Moritz August von Thümmel
Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich
Moritz August von Thümmel

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Den 21. Dezember

Heute, in der Wärme eines Frühlingsmorgens, bezog ich mein Dörfchen, das den Namen Caverac führt und nur anderthalb Stunden von der Stadt entfernt ist. Es ist einem Baron zuständig, der um seinen König herumkriecht und sein Schloß unbesucht läßt, das ohne Hülfe unter seiner eigenen Pracht und Größe erliegt. Die kleinen Bauerhütten, die es umzingeln, sehen wie Brocken aus, die Wind und Wetter von seiner Felsenwand abgespült haben: aber sie liegen sicher und ruhig, indes die zerstörende Zeit unermüdet an dem Einsturze des nachbarlichen Kolosses arbeitet. Ich nahm ohne Umstände Besitz von dem Kästchen, das Johann, mit einem Gefühl, das seinem Herzen Ehre macht, für mich ausgesucht hatte, und möchte es, so hölzern es ist, für keinen Preis gegen den traurigen Aufenthalt in jener Steinmasse vertauschen, die ihm zur belehrenden Aussicht gegenüberliegt. – Und die Bewohner dieser Hütte – wer wollte nicht mit ihnen zufrieden sein? . . .

*

Reine, unverdorbene Natur! Warum verwies ich meinem Johann diesen Ausdruck, der, so oft er auch gemißbraucht wird, doch auf diesen gesunden, tätigen, fröhlichen Mann und auf sein junges, reizendes, liebevolles Weib so passend ist, daß ich für diese glücklich zusammen Gepaarten keinen schicklichern ausfündig zu machen wüßte.

Ein Morgen Land, der an ihre Hütte anstößt, mit Oliven, Feigen und Maulbeerbäumen besetzt; eine Ölpresse und ein Behälter im Vorhause für ihre Seidenwürmer: das sind die einfachen Mittel ihres Unterhalts, und nie, sagen sie, habe sich noch Mangel und Schwermut ihrer Schwelle genähert. Sie treiben ihre Handarbeit wie ein Spiel, durch das sie Hunger, Schlaf und Stärke der Liebe gewinnen. An die Seele denken sie nicht: diese ist bei ihnen ein Acker, der von selbst nur reine und gesunde Frucht tragen kann und keiner mühsamen Bearbeitung bedarf. Die Kunst, zufrieden zu sein, liegt ihnen in dem Herzen, wie die Kunst zu leben in den Augen. Sie nützen diese natürlichen Eigenschaften, ohne einen Augenblick über die Mechanik derselben nachzudenken.

Da es für heute zu spät war, einen neuen Küchenzettel zu entwerfen, so mußte ich mich diesen Mittag mit ihrer gewöhnlichen Kost begnügen; und dazu gehörte fürwahr keine große Verleugnung. Kräftiger, behaupte ich, kann man nicht kochen, und freundlicher kann man nicht vorlegen als dieses Weib. »Wer hat sie,« sagte ich zu mir selbst, wenn sie durch Wahrheit und Einfalt ihrer Rede mein Herz an sich zog, »wer hat sie ohne Kenntnis, ohne Bücher, ohne Welt gelehrt, so bemächtigend zu werden? Oder ist eben dieser Abgang Ursache, daß sie es in diesem Grade ist?«

Mein Bette, mein hölzerner Stuhl und ein Tisch für meine Schreiberei und kleine Gerätschaften stehen hinter einem Verschlage, der beinahe das Viertel von der Stube einnimmt, – und damit sind hinlänglich die Grenzen des Eigentums und der erkünstelten Schamhaftigkeit gewahrt. Alles lehrt mich hier, unter welchem geringen Aufwande menschliche Zufriedenheit bestehen kann.

Ich bot meiner Wirtin einen Vorschuß von zwölf Laubtalern an, um die Kosten der vergrößerten Wirtschaft zu bestreiten, da sie ja wohl auch, solange ich bei ihnen bin, meine Gäste sein müssen. – Könnte ich mich nur immer so auslachen sehen!

»Wollen Sie ein Jahr bei uns bleiben, mein Herr?« sagte sie: »Was soll ich um des Himmels willen mit so vielem Gelde anfangen? Spärlich und nährlich! mehr kann mein kleiner Herd und meine Kochkunst nicht bestreiten. – Sie müssen, mein Herr, ich kann Ihnen nicht helfen, mit zwei Gerichten zufrieden sein. Ihre Gesundheit und Ihre Börse werden dabei gewinnen; und doch sollen Sie mit rötern Backen von uns gehen, als Sie mitgebracht haben. Geben Sie mir drei Stücke von Ihrer Münze; ich will zusehen, wie weit ich damit komme, und übrigens tun Sie nur, als ob Sie zu uns gehörten. In zweien Tagen, wette ich, schicken Sie Ihre Arzneien ins Spital; denn in unserm Dorfe kann sie kein Mensch brauchen.« – Und so flog sie, die sechzehnjährige Hausmutter, zu ihrer ungekünstelten Wirtschaft.

Der Mann übernahm, mich in Bewegung zu setzen. Er führte mich erst um das Schloß seines Lehnsherrn herum. »Wenn Sie«, sagte er, »die großen Säle sehen könnten, die hier übereinander gewölbt sind, so würden Sie denken, der Mann habe zum Riesengeschlechte gehört, der sie gebaut hat; und doch soll er nicht mehr Mensch gewesen sein, als sein Enkel, der ein so zierliches Männchen ist, daß er in einem Vogelbauer Raum hätte. Es hängt mancher Schweißtropfen meines armen Ältervaters an diesen Steinen, der noch mit zu den dicken Mauern gefront hat, die jetzt wieder einstürzen. Seit funfzig Jahren ist kein Rauch aus diesen verzierten Schornsteinen gestiegen. Die Besitzer dieses unnützen Gebäudes fliehen es wie einen Abgrund, der ihr Erbteil verschlungen hat, und mir und andern stiehlt es die schöne Aussicht auf das freie Feld, das darhinter liegt. Da lobe ich mir doch die kleinen Häuser von Klebwerk, wie das meine, die man ohne Kosten selbst flickt, wenn sie wandelbar werden – um ein geringes wieder aufbaut, wenn sie zusammenfallen, und in denen starke mutige Menschen wohnen, die darin grau werden.«

Alles Verödete, liebster Eduard, läßt auch das Herz leer. Wir wurden erst froh, als wir das gesellige Dorf durchwandelten. Was für ein ganz anderes Gemälde für den Geist gegen jene Einöde des kummervollen Stolzes! Hier war alles lebendig. Bald fuhr der Amorskopf eines rotwangigen Jungens zu seinem kleinen Fenster heraus; bald begleiteten uns die Rabenaugen eines blühenden Mädchens über die Gasse. Hier kam uns der Reif entgegengerollt, hinter dem ein Dutzend spielende Kinder hersprangen. Dort entblößt ein freundlicher Alter sein graues Haupt, um uns seinen patriarchalischen Segen zu geben. Aus allen Ecken, unter allen Strohdächern hervor, blickte Friede und Freude, Tätigkeit oder Ruhe nach vollbrachter Arbeit.

Welches Auge könnte so verwöhnt sein, an diesen bevölkerten Hütten die Verhältnisse eines Palladio, und in dieser Männer Leben und den Spielen ihrer Kinder den Maschinengang der großen Welt zu vermissen?

Das Dorf ist reinlich, und seine Lage höchst angenehm. Ich machte auf unserm Rückwege noch eine Entdeckung, die mir viel wert ist. Sein kleines Gebiet schließt einen Berg ein, dessen mit Fichten, Mandelbäumen und Geniste bunt untereinander bewachsenen Gipfel ich mir zum Ziel meiner Morgengänge ausersehen habe.

So fehlt mir hier nichts, was meine einfache Diät bedarf. Johann tut sich nicht wenig zugute auf die Zufriedenheit, die er an mir wahrnimmt, und brüstet sich manchmal wie ein Magister, der sich seit kurzem zum Wegweiser der wahren Glückseligkeit, wie man sagt, habilitiert hat.

*

Den 22. Dezember

Ich trennte mich gestern von Dir und meinem Tagebuche eher, als ich gewohnt bin. Das glückliche Paar meiner Hausleute eilte, nach hergebrachter Dorfsitte, mit herannahender Dunkelheit seinem Bette zu, und ich – zu gutmütig, sie durch das Licht, das meine Schreiberei erleuchtete, in ihrer verdienten Ruhe zu stören, ahmte ihnen nach, ohne schläfrig zu sein, und bin herrlich für meine Verleugnung der großen Welt belohnt worden.

Der zeitige Schlaf vor Mitternacht, in der mir ungewöhnlichen Stille, die mich bald einwiegte, brachte mir heute einen ebenso ungewöhnlichen zeitigen Morgen ein. Ich strebte schon dem Fichtenberge zu, da noch die Glut in graulichem Nebel unter ihm lag, sah den Vorhang sich heben, und gewann dadurch den überraschenden Anblick des immer glänzender hervortretenden Schauspiels. So sehr es mein Herz entzückte, so neu war es ihm auch – neuer als ich gegen die Natur verantworten konnte. Ich tat ihr meine öffentliche Abbitte des verwegenen Gedankens halber, den ich mir so oft erlaubte: als habe sie mir nichts mehr vorzusetzen, das den Gaum eines so übersatten Menschen, wie ich, noch reizen könne.

Was für eine Allgewalt hat nicht die Bergluft über die bessern Empfindungen der Seele! Weißt Du es noch nicht aus eigner Erfahrung, so eile Freund, sie zu gewinnen, sobald es nur euer eiserner Himmel erlaubt . . .

Nach dem köstlichen ländlichen Mahl, das mich an der Seite zweier guter Menschen erwartete, als ich hungrig zurückkam, führte mich mein Wirt auf den allgemeinen Kegelplatz des Dorfs, um mich mit einem Blicke die ganze Gemeinde kennen zu lehren. Der Nachmittag ist in diesem Lande nur dem Vergnügen – und keinem mehr gewidmet, als dem Kegelspiele; und nichts kann wohl deutlicher von dem leichten Nahrungserwerb seiner Bewohner zeugen, als dieser Hang. Der Seidenwurm erfordert nur sechs Wochen Aufsicht und Wartung, wie unsere Kindbetterinnen, und belohnt dennoch dem Landmann weit reichlicher seine kleine Mühe, als der fruchtbarste Getreidebau und die fruchtbarste Frau bei uns. Die Olivenernte schlägt selten fehl, und der äußerst wohlfeile Preis des trefflichsten Weines zeugt von seinem Überflusse. Was für Forderungen können also diesen guten Leuten noch zu befriedigen übrig bleiben, als die Forderungen des Vergnügens?

Mein Begleiter war allen willkommen und ich mit ihm. Ich nahm indes nur einen mäßigen Anteil an ihrem Zeitvertreibe, da ich nicht weit davon die jüngere Klasse des Dorfs nach dem Takte einer Leier ihren Mut auswalzen sah. Ich stahl mich unvermerkt von der Seite meines Führers hinweg und labte mein Auge an dem Ausdrucke der Freude – an den feurigen Blicken der Jünglinge und dem pochenden Herzen ihrer Geliebten. Blaise, mein Freund – immer erlaube mir, auch ihm diesen Namen zu geben – überraschte mich, da eben meine Augen auf dem liebevollen Gesichte eines Mädchens ruhten, das der Huldigung eines Sultans würdig gewesen wäre. Er sah es, und fand ganz natürlich, daß mir dieses Geschlecht nicht gleichgültig sei.

»Wenn Sie morgen«, redete er mich auf meine Miene an, »mit meiner Frau allein essen wollen, so will ich Ihnen zwei Stunden von hier eine gewisse Margot holen, die alle Schönheiten unsers Dorfs weit übertrifft; ein glückliches, munteres Geschöpf, die Tochter meiner Schwester und unser aller Liebling. Sie soll, wenn Sie es gut finden, solange bei uns bleiben, als Sie bleiben werden: – ich weiß, Sie werden mir es danken.«

Nun erschrak ich zwar nicht wenig über den Zuwachs unserer Gesellschaft, da mir der Gelaß des Hauses nur zu bekannt geworden war; doch hielt ich es weiter nicht für nötig, ihm mein Bedenken mitzuteilen: noch weniger getraute ich mir, ihn die Gefahr merken zu lassen, die für mich aus der nahen Nachbarschaft eines Geschöpfes entstehen könnte, das seiner Beschreibung glich; denn dafür hatte der gute Mann keinen Sinn. – Es bleibt mir sonach nichts übrig, als in Geduld zu erwarten, was sein Versprechen leisten wird . . .

Den 23. Dezember

. . . War ich diesen Morgen zufrieden, so habe ich nicht weniger Ursache, es auch den Nachmittag zu sein. – Ich habe, einem Engel von Weibe gegenüber, meinen Hunger an dem schmackhaftesten Braten gestillt, wie ihn der König nicht essen kann, wenn er seine Schöpse nicht auch mit Rosmarin füttern läßt, der den hiesigen die gewöhnlichste Weide ist – habe eine Flasche Landwein getrunken, den man den Kennern in Berlin mit aller Ehre für Burgunder vorsetzen könnte, und kaum stand ich mit glühenden Wangen von meinem Schmause auf, so trat mein Wirt mit seiner Nichte an der Hand herein und brachte mehr Leben mit, als ich brauche.

Ich will es Dir nicht zuleide tun, die kleine Margot mit allen ihren Annehmlichkeiten zu schildern; doch sei versichert, daß sie von euern Operngesichtern wenigstens so weit absteht, als die aufblühende von einer bis zur Hagebutte verschrumpften Rose. Und so ein Mädchen wird mir aus lauter Gutherzigkeit zugeführt! Für wie alt muß mich mein ehrlicher Wirt halten, wenn er glaubt, daß dies nichts zu bedeuten habe?

Ich habe hierüber schon die erste Viertelstunde ihres Hierseins eine mißliche Erfahrung gemacht. – Ich glaubte etwas recht kluges zu tun, setzte mich mit einem philosophischen Auge den schalkhaften Augen des Mädchens gegenüber und wollte berechnen, durch was für natürliche Kräfte es möglich sei, daß dieser Körper, dieser Geist, einer so unbefangen, so unverschleiert und so ausgebildet als der andere – wie so viele leibliche und geistige Fülle einem dreizehnjährigen Kinde angehören könne? Aber, anstatt der Entscheidung der Hauptfrage näher zu kommen, fand ich mich am Ende nur in den Nebenumständen, und zwar so gefährlich verwickelt, daß ich meine Untersuchung aufgeben und Gott danken mußte, daß ich es noch zu tun imstande war.

Während ich dies niederschreibe, tragen die Leutchen, mir nichts, dir nichts, die Betten zusammen, auf denen die kleine Margot diese Nacht und die folgenden, kaum sechs Schritte von mir, ruhen soll. –

Nun ja – das Bette ist fertig, und ich habe das Fieber. – Ich muß an die Luft gehen, um meine Verlegenheit über diese Anstalten zu verschnaufen.

*

Ja, wenn nur alles so in der Luft verdunsten wollte, was dem Herzen zu viel ist! Zur Erhaltung des Gleichgewichts in unserer kleinen Welt wäre das eine treffliche Sache. – Ich habe eben keinen großen Zirkel um das Haus herum gezogen – da sitze ich dem Kinde schon wieder gegenüber, kaue an ihren kleinsten Bewegungen, und freue mich, wie in diesem Lande, man mag seine Blicke ausschicken, wohin man will, alles so nebellos ist. – Hat mir Jerom es nicht vorher gesagt?

Du bist wohl sehr gut, wenn Du mir erlaubst, in so abgebrochenen Sätzen fortzuschreiben: – aber ich kann nicht anders. – Ich werfe meine Gedankenblitze auf das Papier, wenn die Kleine zur Türe hinaus stürmt, und werfe die Feder ebenso geschwind weg, wenn sie wieder hereingehüpft kommt.

*

Das kann ein gefährliches Geschöpf für meine Ruhe werden, wenn es noch acht Tage älter unter meinen Augen wird, und der Eindruck, den es auf mich macht, mit jeder Stunde so fortsteigt wie heute! – Sie ist schon so bekannt mit mir, als wenn sie meine Tochter wäre. – Sie ruft, verschickt, befiehlt meinem Johann, wie es ihr einfällt – bald, glaube ich, wird sie auch mir befehlen. – Ich verlor keinen Laut ihrer Stimme, als sie mir alleweile von ihrem Hänfling erzählte, den sie so kirre gemacht hätte, daß er ihr aus der Hand fräße – und was sie für ein Glück mit den Blumen habe! – Sie dürfe, sagte sie, das dürreste Reis nur in die Erde stecken, so blühe es. –

Ich weiß es wohl, es sind armselige Kleinigkeiten, die ich Dir erzähle: sie sind es aber, Gott weiß es, wenn sie über ihre Lippen gehen, so wenig, daß ich mich kaum erinnere, etwas Geistreicheres gehört zu haben. –

Ich breche ab, liebster Freund, die kleine Gereiste schläfert. – Die Engel des Himmels mögen über ihre Ruhe wachen! – Ich will gern auch schlafen – wenn ich kann . . .

*

Den 24. Dezember

Ich habe einen Verlust erlitten, der mir nahe geht. Mein guter Mops ist gestorben und liegt nun unter dem großen Olivenbaume meines Wirts begraben. Wenn dem klügern Menschen nicht ausschließungsweise von jeder andern Kreatur die Ehre des Selbstmordes vorbehalten wäre, so möchte ich beinahe glauben, daß auch mein Mops, aus Schwermut, freiwillig die Welt verlassen habe. Es schien ihm unausstehlich zu sein, seinen Herrn vergnügt zu sehen; und seitdem Margot hier ist, die mir eine Runzel um die andere aus dem Gesichte wegwischt, bekam er jede Stunde eine mehr, und seit gestern abend, wo wir – ich und sie – freilich sehr munter zusammen waren, schien sein Verdruß aufs höchste gestiegen zu sein. – Er kroch in einen Winkel, und heute früh fand man ihn tot.

Ich gestehe, daß ich ihn seit einiger Zeit vernachlässigt habe, und es tut mir wirklich leid; denn es war ein gutes Tier, das mich liebte, und dem ich in jenen hypochondrischen Stunden meiner Reise manche nützliche Betrachtung verdankte . . .

*

Den 25. Dezember

O Jerom! Jerom! Du würdest mit mir zufrieden sein, wenn Du mich sehen könntest! Liebe und Freude durchströmen mein Herz. Wie geschwind ist unter diesem lachenden Himmel, in dem Umgange dieser seltenen Menschenart, die Rinde weggeschmolzen, die es umgab! Eine Schicht nach der andern dieses verhärteten Umzugs löste sich ab, und jetzt schwärmt es neu belebt, hebt sich und senkt sich, tobet und brauset, und ich kann seiner nicht mehr Herr werden. Sogar meine Berge und Wälder haben ihr ehrwürdiges Ansehen verloren, seitdem sie Margot mit mir durchschweift. Dies Kind der Natur badet sich selbst zu gern in dem Morgentau, fühlt selbst zu sehr das Behagliche der Bewegung, als daß sie in der Hütte bleiben und ihren Vorteil nicht absehen sollte, sich, sobald ich aus der Tür trete, an meinen Arm zu schlingen.

Heute mit dem frühesten erwachte sie, als ich eben nach dem Hute griff, der gerade über ihrem Bette an der Wand hing, und, wie ein aufgescheuchtes Reh, fuhr sie von ihrem Lager auf, so daß sie mir kaum Zeit ließ, meine Augen so lange wegzuwenden, bis sie ihr Röckchen über sich geworfen hatte. O Natur! Natur! – auch Koketterie, wie sie aus deinen Händen kommt, ist rührend! Ich habe manchmal ein Schminkpflästerchen aufkleben, manchmal eine Nadel feststecken müssen; aber nie tat ich es mit der Empfindung, die Margot in mir erweckte, da sie jetzt, so luftig als ich es wünschen konnte, mit der Bitte vor mich trat, ihr den vermaledeiten Sonnenhut aufzusetzen, der ihr so hübsch steht.

Sowie die Toilette in Ordnung war, erstiegen, durchliefen, umkletterten wir nun alles, was uns die Natur in den Weg warf, und sangen, schäkerten und lachten, als wenn die ganze Welt uns zugehörte. Auch mein Johann kam gestiegen, eben da wir beide Kinder versuchten, wer am weitesten in die Ferne blicken könnte, ob es ein Adler oder eine Krähe sei, die dort am Rande des Himmels ihr Spiel trieb? – Es war mir recht lieb, daß Johann kam. Ich rief ihm zu, und er nahm herzlichen Teil an unserer Freude.

Du glaubst nicht, wie viel dieser Mensch in meiner Achtung gewonnen hat, seitdem der enge Kreis, der mich hier umschließt, den Abstand unter uns beinahe ganz aufgehoben hat. Außer dem Boden, wo er schläft, hat er Einen Aufenthalt mit mir, die der ganzen Gesellschaft gemeinschaftliche Stube. Es ist der gutherzigste, natürlich gesittetste Mensch, den ich vielleicht aus Berlin hätte mitnehmen können; und es freut mich recht, daß ich noch in dem zehnten Jahre, da er mir dient, seine Bekanntschaft gemacht habe . . .

*

Den 26. Dezember

Ich sehe mit Zittern den Zeitpunkt sich nähern, der mich von diesen Söhnen und Töchtern der Natur trennen soll, und nichts freut mich dabei, als daß auch Johann den Kopf hängt, wenn ich von unserer Abreise spreche. Künftighin soll der gute Mensch nie anders als neben mir im Wagen sitzen; ja, auch wenn der Mops noch lebte, sollte er es. Sein Verstand, seine gute Laune und besonders das Mitgefühl des frohen Lebens, das ich hier führe, sind mir nützlicher und notwendiger geworden, als seine armseligen Dienste, die ich im Grunde entbehren kann.

Arme Margot! Auch dein empfindsamer Busen hebt sich; auch in deinen Augen glänzen Tränen der Wehmut; auch an deinem Liebe atmenden Munde regen sich Zuckungen eines heimlichen Schmerzes, wenn du an unsere Scheidung, an die Trennung von einem Freunde denkest, der dir nur gar zu lieb, gar zu teuer geworden ist. Oh, daß ich der Einzige sein möge, wie ich der Erste bin, der deinem Herzen die Freude verdirbt, zu der es die Natur so empfänglich gebildet hat!

Ich schwöre Dir, Eduard, daß selbst meine Eigenliebe kaum die so schnell angewachsene Leidenschaft dieses Kindes für mich zu erklären weiß – und doch ist sie da – in aller der Glorie da, durch die sich ein unerfahrnes Herz verrät, und die auch nur einem solchen gut ansteht.

Wenn mir manchmal das erste Blatt eines empfindsamen Romans ein unschuldiges, kaum den Händen der Natur entschlüpftes Mädchen ausstellte, das den Sonntag den Mann zum erstenmal erblickt, mit dem es auf der sechsten Seite, schon den Sonnabend nachher, bis über die Ohren in Liebe versunken, in so regelmäßiger Vertraulichkeit lebt, daß, wenn Autor und Leser rechnen können, man beinahe voraussagen kann, auf welchem Blatte sie Mutter sein wird; so lachte ich immer dem Geschwindschreiber gerade ins Gesicht! und war gewiß niemals bei der Taufhandlung. – Aber man sollte, weiß Gott, über nichts lachen!

Nicht weniger habe ich oft so krause, scheckige, verschlungene Figuren in den Wolken gesehen, daß die Bibliothek der schönen Wissenschaften den Maler, der es wagte, sie treu nachgebildet auf seine Landschaft zu bringen, ohne Widerrede für einen Narren erklären würde – und doch lag das Original, ohne ein menschliches Auge zu beleidigen – in der Natur. Schriebe ich nun einen Roman, lieber Eduard, so würde ich wenigstens aus Autorklugheit einen halbjährigen Umgang vorausgehen lassen, um das Herzklopfen, die glühenden Wangen und das Stammeln der Zunge dieses dreizehnjährigen Kindes wahrscheinlich zu machen: aber ich schreibe ein Tagebuch, und muß die Wolken malen, wie ich sie finde.

Seelen, die für einander geschaffen sind – ich fange es jetzt an zu glauben – streben einander entgegen, wie und wo sie sich antreffen. – Sollte es Dich indes, ungeachtet dieses freilich auch nur in Romanen vollgültigen Grundsatzes, dennoch wundern, wie ein so frisches, unbefangenes Kind, ohne sich durch mein blasses abgehärmtes Gesicht schrecken zu lassen, in dem kurzen Zeitraume von vier Tagen einen Weg von solchem Umfange zurückgelegt habe; nun, so wirst Du über die schnelle Veränderung wohl ungleich mehr erstaunen, die diese Spanne von Zeit in mir altem erfahrnen Krieger hervorbrachte.

Siehe! der eingewurzelte Begriff von der notwendigen Ungleichheit der Stände ist in den paar Tagen so locker bei mir geworden, daß nicht viel fehlt, so fliegt er in alle Winde. – Seit dem Augenblicke, da ich die Leidenschaft der Kleinen gegen mich entdeckte, wozu eben kein übermäßiger Scharfsinn nötig war, habe ich über eheliches und häusliches Glück, Sympathie der Seelen und Mißheiraten so deraisoniert, als wenn ich dafür wäre bezahlt worden. Über das Herz, behauptete ich sehr einleuchtend, sollte kein Grundsatz gebieten, der nicht aus der Natur, sondern aus unsern erkünstelten Verhältnissen entsprang. Verschwende ich hier nicht offenbar an den Götzen des Vorurteils eine Perle so rein und echt, als die Liebe nur ihren Lieblingen zuzuwenden vermag, und darf ich wohl hoffen, jemals in der Verzäunung, in die mich mein Stand verbannt, ein Kleinod wieder zu finden, das diesem hier gleich ist?

In solchen Sophistereien, würde ich sagen, habe ich eine schöne Morgenstunde verträumt, als ich heute auf der Spitze des Berges an ihrer Seite lauschte, wenn ich mich nicht zugleich, wie ein erfrorner Priester, an der auflodernden Flamme ihrer Erstlingsliebe so durchwärmt hätte, daß ich unmöglich den Verlust der Zeit beklagen kann, ob ich gleich jetzt nach allen kaltblütigen Mitteln der Vernunft stören muß, um meine durchglühte Einbildungskraft wieder abzukühlen. Gott Lob, daß es mir gelungen ist! Ich habe mir stark in das Gewissen geredet, mir bewiesen, daß ich zu der wankelmütigsten, treulosesten Menschenklasse gehöre, die einzige ausgenommen, die in allem eine Stufe über der meinen steht – daß ich viel zu lange in einer verdickten Atmosphäre gelebt habe, um in der Region der Wahrheit und der dunstfreien Natur dauern zu können, und habe daraus die Schlußfolge gezogen, daß Margot, dies Kind der Unschuld, viel zu gut für mich sei.

Gewiß ist sie des besten Mannes wert. Aber nur einer, dessen Geburt und Lage ihn von der Amme an gegen die feindseligen Angriffe der guten Erziehung geschützt haben – der das Gift der Sitten nicht eingesogen hat – der alle Strahlen des Glücks, der Zufriedenheit noch in einen Brennpunkt vereinigt, und mit der großen Kunst der höhern Stände noch unbekannt ist, sie prismatisch in Farben zu teilen, und – unkräftig zu machen – mit einem Worte, nur der beste Mann ihres Standes vermag es, dieses schöne, gefällige, tugendhafte und mit der herrlichsten Zusammensetzung zu einem trefflichen Weibe begabte Mädchen so glücklich zu machen, als es zu sein verdient. Von ihr ist es eine schuldlose Verirrung, daß sie mich liebt – von mir – würde es eine Treulosigkeit an der Natur sein, wenn ich diese Verirrung mißbrauchen und sie aus dem Zauberzirkel reißen wollte, in welchem ich die schätzbaren Menschen sich drehen sehe, deren Hausgenosse ich bin, und der mich – ich stehe nicht dafür – bis zu der lächerlichsten Ehe schwindlig machen könnte, wenn ich ihnen länger zusehen sollte . . .

 

Den 27. Dezember

Ich habe diesen Morgen meinen Johann mit Briefen und mit dem Auftrage in die Stadt geschickt, einen Wechsel für mich zu heben, davon ich einen Teil nötiger brauche, als den andern. Ich muß durchaus diese biedern Menschen, so gut ich kann, für den Wohlgeschmack am Leben belohnen, den sie mir beigebracht haben . . .

Die gute Kleine, die, während ich diesen Morgen schrieb, Verstand genug hatte, mich nicht zu stören, und sich unterdessen im Vorhause beschäftigte, meinem Johann den ganzen Roman des Seidenwurms zu erklären, konnte nun, wie ich ihn mit den Briefen abgefertigt hatte, ihren Mißmut über den verlornen Spaziergang nicht länger verbergen. Du hättest nur sehen sollen, wie so launig sie sich anstellte, wie so zärtlich sie über meine Schreiberei schmählte, und wie ich eilte, ihr den Ersatz auf den Nachmittag zu versprechen.

Das machte alles wieder gut. – Nun flog sie in die Küche, schürte das Feuer doppelt an und brachte es so weit, daß der Eierkuchen – zwar ein wenig verbrannt war – wir uns indes doch eine halbe Stunde eher um ihn herumsetzen konnten. Ach! er hätte mir nicht besser schmecken können, wäre er auch in seiner größten Vollkommenheit erschienen. Ihr selbst – ihr wollte er nicht schmecken, – selbst nicht, wie ich ihr ihn vorlegte. Sie war verloren für alles gemeinere Bedürfnis. Ihre Sprache war zitternd, wie die Sprache der Sappho, und ihr glühendes Auge – von allem, was zwischen Himmel und Erde ist – nur auf mich allein geheftet. Mir kam wahrlich zur rechten Zeit meine Erfahrung zu Hülfe. – Ich hörte durchaus nicht auf den Einklang meines Herzens mit dem ihrigen – wies es schon beim Präludieren zur Ruhe, und konnte nun desto aufmerksamer auf das natürliche Adagio der kleinen Virtuosin Acht geben, das mir – ich versichre Dich, Eduard – mehr Vergnügen gewährte, als die vollständigste Tafelmusik unsers Königs.

Wie wir aufgestanden waren, brachte mir das arme Kind, dem es in der Stube zu enge ward, meinen Hut und Stock, und trippelte vor mir her zur Hütte hinaus. Mir ward, als ich den blauen Himmel sah, angst und bange vor dem heimlichen Spaziergang, in den sie mich in aller Unschuld verlocken würde. Ich dachte in diesem Augenblick an den, in der verschwiegensten Ecke Deines Parks lauschenden Amor, den sicher kein Pfuscher gemeißelt hat. Ich weiß kein belehrenderes Sinnbild von ihm. – Das bedenkliche Lächeln, mit dem er in die Stille des Waldes hinblickt – die umfassende Kraft, die seine Flügel dehnt – das kleine Schrecken, das er jedem einjagt, der unvermutet auf ihn trifft – alles war mir jetzt furchtbarlich gegenwärtig.

Da dachte ich bei mir selbst: »Du willst ehrlich sein, Wilhelm, da es noch Zeit ist. – Ehe du einen Schritt weiter setzest, willst du das unbefangene Mädchen von der Gefahr unterrichten, die es läuft. Du hast so viele warnende Bilder vom Amor gesehen – hast dich müde an allen den Steckbriefen gelesen, die ihm täglich nachgeschickt werden, daß es nicht gut sein müßte, wenn du der Kleinen nicht eine Schilderung von ihm machen könntest, daß ihr die Lust wohl vergehen soll, ihn näher kennen zu lernen. Ist nicht schon manches Schulmädchen durch die Fabel vom Fuchs und dem Hühnchen von ihrem künftigen Verderben gerettet oder durch eine gräßliche Gespenstergeschichte abgehalten worden, im Finstern zu gehen? Ja, hat mir nicht selbst die Furcht vor dem Teufel öfter meine Schatulle gerettet, als die vor dem lieben Gott?«

Ich setzte mich also auf die hölzerne Bank vor dem Hause, faßte die Kleine bei beiden Händchen und zog sie sanft zu mir her. –

»Margot,« sagte ich – »ehe wir weiter gehen, will ich dir etwas erzählen. – Ich habe heute wichtige Ursachen, warum ich unsern Fichtenberg nicht ersteigen mag –«

»Und ich auch,« versetzte Margot seufzend und mit einer Naivität, die mich beinahe in meiner Fortsetzung irre gemacht hätte.

»Wir wollen den guten Mandelbaum heute in Ruhe lassen. – Er wird schon ohne uns seine Blüten vollends entfalten.«

»Das ist zu glauben,« antwortete Margot. – »Aber was wollen Sie damit sagen?«

»Margot,« stotterte ich ziemlich verlegen. – »Du hast doch wohl schon von dem Amor gehört?«

»Nicht eine Silbe,« antwortete sie mit herzlich verwundernden Augen.

»Nun gut,« fuhr ich noch stotternder fort – »so muß ich dir sagen, daß es eine Art von Buschklepper ist, der die Gegend da oben sehr unsicher machen soll:

Ein Strauchdieb, der die Sonne scheut,
Vom späten Abend bis zum Morgen
Am liebsten in der Einsamkeit
Auf jenem Fichtenberg verborgen.

Dort hauset er, bricht und entweiht
Die Grenzen und die Hegezeit,
Und lockt in ein Gewirr von Sorgen
Die unbedachte Lüsternheit.

Wir würden schwerlich ihm entweichen;
Denn er, ein Meister im Beschleichen,
Stört alles auf, hetzt alles matt,
Zumal wenn er in den Gesträuchen
Zwei Schmachtende erlauert hat.«

»Lassen Sie sich doch so etwas nicht weiß machen,« – unterbrach mich die Kleine, und schlug ein lautes Gelächter aus. – »Es ist nicht ein Wort davon wahr. Die Gegend da oben sollte nicht sicher sein? Auf die Gefahr, glauben Sie mir, wollte ich den ganzen Wald mit Ihnen durchstreifen, ohne daß uns etwas Widriges begegnen sollte. Aber es ist mir schon recht, daß Sie sich fürchten. Ich bin den einsamen Berg wirklich ein bißchen überdrüssig. Er macht mich schon traurig, wenn ich ihn ansehe. Lassen Sie uns diesen Nachmittag lieber einen Gang auf den Postplatz tun, wo der heutige Markttag alle Esel und Menschen in Bewegung setzt.«

»Gut,« – sagte ich ein wenig betroffen, richtete mich von meinem Lehrstuhl auf, und indem Margot, mutig wie ein Kind aus der Schule, vor mir herlief, schlich ich ihr nachdenkend wie ein Präzeptor nach, der eben vor seinen Untergebenen das sechste Gebot austrommelte und durchpeitschte, das doch, ihn ausgenommen, keines in der ganzen Klasse, trotz seines Unterrichts, weder zu begreifen noch zu übertreten in dem Falle war. Ging es mir wohl besser mit meinem verunglückten Apolog? Lag nicht die Ursache, warum mich Margot nicht verstehen konnte, in ihrer holden Jugend und Unschuld, so wie ihr jetziger brausender Wunsch nach Zerstreuung in jenem ihr noch fremden, bittersüßen Gefühle lag, das sie zu übertäuben suchte? . . .

Ich war fest entschlossen, mich – auf die wenigen Tage, die ich noch unter den blauen Augen dieses seltenen Mädchens verleben würde, bloß auf das mäßige Vergnügen des Beobachters einschränken, und vor allen Dingen meine Abreise um keine Stunde über die gesetzte Zeit, geschweige – wie mir schon einigemal der verwegene Gedanke gekommen war – auf mehrere Monate zu verschieben.

*

Unter diesen heroischen Gedanken langte ich, einige Minuten nach Margot, auf dem Postplatze an: aber es dauerte nicht lange, so traf nur zu sehr ein, was ich gefürchtet hatte. – Ihre Fieberunruhe verstattete ihr kein Bleibens. Kaum hatten wir einen Esel ab-, einen andern aufsatteln gesehen, so strebte sie weiter. Sie ging, in sich gekehrt, auf der Chaussee fort, und ich folgte ihr ohne Einwendung auch auf diesem staubigen Wege nach. – Sie hing sich traulich an meinen Arm, und so schlenderten wir stillschweigend miteinander fort, und kamen, ohne es zu bemerken, dem Stadttore auf einige hundert Schritte nahe. – Der gepflasterte Weg hatte die arme Kleine ermüdet. Wir setzten uns auf eine der steinernen Bänke, mit welchen französische Straßen, zur Beruhigung so vieler Fußgänger, reichlich versehen sind, und vertieften uns in das bewegliche Gemälde, das vor uns lag.

Inzwischen ward Margot so durch und durch ernsthaft, daß ich ihr mit Verwunderung in die Augen blickte, ohne sogleich entdecken zu können, was in ihrem Inneren vorging. »Sollte das Getöse menschlicher Tätigkeit,« dachte ich, »das dich immer in ein gewisses unwillkürliches Staunen versetzt, auf ein dreizehnjähriges Mädchen dieselbe Wirkung hervorbringen? Es setzt doch eine gewisse Vermischung von Gedanken voraus, die man so einem Köpfchen nicht wohl zutrauen kann.« Auch war das gute Kind weit davon entfernt. Was ihre Zunge mir nicht zu erklären vermochte, als ich sie um die Ursache ihres bänglichen Ernstes befragte, das tat ihr Blut desto beredter, überzog ihr Engelsgesicht mit der Schminke der Unschuld und der Rosen, und machte es mir unmöglich, diesem Naturgeständnisse ihrer uneigennützigen Liebe nicht mit dem feurigsten Kusse zu huldigen.

In diesem köstlichen Augenblicke, den das vollströmende Herz der überraschten Vernunft abgewann, lenkte ein Phaeton hinter uns durch einen Seitenweg in die Chaussee ein, und zog langsam bei meiner Umarmung vorüber. – Ich richtete mich in die Höhe und begegnete den verächtlichen Blicken, die ein Mann ohne Physiognomie, kurz der in Nimes so berühmte und besuchte Verfasser der Revolution von Portugal auf mich und mein Liebchen herab schoß. Ich war so betroffen, als ob es mir zum ersten Male widerführe, mich dem geschwinden Urteile eines Kleinstädters in einem Augenblicke ausgesetzt zu sehen, wo das äußere Ansehen wider mich war. Ich hatte noch nicht durch meine lange Hoferfahrung gelernt, mich über solche Mückenstiche des Zufalls zu trösten und mit dem ehrlichen Manne im Plautus auszurufen: Ego – vergib mir immer das bißchen Latein – sum promus meo pectore, suspicio in alieno pectore est sita. Nein, ich ärgerte mich von ganzem Herzen, sowohl über die Unmöglichkeit, einem Manne von seiner Art den unschuldigen Zusammenhang so eines Kusses begreiflich zu machen, als über die spöttischen Anmerkungen, mit denen er sich in seiner Abendgesellschaft auf meine Kosten groß machen würde, und ärgerte mich endlich über mich selbst, daß ich schwach genug sei, mich über solche Armseligkeiten zu ärgern.

Ich wußte mir in meinem Unmute nicht anders zu helfen, als daß ich ihm den einzigen Fehler, der mir von ihm bekannt war, aufmutzte und meiner lieben Margot erzählte: »Dieser Mann mit dem albernen Gesichte, der eben vorbeigefahren sei, habe das mißgeschaffenste, elendeste Gedicht geschrieben, das in Frankreich zu finden sei – ein Trauerspiel ohne Mark und Kraft – das so lang und fade sei, wie die Nase des Autors.«

Aber Margot bekümmerte sich um das alles nicht im geringsten – – »Dort kommt Ihr Johann,« war ihre ganze Antwort.

Wirklich verdiente meine Anklage auch keine andere. Wir standen auf, gingen dem guten Johann entgegen, der sich freundlich an uns anschloß. Ich vergaß den Baron, die Kleine trällerte, und Johann gab mir, während daß uns ein schöner Abend langsam nach Hause brachte, Rechenschaft von seinen Verrichtungen in der Stadt.

*

Den 28. Dezember

War ich gestern mit meinem Tage zufrieden, so bin ich es mit meinem heutigen ungleich mehr. Ich habe mich über einer unzweideutigen Probe einer vollständigen Genesung überrascht, als ich jemals hätte hoffen können – über einer von den Torheiten aus den glücklichen Zeiten meines funfzehnten bis achtzehnten Jahres. Es macht mir eine herzliche Freude, sie Dir erzählen zu können; denn Du bist zu sehr mein Freund, als daß Du nicht einen warmen Anteil daran nehmen solltest.

Du weißt – wenn Du anders künftig einmal bis hieher gelesen haben wirst – wie es um das Herz der armen Margot steht. Es gehört von meiner Seite in Wahrheit ungewöhnliche Stärke dazu, ihm nicht zu Hülfe zu kommen, da vielleicht noch keinem Ritter das Mitleid so nahe gelegt worden ist als mir, und ich zu aufmerksam auf das liebe Kind bin, um nicht, wie ein praktischer Arzt, der unter Epidemien grau geworden ist, von Stunde zu Stunde angeben zu können, um wieviele Grade sich die Krankheit verschlimmert hat. Ihre vormalige Munterkeit, wie ganz ist sie verstoben! – und ach, nun kommen die Symptome der unruhigen Nächte dazu – was will aus dem armen Kinde werden!

Ich lag in dem besten Schlafe hinter meinem Klosett, als mich ihre Stimme zu erwecken schien. Es war aber nur der Widerklang ihrer Seufzer tönenden Brust. Da es ganz still um uns her war, so entwischte mir auch nicht ein Atemzug, durch den das gepreßte Herz sich zu erleichtern suchte – keiner von den jugendlichen, in manch sanftes Ach! konzentrierten Wünschen, die das Blut durchsäuseln und sich dem Kenner – noch ehe sie der unschuldigen Seele hörbar werden, wie der Hauch aus einer äolischen Harfe, verraten. Hätte ich mich gehen lassen, so würde das seltenste Konzert von Seufzern entstanden sein, das je gespielt worden; denn je aufmerksamer ich mit jedem Pulsschlage ward, desto schwerer ward es mir auch, nicht mit einzustimmen.

Wie froh war ich, als der Tag zu grauen anfing, und ich bald darauf mein Bette mit Ehren verlassen konnte! Ich kam glücklich bei dem ihrigen vorbei – nahm aber das Herz so voll von sympathetischen Gefühlen mit, daß mir für hinlängliche Unterhaltung auf meinem einsamen Spaziergange unmöglich sehr bange sein konnte.

Gott weiß, wie geschwind oder langsam ich heute meinen Berg erstieg! Ich hatte aus mir selbst zu viel heraus zu spinnen, als daß ich auf etwas außer mir nur acht gehabt hätte. So viel noch erinnere ich mich – daß er mir heute nicht hoch, nicht räumlich, nicht romantisch genug vorkam. Ich mußte, ohne es zu wissen, auf seiner andern Seite herabgestiegen sein, denn, als mir das sonderbarste Abenteuer mein Bewußtsein wieder gab, befand ich mich in der Mitte einer mir unbekannten Wildnis – sah meinen Fichtenberg eine Stunde weit von mir liegen und konnte kaum mit bloßen Augen mein kleines Caverac wieder finden . . .

            In dem dicksten Hain verloren,
Ohne Führer, ohne Bahn,
Frug ich nicht, ob mich die Horen
In den Abglanz von Auroren
Oder Lunens schwindeln sahn.

Meine Phantasien flogen
Der gereizten Liebe nach,
Und, mit blauem Flor umzogen,
Fabelte des Himmels Bogen
Mein und Margots Brautgemach.

Bald auch schwand des Haines Stille –
Meinem Jubel aufbewahrt,
Stand sie jetzt von Jugendfülle
Zitternd vor mir, ohne Hülle
Meinen Rätseln offenbart.

In den wunderbarsten Fugen
Sammelten die Freuden sich
Um mein Lager, übertrugen
Ihre Wirtschaft mir und schlugen
Ihre Flügelchen um mich.

Und auch ich schlug, in dem vollen
Liebesrausche meines Traums,
Meine Arme, gleich Apollen,
Ach, ihr Götter! um die Knollen –
Eines alten Feigenbaums.

*

So derb auch die Erinnerung war, nahm ich sie doch – ohne dem Feigenbaum zu fluchen – vielmehr mit einer Resignation aus, die gewiß jedem so vor den Kopf gestoßenen Philosophen Ehre würde gemacht haben. – Ich ließ nur die Schmerzen ein wenig verrauchen, die mir meine Umarmung verursachte, dann trat ich – und zur Genüge abgekühlt – meinen Rückweg an.

Als ich den Fichtenberg beinahe erreicht hatte, hörte ich mir zurufen. – Ich blickte auf und sah das artigste ländliche Gemälde, das man sich vorstellen kann – sah den Berg herunterwärts, durch das Gebüsche durch, eine Nymphengestalt, leicht wie der Zephyr – kurz – eben diese kleine liebe Margot auf mich zufliegen, der zu Ehren ich das Zeichen an der Stirne trug. Eine Strecke tiefer im Busche brach auch Johann hervor, und ganz im Hintergrunde sah ich meinen Wirt, mit einer Hacke bewaffnet, ansteigen. –

»Lieber Herr« – schrie Margot, als sie näher kam, und fiel mir atemlos in die Arme – »um des Himmels willen, wo sind Sie so lange geblieben? – Was haben Sie mir – was haben Sie uns allen nicht für Sorge gemacht? Schon seit einer Stunde (sollte das Ahndung gewesen sein, Eduard?) suche ich und Johann Sie auf diesem abscheulichen Berge. Wir haben alle Höhlen, alle Gebüsche durchkrochen. Wo? wo sind Sie doch nur gewesen?« – Und nun trat Johann, und nun auch Blaise herbei und wiederholten dieselbe Frage.

»Je nun, lieben Kinder,« antwortete ich lächelnd – »von einem so angenehmen Spaziergange, als ich heute gehabt habe, kommt man leicht später zurück, als man sollte. – Du hättest mich nur um ein paar Stunden eher aufsuchen müssen, Margot, um mit mir zu teilen, und dir die lächerliche Angst zu ersparen, die du wahrscheinlich meinetwegen gehabt hast.«

»Ja, die hat sie gehabt,« nahm Blaise das Wort, »sie hat sich recht kindisch bezeigt.«

Indem, und da ich zufällig den Hut abnahm, um mir den Schweiß abzutrocknen – stieß sie, als sie meine blutrünstige Stirn erblickte, einen überlauten Schrei aus. »Habe ich's doch gedacht und gesagt,« schrie sie mit weinender Stimme. »aber kein Mensch wollte mir glauben.«

»Was könnte man denn dir nicht glauben, Margot?« fragte ich verwundert.

»Daß Sie«, fielen die andern ein, »einem Strauchdiebe in die Hände gefallen wären, der, wie sie uns gerne bereden möchte, den Fichtenberg unsicher macht.«

Die Kleine, um sich zu rechtfertigen, drang nun in mich, ihr die Wahrheit zu bestätigen, und wollte durchaus mit dem Merkzeichen an meiner Stirne Beweis führen.

Nun ist kaum etwas Beschämenderes für einen gesetzten Mann, als wenn er sich durch ein schwatzhaftes Kind an den Pranger gestellt sieht. Ich bedachte, daß mein Auditorium nicht so beschaffen sei, daß mir eine mythologische Erläuterung aus der Verlegenheit hätte helfen können – bedachte, daß Margot nicht in Berlin in die Schule gegangen sei und noch keinen Begriff davon habe, daß man nicht alles, was uns gesagt wird, wörtlich verstehen müsse – und, da ich in dem Augenblicke nichts von Bestand zu antworten wußte, suchte ich wenigstens vor der Hand nur Zeit zu gewinnen, stellte mich eilender und hungriger, als ich war, und bat die Kleine um die Gefälligkeit, ein wenig voraus zu laufen, damit wir bei unserer Ankunft das Essen auf dem Tische fänden. – So etwas läßt sie sich nicht zweimal sagen. – Sie flog wie Anakreons Taube davon, und Johann mit ihr, und ich und mein Hauswirt trabten etwas bedächtlicher nach.

Unterwegs erzählte er mir, wie die Angst des Kindes über mein ungewöhnliches Außenbleiben mit jeder Minute, wie ein Wetterglas, immer höher und höher gestiegen sei – wie keine vernünftige Vorstellung dagegen hätte verfangen wollen, und wie sie im Begriff gewesen wäre, das ganze Dorf zu meiner Hülfe aufzubieten.

»Aber woher die Beule,« fuhr er fort, »die Sie da über der Nase mitgebracht haben?«

»Ich habe einen Feigenbaum umarmt, mein lieber Mann,« sagte ich. –

»So, so,« versetzte er lachend, »das kann einem ja wohl geschehen. – Vor einem Fehltritt ist niemand sicher. – Aber geben Sie acht, unserer Närrin von Mädchen wird das viel zu alltäglich sein. – Sie hat sich einmal den vermaledeiten Gaudieb in den Kopf gesetzt, und sie wird sich's nicht ausreden lassen, daß es nicht der sei, der Ihnen den Schandfleck angehängt hat.«

Der gute Mann dachte wohl nicht, das seine gerade Erzählung so anziehend für mich sein würde, als sie es war. – Er war wohl weit entfernt, zu vermuten, daß er mir die beredsamste Schilderung von der Leidenschaft seiner Nichte zu mir entwerfe, indem er sich über ihre Einfalt lustig zu machen glaubte. – Er hätte sich's wohl nicht im Traume einfallen lassen, daß mehr Wahrheitssinn in dem Kindergeschwätze der kleinen Margot verborgen lag, als in manchen andern Märchen, die wir doch ohne Mühe glauben. Aber freilich konnte er auch den geheimen Zusammenhang meiner Kopfwunde mit dem, was seine Nichte albernes erzählte, nicht so gut einsehen wie ich – konnte freilich nicht ahnden, wie nahe hier Irrtum und Wahrheit aneinander grenzten.

*


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