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XXIII.

Es war Hochsommerabend. Ein schweres Gewitter hatte die Luft gereinigt, den Staub gelöscht, die drückende Hitze aus der Atmosphäre hinausgefegt. Die Menschen strömten aus den Häusern auf die Straße, um die erquickende Kühle einzuatmen. Die Anlagen wimmelten von ermatteten, verstaubten Leuten, die die reine Luft in ihre verdursteten Lungen tranken. Alle Fenster standen weit offen, um diese Luft in die dumpfen Stuben förmlich hereinzubitten. Vor den Lokalen waren alle Tische und Stühle besetzt. Das gesamte Leben der ganzen Stadt hatte sich auf die Straßen ergossen, wie bei irgend einem großen Volksfesttage.

Durch die belebten Straßen schritt Rütjer Thoren. Er ging langsam, mit erhobenem Haupt und versonnenen Augen überall Umschau haltend, wie jemand, der Erinnerungen feiert, der die Spuren sucht, auf denen er durch längst vergangene Zeiten schritt.

Die Leute sahen ihm nach. Es störte ihn nicht. Er war es gewöhnt, daß die Leute ihm auf der Straße nachsahen, damals, als seine Jugend hier ihre Triumphe feierte. Hätte er mehr auf die Menschen geachtet, so hätte er manches bekannte Gesicht gefunden – Wirte, bei denen er eingekehrt war, Handwerker, die für ihn gearbeitet hatten, Kaufleute, bei denen er sein Geld ausstreute; der Arzt und der Pfarrer, und manch wettergebräuntes Unteroffiziers- und Wachtmeistergesicht. Aber er achtete nicht auf die Menschen. Die Erinnerungen, denen er nachdachte, die Spuren, denen er nachging, hatten mit diesen Menschen nichts zu tun.

Ab und zu stutzte irgend einer der Vorübergehenden, hob die Hand wie zum Gruß, ließ sie hinter dem achtlos Vorbeischreitenden wieder sinken, sah ihm nach und schüttelte in Gedankenunsicherheit den Kopf.

»War das nicht der schöne Thoren, in den eine Zeitlang alle Frauen und Mädchen verliebt waren?«

»War das nicht der wilde Thoren, der mit seinen tollkühnen Reiterkunststücken, mit seinen übermütigen Liebesabenteuern eine Zeitlang die ganze Stadt aufregte?«

»War das nicht der reiche Thoren, der die schönste Wohnung und die schönsten Pferde hatte? der seine verschwenderischen Launen immer mit Vorliebe über die Aermsten und Elendsten ausgoß? der den jungen Offizieren ihre Schulden bezahlte, und dem armen Schuhmacher, der ausgepfändet werden sollte, seinen ganzen Kram für einen schwindelhaften Preis abkaufte und ihn ihm am andern Tage wieder zum Geschenk machte – nur weil der einzige Sohn dieses armen Schuhmachers sein Bursche war?«

»War das nicht der unglückliche Thoren, dem ein Sturz mit dem Pferde Jugend und Gesundheit brach? dem seine Frau mit einem andern davonlief, und der dann selber in Zorn und Verbitterung davonging, und hat niemand mehr von ihm gehört seitdem?«

»Ist er es oder ist er es nicht? Und was sucht er hier nach langen Jahren?«

Rütjer Thoren sah nichts, hörte nichts, kümmerte sich um nichts. Er ging die Straßen hinauf und hinab, versunken in Erinnerungen, die niemand kannte; entrückt in eine Welt, in die niemand ihm folgen konnte.

Vor dem Hause, in dem einst der Professor Overberg gewohnt hatte, blieb er stehen. Langsam suchten seine Augen die ganze Fensterreihe ab. Vom Balkon herunter nickten Nelken und Geranien. Aber es stand niemand auf dem Balkon.

Dann suchten seine Augen auf dem blankgeregneten Pflaster. Da war die Stelle, wo das Pferd ihn abgeworfen hatte. Da die scharfe Kante des Bürgersteigs, die ihm die Stirne spaltete. Da die Stelle, wo seine Seele den Eindruck aufgenommen hatte, der ihr lebengestaltendes Gepräge aufgedrückt.

Rütjer Thoren stand so lange still, daß die Vorübergehenden aufmerksam wurden, sich nach ihm umsahen und gleichfalls stehen blieben.

Da ging er weiter. – –

In einer langen, baumlosen Straße stand das Haus das er suchte; das Ziel, dem seine Wanderung galt. Zwei Treppen mußte er ersteigen. Stufenweise trat er das Zögern seines sehnsüchtigen Herzens, das letzte Zagen seines inbrünstigen Hoffens unter sich.

Er las die Aufschrift des Türschildes, als müsse er sich noch einmal von der Richtigkeit überzeugen. Dann zog er die Klingel.

Ein Dienstmädchen im weißen Häubchen öffnete. Er schickte seine Karte hinein.

Plötzlich kam eine Angst über ihn, daß er abgewiesen werden könnte. Die Hand schön ausgestreckt, um das Glück zu fassen, war ihm, als existiere dies Glück nicht sich ihn; als sei es zu groß, zu märchenhaft, um von schwacher Menschenhand ergriffen und festgehalten werden zu können.

Er ging dem Mädchen nach, den dunklen Flur entlang, bis dicht an die Tür, hinter der es verschwunden war, ohne die Tür wieder einzuklinken.

»Ich lasse bedauern,« hörte er eine Stimme sagen; eine Stimme, deren Ton ihm einen körperlichen Aufruhr durch die Glieder jagte. »Ich lasse bedauern. Ich – ich bin – ich kann niemanden empfangen heute.«

Da stand er im Zimmer. Er prallte mit dem Dienstmädchen zusammen, das erschrocken zur Seite wich, ihn neugierig anstarrte und sich dann langsam hinausdrückte.

Und nun standen sie einander gegenüber.

Maria hatte wohl am Schreibtisch gesessen. Sie stand neben dem kleinen Armstuhl, umklammerte mit beiden Händen die steife Rückenlehne und sah ihn an, als sei nicht er, sondern ein Gespenst da eingetreten.

Sie war schlank und fein wie immer. Das Licht, das durch das hinter ihr liegende Fenster hereinströmte, durchleuchtete ihr Haar, das sich locker um das schmale Gesicht bauschte. Das Gesicht selber blieb im Schatten.

»Verzeihen Sie,« sagte Rütjer Thoren. »Ich habe gehört, daß Sie heute niemanden empfangen wollen. Aber ich wäre wiedergekommen, morgen, übermorgen, jeden Tag. Da dachte ich, es wäre besser, wir ersparten uns diesen unnützen Zeitverlust.«

Maria rührte sich nicht. Als sei Regungslosigkeit das einzige Mittel, sie vor dem Zerfallen und Vergehen zu retten.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte sie mit ganz unnatürlicher Stimme.

»Das Natürlichste von der Welt. Ich habe doch jetzt den Köbinghof –«

»Das weiß ich,« unterbrach sie, als sei ihr das ganz gleichgültig.

»Und haben Sie gar nicht den Wunsch, etwas davon zu hören –«

»Nein.« –

Sie sagte es kurz und bestimmt. Dabei sah sie ihn immerfort an, drohend, verängstigt. Und das arme Herz, das sich so sehr vor ihm ängstigte, drängte förmlich aus ihrem Leibe heraus ihm entgegen, weil sie ihn so furchtbar liebte. Es jauchzte ihm zu, und es klagte sie an, weil sie es so fest hielt. –

Rütjer Thoren setzte sich, ohne Aufforderung, in einem ganz mechanischen Sitzbedürfnis. Maria lehnte sich rittlings gegen die Schreibtischplatte und stützte die Hände hinter sich. Sie wußte überhaupt nicht mehr, was sie tat. Vor ihren Augen schwamm alles durcheinander zu formlosem Chaos.

Rütjer Thoren saß leicht vorgeneigt, die Hände zwischen den Knien verschlungen, und betrachtete das Teppichmuster zu seinen Füßen. Im Geist aber sah er die Pflastersteine vor dem Overbergschen Hause.

»Ich bin seit zwei Stunden in der Stadt umhergelaufen, und habe Erinnerungen gefeiert; das Gedenken der Erinnerungen, die mich zuletzt hierher geführt haben.«

Maria hatte eine kalte, abweisende Antwort bereit. Sie brachte sie nicht heraus. Ich kann ihm kein hartes Wort sagen, dachte sie verzweifelt, ich kann nicht. Ich möchte mich da vor ihn hinlegen und sterben – in seinen Armen sterben –

Rütjer Thoren sah nicht auf, weidete sich nicht an ihrer Qual, suchte nicht Erfüllung seiner Hoffnung mit beredten Augen.

»Ich habe den Köbinghof nicht für mich gekauft,« sagte er leise.

»Sie haben ihn bezahlt – er gehört Ihnen – Sie müssen ihn behalten –« Die Angst ihrer Seele schrie aus den hervorgestoßenen Worten.

»Ich will ihn auch behalten,« sagte Rütjer Thoren. »Aber nicht für mich.«

»Das geht mich ja gar nichts an – –« sagte sie, außer sich vor Angst.

Jetzt sah er auf. Sah sie an mit einem Blick, vor dem sie sich hätte in die Erde verkriechen mögen. Eine fürchterliche Stille herrschte im Zimmer; die Hand der Vergangenheit zermalmte sie, und die Qual des Augenblicks lähmte sie.

Rütjer Thoren wußte nicht, wo das Alles hinaus wollte. Er war so überzeugt von ihrer Liebe zu ihm, hatte diese Ueberzeugung jahrelang als tragische und doch beglückende Tatsache im Herzen getragen, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, er könne sich geirrt haben. Er verstand ihr Benehmen nicht. Er sah wieder vor sich nieder, als könne er sich nur dann zu vernünftiger Ruhe zwingen, wenn er sie nicht ansah.

»Ich bin auf meinem Wege durch die Stadt vor dem Hause Ihrer Eltern vorbeigekommen,« sagte er. »Ich habe da lange gestanden und habe das alles noch einmal erlebt. Wie ich Sie da auf dem Balkon zwischen den Blumen sah. Wie Sie dann auf einmal neben mir standen, und mir etwas Weiches, Kühles auf die Stirn legten, die so furchtbar weh tat. Und dann den Tag im Krankenhaus. Und dann den Abschied. Und dann die Tage auf der Thorenburg, als Sie bei Antje waren. Und dann all das andre, das seitdem geschehen ist. Die ganze, merkwürdige Geschichte, die das Leben in die Seiten meiner Seele eingetragen hat. Sie muß endlich einen Schluß haben, diese Geschichte –«

Zögernd sah er auf. Sie stand da immer noch so, Ueber ihr Gesicht fiel jetzt die Sonne. Aber dies Gesicht war finster und starr, ihre Stirn tief gefurcht, ihre Lippen fest aufeinandergepreßt. – Und dann streckten sich ihre Glieder, wie in totbringendem Schmerz, wie zu einem letzten Ausholen aufgepeitschter Willenskraft.

»Ja, sie soll einen Schluß haben,« sagte Maria Terhalden mit seelenloser Stimme. »Sie soll zu Ende sein.«

»Zu Ende?? Wie – was – soll das heißen.«

Maria Terhalden schloß die Augen; sie sah grünlich blaß aus.

»Ich danke Ihnen – für alles. Und nun bitte, gehen Sie fort und kommen Sie niemals wieder.«

Rütjer Thoren stand langsam auf. Einen Augenblick beherrschte er sich. Dann brach es los. Sie fühlte seine Hände ihre Arme umklammern; sie riß die Augen weit auf vor Schreck. Sein Gesicht war dicht über ihr. Und sein Gesicht sah wieder so aus, wie damals, als sie vor ihm davonlief. Nur noch viel schlimmer, wilder, fordernder.

»Maria! das kann dein Ernst nicht sein, daß du mich so fortschickst! Du liebst mich, Maria – ich weiß es ja!« Er schüttelte sie, als müsse er sie aus einer verhängnisvollen Betäubung erwecken – für sich. –

Sie lief nicht fort, wie damals; sie versuchte es nicht einmal; es ging ja auch gar nicht; er hielt sie ja fest. Sie sah mit jammervollen Augen zu ihm auf. Dann atmete sie lang und tief.

»Ja – ich liebe dich –« stöhnte sie. Die Qual ihres Lebens schrie um Erlösung aus dieser Stimme, diesen Worten. – – Er ließ sie los; seine Hände lösten sich, weil seine Arme sie umschlingen wollten. In diesem Augenblick entglitt sie ihm. Er griff ins Leere.

»Laß mich –« sagte sie hart. »Ich kann nicht.«

Ihr Versagen stand gegen sein Begehren. Er konnte sich nicht erzwingen, was doch nur Wert hat, wenn es freiwillig gegeben wird. Seine Nerven zitterten.

»Sage mir doch die Wahrheit!« bat er mit dunkler Stimme.

»Ja, ich will die Wahrheit sagen. Ich bin es dir schuldig. Es wird mir alles erleichtern, wenn du alles weißt.«

Sie stand mehrere Schritte von ihm entfernt an die Wand gelehnt, die verschlungenen Hände steif am Leibe herabgestreckt. Sie sah starr geradeaus; ihre Pupillen waren so groß, daß ihre Augen schwarz funkelten.

So sagte sie ihm alles, ihre Liebe, ihre Schuld, ihre Not und ihr Verzichten.

Sie sprach schnell, die Worte überstürzten sich. Ihre Stimme klang einförmig, wie die Sprache einer Irren oder einer Hypnotisierten.

Er stand ihr gegenüber und hörte ihr zu. Er zitterte an allen Gliedern vor Ungeduld. Ein wilder Zorn kochte in ihm auf gegen die moralischen Hirngespinste, die sie sich zurechtgemacht hatte, mit denen sie sich abschließen wollte gegen das, was – das wußte er ja nun – ihre Sehnsucht und ihr Glück war. Das durfte nicht sein. Er würde das nicht zugeben. Er wollte sie haben. Es gab kein Hindernis mehr zwischen ihnen. Der Weg war frei, und die Liebe stieß sie vorwärts auf diesem Wege, einander entgegen. Und nun türmte sie da etwas auf zwischen sich und ihm, das es gar nicht gab, das nur existierte in der Phantasie eines krankhaft ausgearteten Pflichtgefühls.

Er sagte ihr das alles. Er sprach aufgeregt, wild, unzusammenhängend, alles durcheinander. Er sagte ihr die härtesten und die süßesten Dinge. Sie blieb stumm. Sie fror vor Erregung, ein Schauer nach dem andern jagte über ihren Leib. Sie legte endlich die Hände vor die Augen. Das Vorbeisehen an ihm nützte nichts mehr, denn er lief hin und her, war bald hier – bald dort.

»Ich kann nicht,« sagte sie dumpf. »Ich kann nicht!«

»Du mußt!«

»Ich kann nicht. Ich brächte ein Opfer, das uns beide unglücklich machen würde.«

»Unglücklicher kannst du mich nicht machen, als wenn du mich jetzt fortschickst!«

»Doch, dieser Schmerz geht vorüber. Sonst dauert er, solange du lebst.«

»Er hat gedauert, solange ich lebe, solange ich mit dir im Herzen lebe. Er wird weiter dauern, wenn du ihn jetzt nicht von mir nimmst!«

Sie rangen miteinander, gegeneinander; mit ihren Worten, ihren Seelen. Maria fühlte ihre Knie versagen, aber ihr Wille blieb fest. Sie setzte sich endlich, in einer halben Ohnmacht. Sie knickte förmlich zusammen.

»Quäl mich doch nicht so! Ich kann nicht!«

Sie legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf und rührte sich nicht mehr.

Rütjer Thoren hörte auf zu reden. Er stand neben ihr und sah auf sie nieder.

»Du weißt nicht, was du tust. Du bist unsinnig. Du begehst eine Sünde – gegen dich – gegen mich –« Sie rührte sich nicht.

Er war ohnmächtig. Sein aufbrausender Wille verspritzte vergeblich die rauschenden Wogen entfesselter Leidenschaft an dem starken, stillen Felsen, zu dem das Leben dieses gebrechlichen Weibes zarte Seele erhärtet hatte.

Nimm sie, raunte eine Stimme in seinem Innern. Nimm sie gegen ihren Willen; zerbrich ihren Widerstand mit deiner heißen, rücksichtslosen Kraft!

Nein. Ihren Widerstand zerbrechen, hieß sie selbst zerbrechen. Das wußte er. Solche Frauen wie Maria Terhalden leben nur von innen heraus und zerbrechen am Zwange. Er wollte nichts Zerbrochenes. Er liebte sie so sehr, daß sie ihm zu heilig war, um sie zu zwingen.

Er fühlte, daß es kalt und still in ihm wurde.

»Ich bin es nicht gewöhnt, zu betteln,« sagte er mit schwerer Stimme. »Wenn du in deinem – Eigensinn verharrst, dann gehe ich jetzt. – Soll ich gehen, Maria?« Sie nickte stumm und heftig. Er zögerte noch.

»Ich will deine Antwort hören,« sagte er.

»Ja. Bitte – geh!« Wie ein Hauch nur tönte es an sein Ohr.

Sekundenlang hörte sie nichts. Dann hörte sie, wie er sich entfernte. Ihr war, als ginge mit jedem seiner Schritte das Leben aus ihrem Herzen hinaus.

Plötzlich kam er zurück. In Angst und Schreck richtete sie sich unwillkürlich auf. Da riß er sie in seine Arme, drückte sie an sich, daß ihr der Atem verging, küßte er sie, als wolle er ihr mit diesen wilden, heißen Küssen die letzte Lebenskraft aussaugen. Es nutzte nichts, daß sie ihn von sich abwehrte mit letztem, verzweifeltem Willen. Bis ein wimmernder Ton ihn ins Herz traf. Da ließ er sie los.

»Verzeih –« murmelte er.

Dann war er hinaus.

Sie aber lag, wie sie vorhin gelegen, und wimmerte leise vor sich hin. – –

Wie sie die nächsten Stunden und Tage verlebte, wußte sie selber nicht.

Sie ging umher wie im Fieber. Sie fieberte nach ihm; nach seiner Nähe, nach seinen Küssen. Die glimmende Glut war zu flammender Lohe aufgeschlagen, die ihre ganze Seele ausbrannte, so daß nichts darin übrig blieb als er selber.

Sie wehrte sich gegen dies verzehrende Feuer, wie sie sich gegen seine Umarmung gewehrt hatte – vergeblich. Sie war immer noch überzeugt, daß sie das Rechte getan hatte, das einzige, was ihr endlich wieder zum Frieden helfen würde. Ein Entschluß, den man mit so viel ernster Ueberlegung, mit so viel tapfren Kämpfen gefaßt hat, muß ja der richtige sein. Aber die Ruhe, die sich mit so gefaßten Entschlüssen einzustellen pflegt, die sich eingestellt und vorgehalten hatte all diese letzten Monate, war dahin.

Es wird vorübergehen, dachte Maria Terhalden. Es muß vorübergehen. Ich muß mich selber wiederfinden. Dies war nur der letzte, unvermeidliche Sturm vor der Einfahrt in den Hafen. Dies kann ja nicht dauern – ich bin ja viel zu alt für solche Empfindungen, für solchen Hunger.

Aber sie war eben noch niemals satt geworden am Glück, am Leben.

Stundenlang kniete sie vor dem Bette ihres Knaben, wie sie einst in Stunden der Not am Bett des kleinen Alf gekniet hatte. Dies Kind, Arnes Kind, sollte ihr sagen, daß sie nur so und nicht anders handeln konnte, durfte. Aber auch dies Kind redete plötzlich zu ihr mit einer andern Sprache. Wenn es sie mit seinen Terhaldenschen Augen so still und unverwandt ansah, dann stand in diesen Augen geschrieben: Du hast mich zum zweitenmal um das Erbe meines Vaters betrogen.

Maria fing an, sich vor diesen Augen zu fürchten, ihren Blick zu meiden. –

»Mutter,« sagte ihre älteste Tochter, »war das nicht der Graf Thoren, der unsern Köbinghof hat, der bei dir war?«

»Ja,« sagte Maria.

»Was wollte er denn?«

»Er wollte mir vom Köbinghof erzählen.«

»Was hat er erzählt?«

»Wir kamen nicht dazu. Wir hatten anderes zu reden.«

»Schade. Ich hätte ihn gern gesehen. Ich liebe ihn so. Onkel Jörg sagt, in bessre Hände hätten wir unsern Hof nicht legen können.«

Und die zweite sagte: »Es ist schrecklich, daß wir den Hof nicht mehr haben. Ich werde mich nie in die enge, langweilige Stadt einleben. Wir haben keine Heimat mehr, und werden nie wieder eine Heimat haben.«

Und die Dritte sagte: »Schade, daß du den Grafen Thoren nicht heiraten kannst. Dann kämen wir alle wieder nach Hause.«

Das waren die Stimmen, die sie geweckt hatte; die Stimmen des innern Lebens, das sie mit heißer Sehnsucht in ihren Töchtern gesucht und gepflegt und genährt hatte. Nun waren sie laut geworden, und sprachen gegen sie.

Maria machte ihre Ohren taub und ihr Herz hart. Wenn es nur um den Köbinghof gegangen wäre – dann hätte sie Rütjer Thoren heiraten können, in dem Gefühl, sich für Arne Terhalden zu opfern um seiner Kinder willen. Aber es ging um sie selber. Und wenn sie sich sagte: ich tue es nur um den Köbinghof, so belog sie sich selber.

Was würde Arne sagen, wenn sie ihn jetzt fragen könnte.

Würde er sagen: Du hast nicht das Recht, einem andern zu geben, was du mir vorenthalten hast? Büße die Schuld, die du gegen mich eingegangen bist, und die du gegen den Lebenden nicht abgetragen hast? –

Würde er sagen: Ich spreche dich frei von aller Schuld, ich entbinde dich von den Pflichten einer Liebe, die du nie gehabt hast? Der Köbinghof ist mir wichtiger, als du mir bist –kaufe ihn meinen Kindern zurück mit dir selber – ich erhebe keinen Anspruch mehr an dich und deine Treue? –

Aber die Toten sind stumm, und kommen nicht zurück, um den Lebenden zu helfen aus den Nöten, in denen sie sie allein gelassen haben. – – –

Maria hörte endlich auf zu grübeln. Wozu auch immerfort grübeln? Sie stand einer Tatsache gegenüber. Sie hatte Rütjer Thoren fortgeschickt. Er würde nicht wiederkommen. Sie würde ihn nicht rufen. Es war zu Ende.

Und wenn sie zum zweitenmal ihr Leben unter einen Irrtum gestellt hatte, so mußte sie zum zweitenmal die Folgen dieses Irrtums auf sich nehmen. Irrtum ist Schicksal. Wahrheit ist Erlösung. Wo aber tönt in diesem Leben die Stimme der Wahrheit, die dem Menschen mit erlösender Himmelskraft sagte: so und nicht anders, dies ist das rechte, das sollst du tun, und das sollst du lassen? Die Stimme des Gewissens, des Glaubens, der Liebe, der Pflicht und der Hoffnung – sie alle können irren. Denn sie entspringen alle der unfreien, durch menschliche Schwächen und Fehler getrübten Seele. Die rechte Erkenntnis des Lebens offenbart sich erst, wenn das Leben zu Ende ist.

Trotz alledem, oder weil das alles so war, fand Maria ihr inneres Gleichgewicht nicht wieder. Wenn das so weiter geht, dachte sie, wenn diese fürchterliche Sehnsucht nicht aufhört, so wird sie mich unfähig machen, den Weg zu gehen, den ich mir selber vorgezeichnet habe. Umkehren werde ich nicht. Aber ich werde zusammenbrechen, und die schlimmste Niederlage erleben, die ein Mensch erleben kann – den Zusammenbruch an sich selber.

Da wurde ihr eines Tages ein schwerer, umfangreicher Brief gebracht. Er trug eine Aufschrift von korrekter Schreiberhand, und war mit einem großen Gerichtssiegel geschlossen. Sie nahm ihn in Empfang so gelassen und teilnahmslos, wie sie die tägliche Zeitung in Empfang nahm. Sie fürchtete nichts mehr und erwartete nichts mehr.

Als sie das Schreiben erbrach und die ersten Worte las, stutzte sie. Dann las sie weiter. Dann ließ sie das Schreiben auf die Erde fallen. Der Boden schwankte unter ihren Füßen. Das Zimmer drehte sich im Kreise um sie. Sie griff mit den Händen in die Luft, stieß einen Schrei aus, und wurde zum erstenmal im Leben ohnmächtig.

Der Zusammenbruch war da; aber anders, als sie gefürchtet hatte.

Das Schreiben war eine Schenkungsakte, vom Gericht ausgefertigt, von Rütjer Thoren unterschrieben mit großen, energischen Schriftzügen, unumstößlich, unwiderruflich.

Rütjer Thoren schenkte den Köbinghof, mit allen Liegenschaften an Frau Maria Terhalden für deren einzigen, nach dem Tode des Vaters geborenen Sohn zu alleinigem Erb- und Eigentum. –


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