl unser geirrt habe. Mit hundert Dingen in der Welt bin ich in dergleichen Gedränge gekommen; aber mit der Baukunst widerfuhr es mir heute zum erstenmal. Bei alle dem fehlte es mir an Entschlusse, meiner falschen Scham herzhaft entgegenzutreten, mich aufs Maul zu schlagen, und mir durch ehrlichen Widerruf einen Ausweg zu bahnen. Das wäre unstreitig das klügste gewesen: aber es fiel mir nicht bei, und um so viel weniger, als mich schon jede unerwartete Aufforderung so aus der Fassung bringt, daß ich mich immer auf das verkehrteste dabei benehme . . .

So betroffen, daß ich mich nicht besinnen konnte, schlich ich denn auch hier dem Marquis nach, ritzte mich in allerlei Dornen, lernte alle Gattungen von Kletten und Nesseln der Provence kennen, und nach manchen Fehltritten, die mich aufhielten, sah ich denn endlich auch an dem unförmlichen Steinbruche, der die Mitte einer Gebirgskette einnahm, die nach allen Seiten hin die Gegend sperrte, jene schwere Aufgabe liegen, die ich zu lösen beschieden war. »Nun, was meinst du?« fragte der Marquis, und blickte mir forschend in die Augen, die ich geschwind in Ordnung gebracht hatte, und dann den Felsen so listig nachdenkend anstarrte, wie dieser und jener eine Skizze von Raphael. Da stand ich nun wie am Pranger, und brachte nach einer ängstlichen Weile doch nur ein paar abgebrochene Worte hervor. – Ob ich wirklich die Ausrottung des nahen Gesträuchs zur Gewinnung eines Vorplatzes und die Erweiterung des Berggangs in Vorschlag brachte, lasse ich dahingestellt sein; es war wenigstens der Sinn, den Saint-Sauveur meiner verworrenen Rede unterschob und mit seinem Beifall beehrte. Er hätte mir jede andere Meinung andichten können, ich würde sie in der Verlegenheit für die meinige erkannt haben. – »Wenn diese notwendige Vorkehrung«, fuhr ich nun schon mit festerer Stimme fort, »getroffen ist, würde ich das Portal mit zwei toskanischen oder lieber noch korinthischen Säulen verzieren, und oben darüber eine Marmortafel mit einer passenden Inschrift aus dem Virgil oder Horaz setzen lassen: O rus, zum Beispiel, quando te adspiciam, oder so etwas dergleichen.« – »Das läßt sich hören,« sagte mein Freund; »nur will ich dich bitten, lieber Wilhelm, wenn wir ins Haus kommen, mir deine Idee durch eine kleine Handzeichnung deutlicher zu machen: denn aufrichtig zu gestehen, weiß ich nicht einmal, wie sich die toskanische Säulenordnung von der korinthischen unterscheidet.« – Unter uns, Eduard, war das eben auch mein Fall! »Ich bin,« fiel ich ihm ins Wort, »in architektonischen Zeichnungen seit einigen Jahren ganz aus der Übung.« – »Nun gut,« erwiderte er, »so tue mir nur den Gefallen, deinem italiänischen Lehrmeister den Riß anzugeben, wenn wir wieder in die Stadt kommen. Einstweilen laß uns auf jenem bemosten Stein ausruhen und uns über dieses Gebirge hinweg in dein prächtiges Sanssouci zaubern. Ich sitze oft stundenlang in meinem beschränkten Gärtchen, und weiß mir es in Gedanken durch die malerischen Aussichten zu erweitern, die mir vor neun Jahren dein Vaterland öffnete.«

Der gute Saint-Sauveur! Er hätte mir zur Erholung von meinen Baugeschäften nichts Dienlicheres bieten können. Ich ward dir auf einmal so beredt und anmaßlich, als ich mich kurz vorher verlegen und gedemütigt gefühlt hatte, und auch Er – ohne des Schaustücks seiner Birkenallee weiter zu erwähnen – irrte gutmütig und heiter mit mir durch alle die niedlichen Sandgänge, die labyrinthisch unsere berlinischen Lustgärten durchschlängeln; die sanfte Luft, die uns umwehte, war ihm nur ein Vehikel jener aromatischen Düfte, die unser Tiergarten seinen jüngern Wangen zuspielte, und die er damals nicht sinnlicher in sich ziehen konnte, als er sie jetzt durch die Organe der Erinnerung einsog. Ach, wäre Sie nicht, diese gutmütige Begleiterin auf unsern Wanderschaften, so würde das längste Leben, wenn es einmal hinter uns liegt, nur ein verlornes Geschenk, und nicht viel besser als das Leben einer Mücke – eingeschränkt auf einen einzigen Tag sein. – »Ein schöner wahrer Gedanke!« sagte der Marquis, als ich ihm solchen mitteilte. »Er soll uns, wie der Faden der Ariadne, durch den dunkeln Irrgang meines Vorgebirges leiten. Folge mir nur beherzt, lieber Wilhelm, und werde nicht mißlaunig über die hundert bösen Schritte, die du etwa noch bis zu meinem Sofa zu tun hast.«

Ich ergriff geschwind den Rockzipfel meines Führers, um seine Spur nicht zu verlieren, und tappte ihm nun, unsicher wie in der Nacht, durch die kühle Bergkluft nach, die so im Finstern fortlief, daß ich den Ausgang für noch sehr entfernt hielt, als auf einmal – Gott im Himmel, wie ward mir zumute! eine Tür vor mir aufsprang, und mir – welch ein Übergang von Blindheit zum Licht! – ein Tal, ein unübersehbares und so entzückendes Tal öffnete, daß mein äußerer Mensch durch die heftige Bewegung, in die mein innerer bei diesem unnennbaren überraschenden Anblicke verfiel, wie gelähmt davorstand, und mein Puls einige Sekunden stockte, ehe sich meine gen Himmel strebenden Hände erheben, und ein Strom von empfindsamen Tränen dem gepreßten Herzen Luft machen konnte. Ich habe dich oft freundlich, schön und groß gesehen, mannigfaltige Natur, habe dich in der Pracht deines Schmuckes bewundert, den dir deine Freunde, und aus dem Flitterstaate gehoben, den deine Feinde dir anlegten; aber noch nie hattest du dich mir in deiner höchsten Herrlichkeit – nie zur Anbetung deines unermeßlichen Schöpfers in so unwiderstehlich anlockenden Reizen offenbart, als an diesem glücklichen Abende! Was faselte ich vorhin von Nachschmack des Vergangenen, von der Erinnerung eines Lebens, das hinter uns liegt! Mein Vaterland, die Stadt Deiner Geburt, samt den jugendlichen Freuden, die ich jemals genoß – alles war jetzt aus meinem Bewußtsein verschwunden. – Ich fühlte nur das Gegenwärtige, und war ausschließlich glücklich in ihm . . .


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