Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Jörg Venningen und Maren fuhren noch an diesem Abend nach Hause. Sie hatten einen Weg von etwa zwei Stunden bis zu dem stattlichen Hof, den Jörg weiter unten im Tal besaß, und sie zogen es vor, trotz der vorgerückten Stunde noch zurückzukehren, er zu seiner Erntearbeit, sie zu ihren Kindern. Die Nacht war kühl und erquickend nach der drückenden Tageshitze.

Der Hauptmann und seine Frau benutzten am andern Morgen einen frühen Zug, der sie nach der Garnison entführte. Zu besprechen hatten sie nichts mehr; zu tun gab es nichts mehr; und die ernste, schwere Luft des Köbinghofes behagte ihnen beiden nicht sonderlich. Axel von Bergen wußte ebensowenig mit seinem Schwager anzufangen, wie Hille mit ihrer Schwester. Und Maria – Maria spielte überhaupt keine Rolle in der Familie. Hille konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich auf dem Köbinghof einleben, daß sie da etwas leisten würde. Sie war so nichtssagend, die stille, blonde Maria.

Die drei Zurückbleibenden empfanden die Ruhe, die nach dem Durcheinander der letzten Tage plötzlich eingetreten war, wohltuend. Einer fühlte es dem andern ab, obgleich keiner es aussprach.

Arne Terhalden ging hinaus, rief sich den alten Knecht, der seit Jahren bei seinem Vater so eine Art Verwalterrolle gespielt hatte und nahm mit ihm eine genaue Besichtigung der Ställe, Scheunen und Felder vor. Er hatte ein Notizbuch bei sich, in das er sich ab und zu Bemerkungen eintrug, und das der alte Bartl mißtrauisch betrachtete, weil er an seinem seligen Herrn dergleichen nicht gewohnt war. Alle Fragen, die Arne an ihn richtete, beantwortete er stets mit der Einleitung: der selige Herr hat das so haben wollen; der selige Herr hat das so eingerichtet. Und wenn irgend etwas sich nicht Arnes ungeteilten Beifalls zu erfreuen hatte, so klang es gekränkt: »Der selige Herr hat das so gut geheißen.«

Als sie mit ihrem Rundgang fertig waren – es war darüber Mittag geworden –, fragte der alte Bartl, ob der Herr die Leute zu sprechen wünsche.

»Warum?« fragte Arne. »Ich kenne sie ja alle.«

»Ich meinte nur, weil Herr Arne doch jetzt unser Herr ist.«

»Nun ja – was weiter? Das wissen sie ja alle.«

Der Alte schwieg und dachte bei sich: das hätte der selige Herr nicht gutgeheißen.

Er war überhaupt enttäuscht über das erste Zusammensein mit dem neuen Herrn. Er hatte sich auf ihn gefreut als auf das Kind dieses Hofes, innen verwandt und verbunden durch die gemeinsame Arbeit von Jahrhunderten. Aber er war zu ihnen gekommen wie ein Fremder in geschäftlichen Angelegenheiten.

Inzwischen hatte Antje Maria Terhalden mitgenommen und hatte ihr das Hauswesen übergeben.

»Wenn du es auch einstweilen noch nicht übernimmst, es ist doch dein, ich verwalte es doch nur in deinem Namen und für dich.«

»Sprich nicht so, Antje.« –

»Warum nicht? Man soll sich nicht scheuen, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Es wird mir auch gar nicht so schwer, wie ich fürchtete. Ich kannte dich ja vorher kaum.«

»Und nun?«

»Nun weiß ich, daß es mir ein lieber Gedanke sein wird, dich hier an Stelle unserer Mutter schalten und walten zu wissen.«

»Ich danke dir, Antje.«

Lange nicht hatte etwas ihr so gefallen, wie die schlichten Worte des schlichten Mädchens.

So ungünstig sich das Urteil über den neuen Herrn an diesem Tage gestaltete, so einig waren sich alle in ungeteiltem Lobe der neuen Herrin. Nicht nur, daß sie fein und hübsch und vornehm war; sie hatte für die geringste Magd ein freundliches Wort gehabt; und den alten triefäugigen Hofhund, den jeder aus dem Wege stieß, hatte sie gestreichelt. Und überhaupt, sie hatte so etwas Warmes, Weiches um und an sich, was man auf dem Köbinghof nicht kannte, und wofür doch jeder empfänglich ist; es lag wie ein heller Schein um ihr lichtes Haar, in ihren stillen Augen.

Antje ging so stolz nebenher, als sei das alles ihr Verdienst. Sie wunderte sich heute, daß ihr gestern so bitter und weh hatte zumute sein können.

Aber das blieb nicht so.

Arne und Maria Terhalden reisten ab, und Antje blieb allein.

Für jemanden, der noch nie allein gewesen, ist Einsamkeit eine harte Prüfung. Es kommt darauf an, ob man genug in sich trägt, solche Einsamkeit auszufüllen. Und auch, wenn man es hat – es ist nicht gleich bei der Hand, was noch nie geübt und gebraucht wurde.

Zu tun gab es auch nicht sonderlich viel; wenigstens nicht mehr als sonst.

Sie hatte Arne gefragt, ob sie sich um die Außenwirtschaft kümmern solle, da er doch nur selten und nie für lange hier sein konnte. Er hatte es nicht für nötig gefunden. Antje hatte aus seiner höflichen Ablehnung herausgehört, daß er ihre Einmischung in diese Dinge nicht angenehm empfinden würde. Antje war stolz und ein wenig empfindlich; sie wußte auch, daß man mit Arne leicht aneinander geriet und daß mit ihm nicht gut streiten war. Sie beschränkte ihre Tätigkeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit auf Haus und Garten und Federvieh, und ließ alles andere gehen, wie es mochte. Unter Bartls treuer Hut war ohnehin alles wohl versorgt.

Solange das Tageslicht bis zu später Stunde schien, war es ganz erträglich. Aber dann kamen die langen Abende, die Herbststürme und das nasse Wetter.

Da saß die junge, lebensreife Antje ganz allein in den düstern Zimmern des alten düstern Hauses und kämpfte um sich selbst.

Buch um Buch aus den großen Borden wanderte durch ihre Hände. Aber die trockenen Buchstaben sättigten die Seele nicht, die zum Leben drängt.

Handarbeiten, Stopfen, Stricken, Nähen mochte sie schon gar nicht. Denn dann wanderten die entfesselten Gedanken, sprangen umher wie koppellose Füllen oder flatterten auf wie gescheuchte Vögel oder krochen um sie herum wie ängstigende Gespenster.

Zu den wenigen Nachbarn mochte sie nicht. Ihr Vater hatte immer einsam gelebt, und sie hatte keine Freunde. Was sollte sie auch reden mit den Leuten? Sie war des Redens ungewöhnt. Man würde ihr Fragen stellen, die sie nicht beantworten mochte; ihr Dinge erzählen, die ihr gleichgültig waren. Und für ihr Herz und ihre einsame Not würde sie keinen Gewinn davon haben.

Nur zu Maren fuhr sie manchmal, das tat ihr gut, das wärmte sie. Maren war immer herzlich und guter Dinge, glücklich mit ihren Kindern, wie die Henne mit ihren Küchlein, verliebt in ihren Mann, der für sie der Inbegriff alles Guten und Vollkommenen war. Und Jörg Venningen ließ sich lieben und verziehen, und es war ihm wohl dabei und er ruhte sich aus darin.

»Wenn man euch so sieht – man könnte wirklich Lust bekommen, zu heiraten,« sagte Antje einmal. Maren griff das freudig auf, denn die ungewisse Zukunft der Schwester war ihr ein Kummer. In ihren Augen gab es eben nur den einen Beruf für die Frau. –

»Tu es doch, Antje,« sagte sie dringlich.

Antje runzelte die Stirn.

»So etwas kann man nicht wollen. Wenn's sein soll, so kommt es von selber.«

Auf dem Heimwege überlegte sie, daß Marens Los doch nichts für sie wäre. So ein behagliches Glück in alltäglicher Enge. –

Sie hatte längst keine Schulmädchenideale mehr, die große, reife Antje. Aber jeder Mensch braucht eben anderes zu seiner Befriedigung.

Und schließlich finden die wenigsten das rechte.

Pünktlich alle vier Wochen kam Arne auf den Köbinghof.

Jedesmal hoffte Antje, daß er Maria mit bringen würde. Aber er kam immer allein. Und es war ihr je länger je weniger behaglich mit ihm.

Er hatte nur Geschäfte im Kopf. Das war ja am Ende natürlich, da er alles in möglichst kurzer Zeit erschöpfend erledigen wollte. Aber er hätte sich doch ein klein wenig für sie interessieren können. Er fragte gar nicht danach, wie es ihr gehe, womit sie ihre Zeit hinbrächte, wie ihr ums Herz sei. Er sagte ihr nie ein anerkennendes Wort darüber, daß sie ihm das Opfer ihres Hierseins brächte. Und Antje war eigensinnig. Wonach er nicht fragte, davon sprach sie nicht und ärgerte sich stillschweigend über ihn.

Sie konnten eine halbe Stunde beieinander sitzen, ohne ein Wort zu sprechen. Der Vater war auch schweigsam gewesen; aber ein Unterschied war da: in des Vaters stiller Ruhe war ihr warm gewesen; Arne verbreitete um sich eine lähmende Kälte. Sie wußte nicht, woran das lag; sie hatte es früher nie so empfunden. Sie war ja auch noch nie so allein mit ihm gewesen.

Wie das Maria nur so aushält, dachte sie, die zarte, warme Maria, in deren Augen man die Fibern ihrer Seele schwingen sieht!

Sie fing schließlich an, sich vor Arnes Kommen zu fürchten. Es war ja viel besser, allein zu sein, als dies Beisammensein mit jemanden, in dessen Nähe man sich immer unbehaglich fühlt.

Zu Weihnachten wurde Antje von allen drei Geschwistern eingeladen. – Sie entschloß sich, zu Hille zu gehen, obschon sie das am wenigsten gern tat. Aber sie glaubte, es ihr schuldig zu sein. Bei Maren war sie oft gewesen; Arne widmete sie ihre ganzen Tage, ihre Kraft, ihre Zeit. Bei Hille war sie noch nie seit des Vaters Tode. Und Hille hatte so gebieterisch geschrieben. –

»Ich nehme es einfach übel, wenn du nicht kommst.« –

Also reiste sie am Abend vor Heiligabend nach Hannover.

Am liebsten wäre sie auf dem Köbinghof geblieben, bei ihren Leuten, ihren Tieren, in ihrer Einsamkeit, in ungestörter Gedenkfeier der Vergangenheit. Aber man darf manchmal nicht, was man möchte, bildet sich wenigstens ein, es nicht zu dürfen. Man ist zu befangen in Rücksichten aller Art.

Sie hatte leise Angst vor Hilles unruhiger Lebhaftigkeit, ihrer Oberflächlichkeit, ihrer Denkungsart, die der eigenen Gedankenwelt so fremd und unverständlich war. Sie wußte, daß sie und Hille schlecht zusammenpaßten und hielt Hilles dringende Einladung für eine Marotte. Hille mochte nirgends zurückstehen, am wenigsten im Geschwisterkreise. Sie erweckte gern den Anschein, als sei sie die Vertrauteste und Geliebteste eines jeden unter ihnen.

Den Schwager kannte sie wenig. Sie hielt ihn für gutmütig, liebenswürdig, leichtsinnig. Im übrigen gehörte er zu denen, deren wahres Wesen sich unter einer glatt schillernden Oberfläche verbirgt, die nur in den wenigen großen Momenten des Lebens ihr eigenstes Selbst ausspielen und die solche Momente scheuen, weil sie sich nicht gern offenbaren als das, was sie eben sind.

Zuerst freilich machte ihr Hilles Haushalt, den sie zum ersten Male näher kennen lernte, einen heiteren, harmonischen Eindruck. Es war alles zierlich und elegant, mit Geschmack und Geschick geordnet. Nichts von dem schwerfälligen, soliden Behagen des Köbinghofes. Alles leicht, vergnügt, sorglosen Lebensgenuß atmend. Es gab, trotz des Winters, immer Blumen in den Fenstern; es kam immer eine niedliche Leckerei auf den Tisch. Hille war von früh an sorgfältig frisiert und gekleidet, verbrachte den Tag mit unendlichen Nichtigkeiten, denen sie den Anschein größter Wichtigkeit zu geben verstand. Ihrer federnden Liebeswürdigkeit gegenüber kam sich Antje dumm und langweilig vor. Sie wunderte sich, wie Hille, die doch ebenso erzogen war wie sie, dies alles gelernt hatte, diese Wertschätzung kleiner Aeußerlichkeiten, diese praktische, nüchterne Auffassung großer Lebensfragen; dies Tändeln mit dem Leben, dies lachende Vorbeigleiten an jedem Ernst. Es war ihr unverständlich, aber es tat ihr in gewisser Weise gut; es war ein faules Ausruhen, ein von sich selbst losgelöstes Ausruhen nach dem allzuschweren am Leben Herumdenken ihrer monatelangen Einsamkeit. –

Hilles Kinder waren niedliche, wohlgepflegte kleine Püppchen, zierlich und verwöhnt, aber sehr wohlerzogen. Hille hielt streng auf tadellose Manieren, reine Finger, ordentlich gebundene Haarschleifen, auf eine höfliche und wohlgesetzte Redeweise. Ob die Kleinen im Kinderzimmer ihre Bonne quälten und belogen, sich zankten und beschimpften und dem Mädchen jeden nur möglichen Tort antaten, war ihr gleichgültig; davon wollte sie nichts wissen, und wenn sie es erfuhr, lachte sie darüber.

»Irgendwo und wie müssen sie sich austoben. Wenn sie sich nur im rechten Moment zu benehmen wissen. Wenn ich nur nichts davon merke.«

Antje war lange Zeit sprachlos bei solchen Aeußerungen.

»Aber Hille,« sagte sie endlich einmal, »ich begreife dich nicht. Gute Manieren sind ja sehr wichtig und schön, auch bei Kindern. Aber sie dürfen doch nicht angeklebt und auswendig gelernt sein, sie müssen sich von selbst ergeben, als Resultat der moralischen Erziehung. Sonst haben sie keinen Wert, und man ist nie sicher, daß sie versagen.«

Hille lachte.

»Ach – du mit deinen ethischen Idealen! Was willst du bei so einem Kinde mit moralischer Erziehung! Ein Kind fragt doch nicht: was ist moralisch und was ist unmoralisch, sondern einfach: was darf ich und was darf ich nicht. Daraus ergeben sich später die moralischen Begriffe von selber. Und dann hören auch die Ungezogenheiten von selber auf. Daß Kinder ungezogen sind und sein müssen, dafür hat jeder Verständnis. Wenn sie aber unmanierlich sind, heißt es nur: was sind die Kinder schlecht erzogen. Und das läßt man sich als Mutter nicht gern nachsagen.«

Antje hätte darauf so viel zu erwidern gehabt, daß sie es klüger fand, gar nichts zu sagen.

Den Schwager mochte sie sehr bald gern. Er behandelte sie mit herzlicher Freundlichkeit, gab sich gemütlich und ungezwungen und schien zufrieden mit sich und aller Welt. Er spielte so nett mit seinen Kindern, die er zärtlich zu lieben schien. Bei den Vorgesetzten war er gut angeschrieben, bei den Kameraden beliebt. Er hatte immer Einladungen und Verabredungen, und brachte bald diesen bald jenen Bekannten ins Haus. Von der Familientrauer war nicht viel zu merken, außer Hilles schwarzen Kleidern und dem Fernbleiben vom Theater und Gesellschaften, das von Hille als Entsagung empfunden und betont wurde.

»Man kommt so heraus aus allem, und in der Stadt ist solch Innesitzen doppelt langweilig. Die Kinder haben mich ohnehin drei Winter lahmgelegt.«

Antje dachte an den einsamen, ernsten Vater und an sein stilles, frisches Grab, und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. Aber Hilles Liebenswürdigkeit verwischte allemal bald solche unangenehmen Empfindungen.

Manchmal dachte Antje von der Schwester: sie ist doch eine oberflächliche Frau. Trotzdem setzte sich die Ueberzeugung in ihr fest, Hille sei nur ein unreifes, vom Leben verwöhntes Kind.

Aber Hille von Bergen war keins von beiden.

Nachdem Antje einige Tage bei den Geschwistern gewesen war, fing sie unwillkürlich an, über das Verhältnis der Eheleute untereinander nachzudenken. Wie stehen sie zueinander? Sind sie glücklich oder sind sie nicht glücklich? Ist das, was sie aneinander bindet, Liebe oder Gewohnheit? Sehen sie einer im andern die Notwendigkeit des eigenen Daseins, die Erfüllung des eigenen Ichs, der tiefinnersten Lebenssehnsucht – oder haben sie auf Grund unwiderruflicher Tatsachen ein Kompromiß geschlossen, sich mit Vorhandenem abgefunden und Nichtvorhandenes verschmerzen gelernt?

Solche Fragen an sich enthielten schon ein verneinendes Urteil. Aber das wußte Antje nicht, die in der Einsamkeit und Einförmigkeit ihres Lebens unwissend geblieben war, der noch der Schmetterlingsstaub eines vorurteilslosen Vertrauens in Menschen und Dinge auf den Flügeln einer harmlosen Seele glänzte.

Weil sie sich hier aber vor etwas gestellt sah, was ihre harmlose Seele nicht begriff, fing sie an zu beobachten, zu suchen, nachzudenken.

Sie sah, daß Hille und ihr Mann sich küßten und ungeniert in ihrer Gegenwart zärtlich waren. Das kannte sie nicht von zu Hause her. Und sie hörte, daß Hille ihrem Mann patzige Antworten gab, daß Axel heftig antwortete, daß sie in unzarter Weise die intimsten Dinge erörterten, daß sie sich stritten und sich gegenseitig über die nichtigsten Sachen lieblose Vorwürfe machten. Das kannte sie erst recht nicht von zu Hause her.

Sie erlebte, daß Hille unmittelbar nach einer zärtlichen Szene über das Joch der Ehe seufzte, und ebenso unmittelbar nach einem häßlichen Wortgefecht lachte, trällerte und in rosigster Laune war.

Antje dachte: entweder man liebt sich – dann ist man nicht so unzart und lieblos gegeneinander. Oder man liebt sich nicht – dann küßt man sich nicht und hat sich nicht so miteinander.

Irgend etwas war unklar und unwahr an diesem Verhältnis. Antje kam es vor, als sei es nur ein äußerliches, dem die feste Gründung einer inneren Gemeinsamkeit fehlte. Sie fühlte sich beunruhigt und je länger je mehr unbehaglich.

Da war doch Marens Ehe anders, obgleich sie auch an der manches auszusetzen hatte. Worin lag der Unterschied?

Sie dachte plötzlich an Maria und Arne. Und da war erst recht etwas, was ihr nicht behagte.

Gab es überhaupt keine vollkommene Ehe oder hatte sie sich nur ein ganz unwirkliches Ideal aus der Ehe überhaupt zurechtgemacht?

Sie hätte mit jemandem darüber sprechen mögen, aber nicht mit Hille. –

Dann kam es doch einmal ganz von selber.

Sie saßen nach dem Abendessen zusammen in Hilles Zimmer. Die Kinder waren zu Bett gegangen, Hille war übellaunig, weil Axel den Abend im Kasino zubrachte. Weniger das ärgerte sie, daß sie seine Gesellschaft entbehrte, als daß sie immer zu Hause sitzen mußte und er trotzdem ausging. Männer nehmen es leicht mit den Aeußerlichkeiten der Trauer. Und Männer sind immer selbstsüchtig und rücksichtslos. Sie hatte weidlich über das alles räsonniert und ärgerte sich noch mehr, weil Antje so still blieb und ihr gar nicht recht zu geben schien.

Trotzig und ärgerlich fragte Hille nach einer längeren Pause gerade heraus:

»Bekommst du eigentlich gar keine Lust zu heiraten?«

»Bei dir nicht,« antwortete Antje schroff und ehrlich.

»So –« machte Hille und stichelte gewaltsam auf die feine Handarbeit los, die sie in ihren hübschen, rosigen Fingern hielt.

»Warum nicht?« fragte sie nach einer Weile weiter, ohne aufzusehen.

»Weil eure Ehe nicht das ist, was ich mir wünschen würde.«

»So. – Und was denkst du dir denn eigentlich unter einer Ehe, wie du sie dir wünschen würdest?«

»Das vollkommene Ineinanderaufgehen, Nichtvoneinanderloskönnen zweier Persönlichkeiten, die das Schicksal eigens für einander geschaffen hat.«

Hille lachte, halb gezwungen, halb belustigt.

»Dann wirst du entweder unverheiratet bleiben, oder – gräßlich reinfallen.«

Antje, deren Hände unbeschäftigt auf ihrem Schoß lagen, rückte unruhig auf ihrem Sitze hin und her.

»Willst du damit sagen, daß du ›gräßlich reingefallen‹ bist?«

Jetzt legte auch Hille ihre Arbeit hin, lehnte sich zurück und sah die Schwester mit einem überlegenen Ausdruck an.

»Nein, mein Kind. ›Gräßlich reinfallen‹ tut man nur, wenn man solche dummen Ideale hat wie du. Es mag ja Menschen geben, die solch Ideal erleben, auch in der Ehe. Aber das sind vereinzelte Glücksfälle, auf die man nicht rechnen darf. Ich habe nicht darauf gerechnet, und darum betrachte ich mich auch nicht als ›reingefallen‹.«

»Du hast doch deinen Mann aus Liebe geheiratet?«

»Natürlich; und er mich. Wir lieben uns auch noch. Aber der Sonntag der Liebe vergeht, und der Alltag tritt in seine Rechte. Man entdeckt allerhand Fehler aneinander. – Das ist ganz natürlich, denn jeder Mensch hat Fehler. Man ärgert sich übereinander, man zankt sich gelegentlich. Hat man als Frau das Glück, ein temperamentloses oder verliebtes Schaf zu sein, dann gibt man sich auf, ordnet sich unter und betet den Herrlichsten von allen gläubig an. Das ist so Marens Fall. Andernfalls, wenn man klug ist, läßt man einander leben, wie man will, vermeidet unnötige Konflikte und wahrt den äußeren Schein.«

»Schrecklich,« sagte Antje.

»O, es ist gar nicht so schrecklich. Man tut es ja nicht umsonst. Man hat eine Stellung in der Welt, man hat seine Aufgaben und Pflichten, man hat Kinder – man ist versorgt in jeder Beziehung. Und man hat den Mann. Wir alle brauchen den Mann. Wenn wir's nicht zugeben wollen, belügen wir uns selbst und andre. Wir brauchen den Mann so gut, wie der Mann die Frau braucht. – Das ist Naturgesetz. Aber das menschliche Gesetz ist dumm und ungerecht, das der Frau den Mann nur durch die Ehe erlaubt, – dem Manne aber die Frau zuspricht, wo er sie nur haben will. Darum bleibt uns ja gar nichts andres übrig, als zu heiraten; wenigstens danach zu streben.«

»Aus solchen Gründen werde ich nie heiraten,« sagte Antje; sie war rot geworden vor Scham und Entrüstung.

Hille zuckte die Achseln.

»Es soll ja Mädchen geben, deren Natur erst durch die Ehe geweckt wird. Wohl dir, wenn du dazu gehörst.«

Antje brachte es nicht über die Lippen, Hille zu fragen, wie es denn mit ihr gewesen sei, sie gehörte nicht zu denen, die in krankhafter Prüderie vor allen heiklen Fragen zurückbeben; aber den leichtfertigen Ton in diesen Dingen vertrug sie nicht. Sie dachte wieder an Maria – ja, wenn Maria jetzt da an Hilles Stelle säße. –

»Was denkst du denn über Maria?« entfuhr es ihr unwillkürlich. In demselben Augenblick bereute sie die Frage.

Hille machte runde erstaunte Augen.

»Ueber Maria habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Keiner denkt über Maria nach,« sagte Antje mit grüblerisch sich furchender Stirn. »Es hat sich eigentlich noch niemand von uns so recht um sie gekümmert.«

»Warum auch? Man muß sich nie unaufgefordert um andere kümmern. Und Maria – die ist ja eine wandelnde Sammlung von Selbstverständlichkeiten. Gerade so wie Arne. Sie kann außerdem froh sein, daß sie ihn hat. Arne ist doch jedenfalls ein tadelloser Ehemann.«

»Was meinst du damit?«

»Mein Himmel, Antje, du bist wie ein Baby im weißen Waschkleid. Kannst du dir vorstellen, daß Arne seiner Frau jemals untreu ist?«

»Nein – allerdings nicht.«

»Na also, und du kannst mir glauben, das ist viel wert, das ist die Hauptsache. Ich weiß es, denn ich habe in dieser Hinsicht viel zu verzeihen und zu übersehen,« schloß sie mit einem märtyrerhaft ergebenem Augenaufschlag.

Antje war empört, erregt, sie wußte selbst nicht, worüber. Sie fühlte sich entsetzlich ungemütlich.

»Ich verstehe ja wohl nichts davon,« sagte sie hart und kurz. »Aber glaube nicht, daß es die Hauptsache ist. Ich glaube, daß man das alles verzeihen und vergessen kann, wenn man –« sie stockte.

»Nun, wenn man –?«

»Ach, laß doch, Hille, du lachst mich ja doch nur aus.« –

Seit diesem Gespräch fühlte Antje sich nicht mehr wohl bei Hille. Sie ging herum wie jemand, der überall fürchtet, sich die Finger zu verbrennen. War sie mit dem Ehepaar allein, so kam sie aus einer ängstlichen Unruhe nicht heraus. Sobald ein Wortgefecht drohte, schlich sie sich davon. Dann hörte sie Hille übermütig kichern. Sie war überzeugt, daß Hille jene ganze Unterredung ihrem Manne wiedererzählt hatte. Sie schämte sich vor Axel. Sie wagte nicht mehr, ihn gerade anzusehen. Es half ihr nichts, daß er nach wie vor harmlos und unbefangen blieb, daß sie ihn eigentlich täglich lieber mochte und unbewußt in ihrem Herzen seine Partei nahm.

Sie mußte immerfort über das alles nachdenken und empfand die Gedanken, die sie sich über Axel und Hille machte, als eine Schlechtigkeit, als ein unzartes Herumtasten an zarten, heiligen Dingen.

Wie eine Erlösung aus diesem Zustande wirkte ein Brief von Arne, der kurz vor Neujahr eintraf, und in welchem er Antje in kurzem Geschäftston mitteilte, daß es ihm gelungen sei, die Pachtung schon jetzt abzugeben, und daß er Anfang Januar nach dem Köbinghofe übersiedeln werde.

Mit einem Male waren ihre Gedanken abgelenkt und in eine andere Richtung gedrängt.

Arne übernahm den Hof, das hieß: sie, Antje, konnte nun gehen. Ja, und sie wollte gehen, würde gehen.

Wohin?

Antje liebte es nicht, sich Gefühlen hinzugeben, gerade, weil sie tief und schwer fühlte. Das Handeln war mehr ihre Sache.

In diesem Falle aber war rasches Handeln doppelt nötig. Sie griff sofort den Gedanken an eine selbständige Tätigkeit auf und überlegte, was für sie in Frage kommen konnte.

Bei Hille stieß sie auf Entrüstung und völlige Verständnislosigkeit. Ein Mädchen aus guter Familie, das nicht mittellos ist, das zahlreiche Verwandte hat, die es gern aufnehmen würden, braucht nicht in Stellung zu gehen.

Axel schüttelte bedenklich den Kopf. Selbständige Arbeit nahm einem Mädchen den weiblichen Charme, stürzte es in unbekannte Gefahren und bedenkliche Situationen. Antje möchte es sich wenigstens noch überlegen.

Das versprach sie und redete nicht mehr darüber. –

Mit dem Ueberlegen aber schien sie schnell fertig geworden zu sein. Während Axel und Hille sich beruhigten in der Ueberzeugung, ihr diese Pläne ausgeredet zu haben, faßte sie ihre Entschlüsse.

Am Abend vor ihrer Abreise teilte sie den Geschwistern mit, daß sie beschlossen habe, die Buchführung und das Rechnungswesen zu lernen und dann eine den Kenntnissen entsprechende Stellung zu suchen.

Hille war sprachlos. Das hatte sie am wenigsten erwartet. Gesellschafterin – Repräsentantin in irgend einem großen Hause, das hätte sie allenfalls noch gebilligt. Das tun schließlich viele. Aber so ganz allein hinaus in die Welt – wie der erste beste Junge –, Bureauarbeit, ganz gemeine Arbeit den ganzen Tag lang und auf sich selbst angewiesen – unbeaufsichtigt, unbeschützt, das verstieß gegen alle guthergebrachte Sitte. Das tut man nicht.

»Du bist einfach verrückt,« schloß sie ihre erregte Rede.

Antje zuckte die Achseln, sie war unerschütterlich.

»Und wo soll denn das vor sich gehen?« fragte Hille böse.

»Das Lernen, meinst du? Ich weiß solch ein Institut, habe mich im Herbst nach allerhand umgetan. In Hamburg.« –

Nun wurde es erst recht schlimm.

In Hamburg, wo sie keine Menschenseele kannte, niemanden hatte, der sich ihrer annehmen konnte.

»Ich brauche ja niemanden,« wandte Antje ein.

»Du brauchst wohl jemanden – das ist einfach nötig – aus ganz gemeinen Schicklichkeitsgründen. Setze ihr das doch mal auseinander, Axel,« wandte sie sich an den Mann, der schweigend dabei saß, in Seelenruhe seine Zigarette rauchte und seine große, hübsche Schwägerin interessiert beobachtete.

Axel tat, wie ihm geheißen; mechanisch, ohne die Wärme überzeugten Widerspruchs. Er wußte längst, daß alles Reden umsonst sei. Er wußte auch, daß man Antje ruhig ihren Weg gehen lassen konnte. Dummheiten würde sie nicht machen, und wenn sie nicht weiter kam, würde sie von selbst aufhören.

Hille versuchte endlich noch, ihr Hamburg auszureden.

»Komm doch hierher – ich weiß, daß es hier auch solche Schule gibt. Hier hast du doch wenigstens uns –«

Aber das wollte Antje nicht.

»Ich hätte wenig von euch. Tagsüber will ich arbeiten – abends bin ich dann müde. Es hätte doch nur Sinn, wenn ich bei euch wohnte.« –

»Das kannst du ja,« sagte Hille. Es klang etwas kleinlaut.

Axel sagte gar nichts, und Antje lächelte vor sich hin.

»Das würde ich nie tun, wir würden uns gegenseitig stören. Ich muß ganz frei sein, und du würdest dich nur über mich ärgern, und würdest dich meiner schämen vor deinen Regimentsdamen.«

Hille besah ihre Fingernägel und schwieg verlegen.

Wenigstens kann sie die Konsequenzen ziehen, dachte sie und fühlte sich wider Willen entlastet.

Hille nahm von der Schwester einen unfreien Abschied. Sie war mißvergnügt über Antje und verlegen vor sich selber. Sie stand unter dem Druck ihrer eignen Kleinlichkeit, die sie nicht abzuschütteln vermochte.

Axel drückte dem Mädchen warm die Hand.

»Ich wünsche dir Erfolg. Du verdienst ihn, und du wirst ihn finden.«

Antje fühlte eine warme Aufwallung für den Mann, der ihr in all diesen Tagen engen Beisammenseins ein Rätsel geblieben war. Als sie um die Straßenecke fuhr und das Haus, in dem die Geschwister wohnten, ihren Blicken entschwand, atmete sie befreit auf.


 << zurück weiter >>