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XIX.

An demselben Tage ging Rütjer Thoren auf seiner Feldmark umher, ohne im allergeringsten an seine Wirtschaft zu denken.

Ueber ihm dehnte sich der herbstliche Himmel in unendlicher, tiefer Bläue. Die Luft stand unbewegt über dem weiten, flachen Lande; alle Dinge hoben sich scharfabgegrenzt vom Hintergrunde ab, und waren doch umschmeichelt von einem klaren Duft der dem Auge wohltat. Die vereinzelten Birken und Weiden, die kleinen buschigen Gruppen alter Eichen, die Kirchtürme fern am blauen Horizont, die Gräser am Rain – alles war nah zum Greifen und alles trug einen Glorienschein satter Sonnenstrahlen. Und diese Sonnenstrahlen sogen so viel Wohlgerüche aus den Wiesen, deren kurz geschorner Teppich den Schritt des Winters erwartete, aus den Weiden, auf denen das junge Vieh die letzten würzigen Kräuter mit behaglichem Kauen zermahlte; aus der ganzen, schweren, fruchtbaren Erde, die schwere Aehren und ernste Menschen hervorbringt.

Rütjer Thoren ging durch das alles hin, wie jemand, der unbewußt getragen wird von der Kraft und dem Reichtum, der sich unter seinen Füßen breitet, um seine Glieder weht, über seinem Haupte dahinströmt.

Rütjer Thoren hatte schwere, glückliche Gedanken.

Als vor anderthalb Jahren Antje Terhalden ihn verlassen hatte, war ihm eine quälende Unruhe geblieben. Er konnte sich nicht darein finden, daß die Verbindung zwischen ihm und Maria nun wieder abgebrochen war.

Ueber ein Jahrzehnt hindurch hatte diese Verbindung nicht bestanden, hatte er gar nicht mehr mit der Möglichkeit einer solchen gerechnet. Maria war aus seinem Gesichtskreis ausgeschieden, – erloschen, wie ein Licht erlischt, das eine Zeitlang unsern Weg beschien. Sie war in sein Leben getreten wie am Firmament plötzlich ein Stern erscheint, von dessen Dasein niemand ahnte, dessen Kommen niemand voraussah, dessen Bahn niemand kennt. Und wie solch ein Stern, wenn er eine Zeitlang geleuchtet, wieder untertaucht in den Fernen unbekannter Ewigkeiten, so war Maria aus seinem Leben wieder hinausgeglitten in die Fernen unbekannter Schicksale. Wie aber das Auftauchen, Leuchten und Verschwinden solcher rätselhaften Sterne eingetragen wird in die Bücher der Wissenschaften zu unvergeßlichem Gedenken – so stand Marias Auftauchen, Leuchten und Verschwinden zu unvergeßlichem Gedenken eingezeichnet in Rütjer Thorens Seele. Und eine ewige Sehnsucht hatte sich an ihr entzündet, und die Schrift war mit dem Griffel der Liebe geschrieben.

So war es gewesen, und damit hatte er gelebt, wie mancher andre; mit einer Geschichte, die zu Ende ist, ohne einen Abschluß gefunden zu haben.

Dann kam Antje. Der Stern stand unter dem Horizont, aber er leuchtete wieder. Antje trug ihm dies Leuchten zu; denn sie kam aus der Atmosphäre dieses Sternes, und ein Schein war an ihr hängen geblieben. Sie war wie eine Uebertragung seines Lichtes.

Wenn aber ein Gestirn sein Leuchten vorausschickt, so ist das ein Anzeichen, daß es nächstens bald wieder auftauchen wird.

Es tauchte auf. Maria kam. Maria war wieder da.

Wie die Sonne den Frühling weckt aus der Schneedecke des Winters, so weckte ihr Erscheinen wieder die alte Leidenschaft in des Mannes Herzen. Sie war nie gestorben; hatte nur geschlafen unter der kalten Decke der Jahre und der Entsagung.

Und wieder ging Maria, wie sie gekommen war. Und Antje ging. Und alles war wieder, wie es vordem gewesen war. Aber in Rütjer Thorens Herz war die quälende Unruhe geblieben.

War denn das nur eine zwecklose Narrheit des Schicksals, das ihn aus seiner Ruhe, die Vergangenheit aus der Vergessenheit riß, nur um ihn zu beunruhigen, um alten Streit wieder zu erneuern, alte Wunden wieder aufzureißen?

Er selbst hatte ja dem Schicksal die Hand angeboten, indem er Antje Terhalden in seinen Dienst nahm.

Nein – das Schicksal hatte zuerst die Hand ausgestreckt, indem es ihm Antje Terhalden in den Weg führte.

Gleichviel, wie es nun war. Man kommt doch nicht hinter die unbekannten Absichten des verborgenen Lenkers merkwürdiger Geschicke. Manchmal sieht die Versuchung einem göttlichen Fingerzeig verzweifelt ähnlich – und umgekehrt. Und man weiß nicht, – soll man die Versuchung abwehren oder soll man dem Fingerzeig folgen.

Die neuerwachte Leidenschaft wies Rütjer Thoren auf den letzteren Weg. Einmal würde sich ja herausstellen, ob es der richtige gewesen war. Besser vom Herzen irregeführt werden, als vom Verstande.

Rütjer Thoren war fest entschlossen, Maria nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Es muß einen Grund, einen Zweck haben, dachte er, daß sie noch einmal meinen Pfad gekreuzt hat. Er schalt sich abergläubisch; und dennoch spürte er diesem unbekannten Zwecke nach, indem er ihr selber nachspürte.

Durch Antje erfuhr er nichts mehr. Die war weit fort, in unbekannten, glücklichen Fernen. Es wäre auch sonst aus allerhand Gründen der Klugheit und des Zartgefühls nicht gut möglich gewesen, sich von ihr Nachrichten zu holen.

Aber Rütjer Thoren hatte eine große Anzahl Bekannte, hatte allerhand geschäftliche Beziehungen im Lande. Die Welt ist rund, die Wege treffen sich, und was man wissen will, das erfährt man.

Rütjer Thoren erfuhr so allerhand. Meist war es immer das, daß die alte, weithin bekannte und geachtete Wirtschaftsführung auf dem Köbinghof rückwärts ging.

Es gab ihm zu denken. Er versuchte, sich auszumalen, wie so etwas auf Maria wirken würde; wie es endigen würde; wie sie es ertragen würde, wenn es ein schlechtes Ende nahm.

Rütjer Thoren fragte eines Tages, vor einigen Monaten, geradezu den Bevollmächtigten eines Bankhauses, das sein Vermögen verwaltete, wie es mit den Verhältnissen der Terhaldens vom Köbinghof stehe.

Es stellte sich heraus, daß dieses Bankhaus mit dem Köbinghof mehr zu schaffen hatte, als ihm lieb war.

Herr Arne Terhalden sei so gut wie bankerott. Wenn er sich nicht entschließen würde, zu verkaufen, so würde man sich im eignen Interesse genötigt sehen, die dort stehenden Gelder zurückzuziehen. Rütjer Thoren bat, ihn zu benachrichtigen, wenn dieser äußerste Fall eintreten müsse.

Warum er das tat – was er damit bezweckte – er wußte es selber nicht. Er folgte einer Stimme, die sich nicht mehr überhören ließ.

Eine Woche später las Rütjer Thoren in der Zeitung die Nachricht von Arne Terhaldens Tode.

Wenn die Sachen schlecht stehen, dachte Rütjer Thoren, so kommt es jetzt zum Austrag. Das ist immer so. Bis an die Schwelle des Todes reicht der Schein; dann kommt die Wahrheit.

Wenige Tage später war er schon wieder in der Provinzialhauptstadt; in eignen Angelegenheiten, täuschte er sich vor. Das andre sei nur Nebensache. – Es war aber gerade umgekehrt.

Er erfuhr, daß die Gläubiger den Verkauf des Köbinghofes in irgend einer Form als einzigen Weg zur Befriedigung ihrer Ansprüche erstrebten. Sie wollten der Familie noch eine kurze Frist lassen, ob sie unter sich einen rettenden Ausweg fänden. Inzwischen wollten sie sich nach einem zahlungsfähigen Käufer unter der Hand umtun.

Rütjer Thoren suchte und fand irgend einen Vertrauensmann, den er bevollmächtigte, für ihn als Käufer aufzutreten, und im werdenden Falle unter allen Umständen den Köbinghof für ihn zu erwerben, zu einem Preise, den er selbst nach den vorhandenen, ihm auf Grund seiner Absichten gegebenen Grundlagen ausgerechnet hatte. Nur für den Fall sollte der Käufer zurücktreten, daß die Familie selbst als solcher in Frage käme. Auf keinen Fall sollte der Köbinghof in die Hände eines andern übergehen. Sein Name sollte einstweilen nicht genannt werden. Er sagte sich, daß dies Schwierigkeiten machen würde. Er scheute weder geschäftliche Weitläufigkeiten noch Kosten. Er wollte unter allen Umständen seinen Willen durchsetzen.

Warum?

Wer fragt warum, wenn die Stimme der Leidenschaft spricht. – –

So war Rütjer Thoren vor vier Wochen in den Besitz des Köbinghofes gekommen.

Einstweilen trat sein Vertrauensmann als Besitzer auf. Er hatte Vollmacht, alle Angelegenheiten nach Gutdünken, aber im Interesse der Verkäuferin zu erledigen. Er hatte Auftrag, in jeder Beziehung das größte Entgegenkommen zu zeigen, und unverbrüchlich zu schweigen, bis Rütjer Thoren es für gut fand, selbst in seine Rechte zu treten.

Nun war es so weit. Allerhand Geschäftliches machte sein persönliches Auftreten notwendig. Die Dinge standen so, daß schnelles Eingreifen und Handeln durch ihn selber unvermeidlich war. Nun hieß es hervortreten und die Maske von sich werfen.

Rütjer Thoren fürchtete sich vor diesem Augenblick.

Für morgen hatte er sich auf dem Köbinghof angemeldet. Nun ging er umher, getrieben von einer inneren Unruhe. Was würde er finden?

Wie würde es werden?

Er wußte, daß Maria fort war. Eher wäre er nicht gekommen.

Wohin sie gegangen war, das wußte er nicht. Ins Ausland, hatte man ihm geschrieben. Er glaubte es nicht.

Heute fragte er sich, warum er eigentlich diese Komödie vor Maria gespielt hatte. Er wußte keine andre Antwort, als die innre Ueberzeugung, daß Maria ihm unter keinen Umständen den Hof verkauft haben würde, und daß er eben unter allen Umständen den Hof haben, ihn keinem andern lassen wollte.

Einmal würde er vor Maria hintreten und sie selbst für sich fordern. Und er würde sie gewinnen. Und dann würde er ihr den Köbinghof als Morgengabe, als Hochzeitsgeschenk in die Hände legen.

Das alles aber konnte er ihr jetzt nicht sagen. Und darum war diese Komödie weiter nötig gewesen.

Der Stern war wieder aufgegangen am Horizont von Rütjer Thorens Leben. Er durchleuchtete die Nacht, die ihn seinem neuen Besitz, seiner neuen Hoffnung entgegentrug. – – –

Jörg und Maren war sehr erstaunt, als zwei Tage nach Marias Abreise nach Australien das wohlbekannte Gefährt vom Köbinghof vor ihrem Hause hielt.

»Der neue Besitzer macht uns seinen Besuch,« seufzte Maren ergebungsvoll.

Jörg sah zum Fenster hinaus und schüttelte verwundert den Kopf.

»Das ist nicht der neue Besitzer,« sagte er. »Den kenne ich ja. Der sieht ganz anders aus.«

Es wurde ihnen eine formelle Karte hereingebracht.

»Rütjer Graf Thoren,« stand darauf.

Jörg und Maren starrten einander an.

»Wo kommt der her? Was will der? Was hat das zu bedeuten, daß er mit dem Wagen vom Köbinghof kommt?«

Da stand er schon vor ihnen. Da erfuhren sie es. Und begriffen es nicht.

»Ja – aber – mein Gott –« stammelte Jörg, »warum denn das? Und warum denn dies Spiegelfechten?«

Rütjer Thoren erklärte es, so gut er konnte, ohne die Wahrheit zu sagen und ohne zu lügen. Es sei ihm einfacher und lieber so gewesen.

Jörg und Maren blieben ziemlich fassungslos. Sie hatten so viel Gedanken, daß die Worte sich nicht einstellten.

Hat er das wegen Antje getan? dachten sie einmütig. Hat er Antje doch geliebt, und ist dies nun die Folge davon?

»Ich hoffe«, sagte Rütjer Thoren, »daß es Ihnen nicht schwerer fällt, den Köbinghof in meinen Händen zu wissen, als in irgend welchen andern.«

»Nein,« sagte Jörg. »Gewiß nicht. Warum denn? Ich begreife nur nicht –«

Da fragte er nach Maria.

Es war ordentlich erleichternd, von etwas anderm zu sprechen.

»Maria ist vor zwei Tagen in See gegangen – nach Australien.«

Rütjer Thoren konnte den Schreck nicht ganz verbergen, den ihm das verursachte. Aber die beiden waren zu beschäftigt mit andern Dingen, um etwas davon zu merken.

»Zu Antje – zu ihrem Bruder?« fragte Rütjer Thoren.

»Ja.«

»Für immer?«

»Nein. Sie hat ja ihre Kinder bei uns. So etwa im Frühling wird sie wiederkommen.«

Er atmete tief auf unter einer großen Erleichterung.

Schließlich war es ja ganz egal. Er hätte sie sich ja auch von da zurückholen können.

Er vertiefte sich mit Jörg in ein wirtschaftliches Gespräch.

Maren saß dabei, schwieg und hörte zu.

Komisch, diese Männer. Sobald sie auf ihre Berufsinteressen kommen, tritt alles Persönliche in den Hintergrund. Wie bequem wäre es, wenn wir Frauen auch so geartet wären. Damit baut man so schöne Brücken über Abgründe von Empfindungen. –

Bald hörte Maren nicht mehr zu. Sie kannte das alles schon so genau, diese Erörterungen, Erwägungen und Urteile über Arnes Wirtschaft, über alles, was da geändert werden mußte, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen und einträglich zu machen. Es schmerzte sie, dies alles immer wieder von neuem zu hören. Diese ganze unselige Geschichte war und blieb doch ein Schlag ins Gesicht der ganzen Familie.

Maren hörte nicht mehr zu. Sie sah nur und dachte.

Sie sah Rütjer Thoren.

Sie hatte soviel von ihm gehört. So viel, was sie gegen ihn eingenommen, was sie mit allerhand Vorurteilen und absprechenden Meinungen gegen ihn erfüllt hatte. Nun saß er da. Nun war er in ihr Leben hineingetreten, hatte Bedeutung gewonnen für sie durch den Gewaltstreich, mit dem er sich den Köbinghof unwiderruflich angeeignet hatte.

Ob Maria wirklich nichts davon gewußt hatte?

Und wenn, warum wohl hätte sie es verheimlicht?

Es blieb auf Antje sitzen.

Gott sei Dank, daß Antje glücklich verheiratet und weit weg war.

Denn der Graf Rütjer Thoren hatte zwar den Köbinghof gekauft, – aber Antje Terhalden würde er nicht geheiratet haben.

Sie sah ihn an und grübelte sich immer tiefer in das alles hinein.

Er gefiel ihr. Er war ein schöner Mann – weniger vielleicht durch die scharfgeschnittenen Züge seines Gesichts, durch die jugendliche Schlankheit seines soldatischen Körpers, als durch den Ausdruck starken persönlichen Lebens, das ihn durchseelte. Er hatte festen Willen unter der freien Stirn, verstecktes Feuer in den merkwürdig schwarzen Augen. Und es war ein gewisses Etwas um ihn und an ihm, das bei Maren ausklang in dem Empfinden: er könnte eben so gut in einem seidnen Rittermantel stecken, als in diesem langweiligen modernen Besuchsanzug.

Als er sie endlich verlassen hatte, standen Jörg und Maren sich stumm und hilflos gegenüber.

»Ich bin ganz verwirrt im Kopf,« sagte endlich Jörg. »Ich verstehe das alles nicht.«

»Es steckt etwas dahinter, Jörg. Verlaß dich drauf!«

»Dann wird es ja mit der Zeit herauskommen.«

Jörg machte ein paarmal die Runde durchs Zimmer, in einer großen, inneren Erregung, in einem unharmonischen Zwiespalt der Gefühle.

»Man kann ja nichts dagegen sagen. Wir hätten ja überhaupt nichts zu sagen gehabt dabei. Aber sympathisch ist es mir nicht. Auf unsre alten Höfe gehören die Edelleute nicht.«

»Es ist mir immerhin noch lieber, als so ein Geschäftsmann, wie der vermeintliche Käufer war.«

»Ja,« gab Jörg zu; »es ist eben eine heikle Sache mit solchen Ueberraschungen. Man läßt sich nicht gern überraschen, wo man lieber befehlen möchte.«

Maren schwieg. Sie hatte bittre Gedanken gegen Maria, die all diese schmerzlichen und unliebsamen Empfindungen veranlaßt hatte. – –

Rütjer Thoren blieb viele Wochen lang auf dem Köbinghof.

Sein Regiment machte sich fühlbar, in kurzer Zeit, in allen Ecken und Winkeln. Er räumte auf, gründlich, unnachsichtig. Er schien ebenso eilig bessern zu wollen, wie Arne gründlich geschadet hatte. Aber er räumte mit Auswahl auf. Die wirtschaftlichen Einrichtungen warf er alle über den Haufen. Die häuslichen Einrichtungen respektierte er wie heilige Ueberlieferungen. An die Wurzeln der offenkundigen Schäden in Hof und Feld legte er die unbarmherzige Axt tatkräftiger Umgestaltung. Aber die letzten Blumen im Garten betrachtete er mit liebevollen Augen und meist trug er irgendeine im Knopfloch.

Einmal ging er auf den Kirchhof.

Da lagen noch auf dem Grabe des kleinen Alf die weißen Astern, die Maria da zum Abschied hingelegt hatte. Er meinte zu sehen, wie sie da stand; er fühlte sie zittern; er hörte sie weinen. Mein Gott – was mußte es ihr gewesen sein, sich von diesem Grabe zu trennen!

Auch auf Arnes Grab lagen letzte weiße Herbstastern.

Marias Nähe war ihm so fühlbar an diesem Ort, in diesem Augenblick, daß es ihn nicht gewundert hätte, sie plötzlich als Geist da stehen zu sehen. Ihre Leiden, ihre Nöte, ihre Tränen, ihre Sehnsucht – alles schien zwischen diesen Gräbern ein lautloses Dasein zu führen. Alles, wovon sie nie gesprochen, wovon er nie gewußt, was er nur zu ahnen begonnen, als Antjes Finger ihm die verschlossene Tür zu Marias Leben unwillkürlich einen Spalt breit öffneten – das sprach zu ihm an dieser Stätte, als sei ihre Seele hiergeblieben, und erzähle seiner Seele die Geschichte ihres Erdenganges.

Und er fühlte eine Hand auf der Wunde, die er jahrlang unverheilt in seinem Herzen getragen hatte; eine Hand so lind und kühl, wie die Hand, die einst ein junges süßes Kind auf die fiebernde Wunde seines Leibes gelegt hatte. Die Hand der Hoffnung.

Wenn Männer wie Rütjer Thoren hoffen, dann ist das so gut, als ob sie schon die Erfüllung hätten. Denn ihr Hoffen ist eigentlich Wollen; und ihr Wollen ist Leidenschaft, und Leidenschaft kennt kein Zagen.

Rütjer Thoren fühlte sich so wohl auf dem Köbinghof, in dem Chaos, das er zu lichten hatte, in den Räumen, die erfüllt waren von der unsichtbaren Gegenwart des Geliebtesten, das die Erde ihm trug, – so leicht und froh bei all der schweren Arbeit, die der Verrichtung durch ihn harrte, beim Zerrinnen der Summen, die diese Arbeit ihm kostete, als erfülle er jetzt erst die Pflichten, für die er geboren und geworden war, die den eigentlichen Zweck seines Daseins ausmachten.

Den Zweck, Maria zu dienen in besitzender Liebe.


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