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X.

Maria freute sich auf den kleinen Alf. Das war das Gefühl, das sie während der langen, einsamen Heimfahrt beherrschte.

Sie klammerte sich an diese Freude, mit dem starken Willen, mit dem sie alles ergriff, was sie vor irgend einer seelischen Niederlage retten konnte.

Der kleine Alf konnte sie retten aus der furchtbaren Not, in die ihre kampfgewohnte und oft so kampfesmüde Seele von gewaltiger Hand hineingestoßen worden war. Er allein. –

Mit den Lichtern des Köbinghofes tauchte die Welt vor ihr auf, in die sie hineingehörte, aus der sie für eine kleine Weile ausgeschieden war, um unendlich glücklich und unendlich elend zu sein.

Ihre Leute empfingen sie mit einer Freude, die ihr zeigte, daß sie entbehrt worden war. Ihre Töchter taten nicht anders, als wenn sie von einem Nachmittagsbesuch bei Maren zurückkam. Arne Terhalden war schlechter Laune über irgend eine gerade vorgekommene Nachlässigkeit der Köchin und schüttete diese schlechte Laune umgehend über die Heimkehrende aus. Marias Herz, das weit und warm und sehnsüchtig schlug, schrumpfte zusammen und verhärtete sich.

Den kleinen Alf hatte man zu Bett geschickt.

Sie ging sofort zu ihm. Er saß aufrecht in seinen Kissen, sah erhitzt und verweint und jämmerlich aus. Als er die Mutter sah, fing er an, wild zu schluchzen und umklammerte ihren Hals wie in leidenschaftlicher Angst. Sie streichelte und liebkoste ihn und konnte ihn nicht beruhigen.

»Was ist mit ihm?« fragte sie das Kindermädchen.

»Er hat sich so aufgeregt, weil er nicht aufbleiben durfte.«

»Warum habt Ihr ihn nicht aufbleiben lassen?«

»Der Herr wollte es nicht.«

Maria seufzte. Da war sie nun mit einem Male wieder mitten drin in all dem Lähmenden, Unerquicklichen, Niederdrückenden.

Sie setzte sich an Alfchens Bett, hielt seine heißen, zuckenden Händchen fest und versprach, da sitzen zu bleiben, bis er eingeschlafen sei. So beruhigte er sich allmählich. Aber noch lange schüttelte nachstoßendes Schluchzen seinen kleinen, schmalen Körper.

Arne schickte nach ihr. Alfchens Hände klammerten sich fester um ihre Finger. Sie ließ sagen, sie könne jetzt nicht kommen.

»Du darfst nie wieder fortreisen, Mutti,« sagte Alfchen mit beschwörender Stimme. »Nie wieder. Hörst du!«

Sie beugte sich über ihn in stillem Herzweh.

»Warum denn nicht, Alfchen?«

»Weil es schrecklich ist, wenn du fort bist. Ich habe solche Angst –«

»Sei still, mein Alfchen. Ich reise nicht mehr fort. Ich verspreche es dir.«

Endlich schlief er ein, abgemattet von Tränen.

Maria löste behutsam ihre Hände aus den seinen und schlich leise hinaus. Ihr Herz war schwer von Ahnungen.

Am andern Morgen war der kleine Alf blaß und müde. Aber er war glückselig über seine Mutter und ging ihr nicht von der Seite.

Arne machte spöttische Bemerkungen. Er spottete immer, wo andern das Herz schwoll von heiligen Empfindungen.

Maria beobachtete den kleinen Alf mit geschärften Augen. Er kam ihr verändert vor; er war magerer geworden, und seine sonnigen, strahlenden Augen trugen einen kaum wahrnehmbaren trüben Schleier. Er war nervös und schreckhaft, und sein lebhaftes Gemütsleben war gesteigert zu krankhafter Reizbarkeit. Jeder Ton, jede Berührung schien ihm Schmerz zu bereiten. Wenn eine Tür unsanft zuschlug, fuhr er zusammen und schrie auf.

»Was ist mit dem Kinde?« forschte Maria. »Ist es krank gewesen?«

»Nein; es ist ihm immer gut gegangen.«

»Dann ist irgend etwas anderes mit ihm geschehen.«

»Alfchen war oft ungezogen. Dann hat der Herr ihn geschlagen.«

Maria fragte nichts mehr. Sie hüllte das Kind ein in Liebe und Güte, als habe sie Unendliches wieder gutzumachen, fortzuküssen.

»Ich habe mich in deiner Abwesenheit der Erziehung des Jungen angenommen,« sagte Arne. »Es scheint die höchste Zeit zu sein, daß er streng angefaßt wird.«

»Wenn du so fortfährst, wirst du ihn verderben,« sagte Maria mit der gedämpften, beherrschten Stimme, die sie immer Arne gegenüber hatte.

»Natürlich – ich weiß ja, daß ich deiner Ansicht nach alles verkehrt mache,« sagte er kalt. »Er hat sich beklagt –«

»Er hat sich nicht beklagt.«

»Um so besser. Er ist sich also wohl bewußt, die angewandte Strenge verdient zu haben, und schämt sich. Da siehst du es.«

Maria reckte sich hoch auf in Schmerz und Empörung.

»Du bist sein Vater,« sagte sie, »und es steht nicht in meiner Macht, dir die väterliche Gewalt über ihn zu nehmen. Aber ich sage dir: er wird die körperlichen Schläge, mit denen du ihn erziehen willst, nicht so lange ertragen, wie ich die moralischen Schläge ertragen habe, mit denen du mich ›erzogen‹ hast.«

Arne sah sie geringschätzig an.

»Du bist in einer angenehmen Stimmung heimgekehrt,« sagte er, und kehrte ihr den Rücken zu.

Das war die Art, mit der er allen unangenehmen Unterhaltungen ein Ende machte.

Wie heiße Gier fraß an Marias Seele die Sehnsucht nach Antjes friedlichem Krankenzimmer, nach der Stille im Park von Thorenburg. – Aber wenn sie an dieser Sehnsucht hätte sterben müssen, sie hätte nicht einen Tag, nicht eine Stunde den Köbinghof und den kleinen Alf verlassen.

Sie stand zwischen ihm und seinem Vater wie ein Wacheengel; bereit zu schlichten, vorzubeugen, zu mildern; bereit, dazwischenzufahren und loszureißen, wenn es nötig sein würde.

Und sie konnte es doch nicht hindern.

Der kleine Alf war nebenan bei Arne. Er hatte das Kind hereingerufen, wahrscheinlich um wieder irgend eine unsinnige Probe auf seinen Gehorsam zu machen.

Wenn der kleine Alf in der Nähe seines Vaters war, verstummte das fröhliche Plaudern und Lachen, mit dem er alle seine kleinen Spiele zu begleiten pflegte. Dann war er scheu und trotzig, mit einem Ausdruck jammervoller Hilflosigkeit in dem süßen Gesichtchen.

Allein schon dieser Ausdruck, dieses Bloßliegen eines verängstigten Seelchens hätte das härteste Herz erweichen können. Aber Arne verstand sich nicht auf Seelenlesen. Er war ein Mann der Realitäten.

»Du vergißt schon wieder, guten Morgen zu sagen, Alf!«

Das Kind sagte guten Morgen. Man hörte der Stimme das innere Widerstreben an. Es reizte Arne.

Maria rang nebenan die Hände in wirren Bittgedanken zu Gott. –

»Was machst du wieder für ein bockiges Gesicht!« sagte Arne streng.

»Sieh mal freundlich aus!«

Es blieb still.

»Du sollst sofort ein freundliches Gesicht machen!« klang es drohend.

Der kleine Alf quälte sich ein herzzerreißendes Lächeln ab; es war eigentlich nur ein Grinsen. Es war ein Heldenstück von Selbstbeherrschung, denn in seiner kleinen Seele tobten Angst und Abscheu. –

»So,« sagte Arne befriedigt. »Nun sing mir mal den kleinen Vers vor, den du mir schon öfter vorgesungen hast: Kommt ein Vogel geflogen.«

Es blieb still. Marias Hände ballten sich. Sie zitterte vor Ungeduld.

»Nun – wird's bald?«

»Ich kann nicht,« sagte der kleine Alf trotzig.

»Wohl kannst du! Aber du bist wieder eigensinnig. Du weißt, was geschieht, wenn du eigensinnig bist. Also – wirst du nun singen?«

»Ich kann wirklich nicht,« sagte der kleine Alf in höchster Angst.

Man soll sich doch nicht einbilden, daß es nur erwachsenen Leuten unmöglich ist, zu singen, wenn ihnen das Herz zum bersten voll Angst, Widerwillen und Tränen ist. Erwachsene Leute bringen es manchmal trotzdem fertig. Aber Kinder können es nicht.

»Ich werde jetzt noch eine Minute warten; ob du endlich gehorchst,« sagte Arne; er zog die Uhr aus der Tasche und beobachtete den Zeiger mit steinerner Ruhe, mit unbarmherziger Entschlossenheit. –

Das Gesicht seines Kindes beobachtete er nicht. Dies Gesicht wurde fahl und farblos, in den Augen ein banges Entsetzen, um den halbgeöffneten Mund ein Zug hilfloser Qual. Der kleine Alf zitterte; er hätte so gerne gehorcht – aus Angst – um dem Schrecklichen zu entgehen, das nun kommen würde – aber er konnte nicht.

Die Minute verstrich. Alfchen sang nicht.

Maria hörte, wie Arne aufstand; sie hörte noch dies und das; sie fühlte eine Lähmung an ihren Füßen, die zur Türe drängten. –

– Da – gellendes Kindergeschrei – fallende Schläge.

Auf einmal stand Maria da, wie aus der Erde gewachsen. Sie drängte sich zwischen ihn und das Kind. Der letzte ausholende Schlag traf sie.

Sie riß ihm das Kind aus den Händen, wie man einen Vogel aus den Krallen der Katze befreit.

»Laß los – hör auf – ich erlaube das nicht – du bist grausam – du bist unmenschlich –« keuchte sie heiser.

Sie stand vor ihm, das Kind auf dem Arm, das sich fest an sie anklammerte, dessen Körper zuckte und flog vor Aufregung und Schmerz.

Arne wurde blaß vor Zorn.

»Stell das Kind hin,« herrschte er sie an.

Maria rührte sich nicht. Ihre Augen begegneten ihm mit finstrem Drohen.

»Wer hat hier zu befehlen – ich oder du!?«

»Ich!« sagte Maria mit einer Stimme, die ihn unwillkürlich stutzig machte. – Es entstand eine Pause.

Alfchens Arme, die sich um den Hals der Mutter krampften, wurden plötzlich schlaff und glitten leise herab. Sein Kopf fiel zurück. Seine Augen verdrehten sich. Seine Zähne preßten sich knirschend aufeinander.

Marias Gestalt wuchs empor zu furchtgebietender, hoheitsvoller Größe.

»Sieh das an,« sagte sie. »Und schäme dich.«

Dann ging sie hinaus, die arme, kleine Last auf bebenden Armen tragend.

Arne sah ihr nach. Es war plötzlich ganz still geworden in ihm: unheimlich still. Aber er schämte sich nicht. Er war trotzdem in seinem Recht. Sie hatte Schuld. Sie hatte das Kind so unverantwortlich verzärtelt. –

*

Der kleine Alf hatte eine Gehirnentzündung.

Ueber dem Köbinghof lastete mit schweren, schwarzen Flügeln ein unheilvolles Verhängnis, unter dem die Bewohner verschüchtert und lautlos dahinlebten.

Maria verließ das Krankenzimmer nicht. Niemand hatte Zutritt außer dem Mädchen, das ihr geräuschlose Handreichungen tat.

Nur Arne durfte kommen, so oft er wollte.

Er kam oft. Sein ruheloses Herein und Heraus war eine Störung für den kleinen Kranken, eine Qual für Maria. Sie litt beides.

Er sollte kommen; kommen und sehen. –

Maria erwähnte das Vorgefallene mit keiner Silbe. Sie sprach überhaupt nicht mehr. Ein furchtbares, eisiges Verstummen war über sie gekommen. Die kurzen Anordnungen, die sie geben mußte, kamen mit einer automatenhaften Stimme, als sei die Seele in ihr erloschen.

Und doch lebte diese Seele; lebte einzig der brennenden Qual, der schmerzenden Liebe, der tödlichen Angst angesichts dessen, der seine Hand ausstreckte, um ihr das Letzte zu nehmen. Das Einzige, das sie besaß.

Ich glaube, sie wird irrsinnig, dachte Arne, der dem allen hilflos und machtlos gegenüberstand. Ihre Augen hatten solchen toten Blick; ihr ganzes Sein so etwas totenhaft Erloschenes.

»Du mußt ein paar Stunden ruhen,« sagte er. »Du hältst das nicht aus. So von einer schweren Pflege in die andre –«

Sie sah ihn verächtlich an. Sie antwortete gar nicht. Er konnte nichts mit ihr anfangen. Das, was den Bann zwischen ihm und ihr hätte brechen können, das besaß er nicht; davon ahnte er nichts.

Er fürchtete sich vor ihr, vor ihrem totenhaften Stillesein.

Das Leben, das in ihr raste und jagte, das sah er nicht.

Nachts lag sie auf den Knien vor dem Bette ihres Kindes, den Kopf auf die gefalteten Hände gedrückt, starr, bewegungsunfähig. Die Seele hatte den Körper verlassen – die lag vor Gott und rüttelte an den Füßen seines Thrones, zerrte an den Falten seines Gewandes.

»Laß mir dies Eine, dies Letzte, o Gott! Laß es mir! Du hast es mir gegeben, damit ich stark und stille zu sein lerne. Ich wollte es lernen, ich hatte es zum Teil gelernt. Meine Seele war ein Dank gegen dich und mein Herz wie ein Gefäß deiner Gnade.«

»Warum willst du mir nun nehmen, was du mir gabst? Warum willst du nun Gift in die Wunden gießen, die der Heilung durch dich harrten?«

»Was willst du mir sagen, Gott? Rede, Herr, deine Magd hört! Aber rede deutlich, denn meine Seele ist betrübt bis in den Tod, meine Ohren sind taub von dem Jammer meines Kindes, und meine Augen sind trübe vom Weinen.«

»Was habe ich getan, daß du so hart mit mir bist? Womit habe ich dich erzürnt, daß du mich so strafst? Was soll ich lernen, daß du mir solche Aufgaben stellst?«

»Sollte ich nicht zu Antje gehen? Ich habe es nur aus Pflicht getan, nicht aus neugierigem, selbstsüchtigem Leichtsinn. Ich glaubte deine Stimme zu vernehmen, die mich rief. Ich habe mich an deine Hand geklammert, daß sie mich führe. Du hast mich bewahrt in der Stunde der Versuchung, du hast mein schwaches Tun gekrönt mit Segen. Du hast mich geführt.«

»Wolltest du mich an das Sterbebett meines Kindes führen?«

»Sollte ich zu Antje gehen, damit das geschehen könne, was all mein Streben und Wollen in Trümmer schlägt, und mich zur Aermsten und Elendsten macht unter den Menschenweibern?«

»Laß mir das Kind, Gott! Ich kann nichts denken, nichts verstehen. Meine Seele ist nur ein verzweifelter Schrei an dein Vaterherz: laß mir das Kind!«

»Laß diesen Kelch an mir vorübergehen, denn sein Inhalt ist Tod. Aber nicht mein – sondern dein Wille geschehe!« –

Drei Tage lang lag der kleine Alf in wildem Fieber. Sein Bewußtsein war getrübt. Sein gequälter Körper lebte in beständigster Schmerzempfindung, selbst bei der leisesten Berührung schonendster Liebe.

Arne Terhalden stand zu Füßen des Bettchens und sah zu. Seine Augen wanderten von dem ringenden Kinde zu der stummen, starren Mutter. Er wußte nicht, was sie fühlte; er ahnte es dunkel, ohne es zu verstehen.

Der kleine Alf war etwas ruhiger; er lag mit geschlossenen Lippen; ab und zu fuhr er mit den mager und kraftlos gewordenen Händchen nach der Stirn, und dabei stöhnte er so schmerzlich. –

Der kleine Alf schlug die Augen auf; es war ein mühsames Heben der Lider. In der grauen Iris stand die verengerte Pupille wie ein winziges schwarzes Stecknadelköpfchen. Sein Blick ging umher, in dem tastenden Suchen zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein. Sein Blick blieb an seinem Vater hängen.

Eine nur dem Mutterauge wahrnehmbare Unruhe ging durch den kleinen Körper, wie das Erzittern zarter Blumenpflanzen im Lufthauch.

Der kleine Alf öffnete die Lippen. Ein dünnes, schrilles Stimmchen schwebte durch den Raum, mit matter Lieblichkeit. Der kleine Alf sang:

»Kommt ein Vogel geflogen –«

Arne Terhalden zuckte zusammen. Scheu und unwillkürlich sah er sich nach Maria um. Die hatte das Gesicht zu ihm erhoben, und ihre Augen ruhten auf ihm mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck – groß, furchtlos, mit einer erschütternden Anklage.

Das singende Stimmchen wurde immer leiser, immer schwächer und verzitterte in einem unverständlichen Lallen.

Arne Terhalden schlich hinaus wie ein verurteilter Sünder. –

Das Fieber fiel: der Körper des Kindes wurde kühl und schlapp. Der kleine Alf lag stundenlang in stillem, beängstigendem Schlaf.

»Er schläft sich gesund,« sagte Arne.

»Er schläft sich den Tod,« dachte Maria. Sie hatte keine Hoffnung mehr.

Arne hatte einen berühmten Arzt herbeigerufen. Er war von einer rastlosen bohrenden Unruhe ergriffen; er wollte nichts versäumen, er wollte sich vor sich selber und vor Maria rechtfertigen.

Maria ließ ihn tun. Sie glaubte an keine Hilfe mehr. –

Arne trat mit dem Arzt an das Bett. Maria stand daneben. Der Arzt nahm eine Untersuchung vor, die das Kind quälte. Maria tat sich Gewalt an.

Ich muß das zulassen, sagte sie sich; Arnes wegen. Sie wußte ganz genau, was die Untersuchung ergeben würde.

Der Arzt zog sich mit Arne ins Nebenzimmer zurück zu einer Besprechung, an der sie kein Interesse mehr hatte.

Durch die Tür, aus der sie hinausgegangen waren, kam ein anderer geschritten; lautlos, mit heiliger Ruhe; der trug ein weißes Gewand, und in der Hand eine Palme und ein brennendes Licht. Der stellte sich schweigend zu Häupten des Bettchens auf, und auf seinem unirdischen Antlitz lag ein feierlicher Ernst und ein göttliches Mitleid. Der blieb da stehen und wartete.

Und mit ihm wartete das geängstigte Mutterherz.

Und der Engel des Todes neigte sich über das schlafende Kind und küßte seine Stirn. Da streckten sich seine Glieder in unsäglichem Ruhebedürfnis.

Das brennende Lichtlein zuckte auf, duckte sich und erlosch.

Der kleine Alf war tot.

*

Maria lag an der Leiche ihres Kindes, niedergeworfen, gebannt und erstarrt in ihrem gräßlichen Schmerz.

Sie konnte es nicht über sich gewinnen, Arne diese Nachricht zu bringen. Er fand das alles so vor, als er hereinkam.

An der Leiche des Kindes lag die Mutter, stand der Vater und sprachen nicht ein Wort, wechselten nicht den Händedruck stärkender Gemeinsamkeit. Sie konnte es nicht. Er wagte es nicht.

Arne Terhalden fürchtete sich vor Maria. Vor ihrer stummen Reglosigkeit, vor all den unbekannten Gedanken, die in ihr waren. Er hatte während all der Jahre ihrer Ehe keine innere Fühlung mit ihr gesucht, nicht einmal das Bedürfnis danach gehabt. Wie sollte er sie jetzt mit einem Male finden? Das ganze vergangene Leben stand zwischen ihnen. Die Kluft, die sie voneinander getrennt hatte, tat sich auf zu unüberbrückbarer Tiefe.

Die Brücke, die hätte hinüberführen können, war zusammengestürzt mit dem Leben dieses Kindes.

»Komm doch fort, Maria –« sagte er in unbeholfner, trockner Weise.

Sie rührte sich nicht.

Die Furcht vor dem Unbekannten in der Seele seines Weibes machte es ihm unmöglich, ein liebevolles Wort zu sprechen, obgleich er das jetzt vielleicht gekonnt hätte; machte es ihm unmöglich, sich zu entlasten von dem furchtbaren Vorwurf, den ihre Augen, ihr Verstummen gegen ihn erhoben hatten in diesen Tagen; machten es ihm unmöglich, das Wort zu sprechen, das ihm hätte retten können, was ihm in diesen furchtbaren Stunden unwiederbringlich verloren ging: das Herz seines Weibes.

Die Pflicht des Tages, die Anforderungen der Stunde, denen gegenüber Maria noch nie versagt hatte, erweckten sie aus ihrer Starrheit zu einem schemenhaften Leben.

Sie besorgte alles, sie dachte an alles, sie bestimmte alles, was für das Begräbnis des kleinen Alf nötig war. Wo Arnes Wünsche sich mit den ihren kreuzten, gab sie fraglos nach. Es war ja alles so gleichgültig. –

Arne äußerte fortan überhaupt keine Wünsche mehr, aus Angst vor dieser vernichtenden Nachgiebigkeit.

Maren kam, um ihre Teilnahme zu äußern, ihre Hilfe anzubieten. Sie fand Arne schweigsam und verschlossen, Maria stumm und unzugänglich. Es war alles besorgt und ihre Hilfe nicht nötig.

»Es ist schrecklich auf dem Köbinghof,« sagte sie, als sie wieder in ihrem behaglichen, glücklichen Heim, bei ihrem behaglichen, glücklichen Jörg war. »Ich glaube, sie haben sich noch am Sterbebette des Kindes gezankt. Ich verstehe nicht, wie Eheleute in solchen Augenblicken sich so aneinander vorbei schweigen können. Da muß irgend etwas Unerhörtes vorgefallen sein.« –

Sie lernte es nie verstehen. Sie erfuhr nie, was dieses Unerhörte war.

Auch Hille und Axel kamen am Morgen des Begräbnisses aus ihrer entfernten Garnison.

»Ich hatte mir vorgenommen, nie wieder zu kommen,« sagte Hille, als sie den Bruder begrüßte. »Aber nun wollen wir uns wieder vertragen.«

Tränen eines schnellen, ehrlichen Mitgefühls stiegen ihr in die Kehle. Arne sah so heruntergekommen aus. –

Sie gaben sich die Hand. Er schien gar nicht zu verstehen, was sie meinte. Als Axel zu ihm sprach, schien es ihm wieder einzufallen. Und obgleich ihm das alles jetzt gleichgültig war, ging ein verhärtender Zug über sein Gesicht.

An dem Sarge, in dem der kleine Alf zwischen lauter Christrosen aufgebahrt lag, umarmte Hille Maria mit überquellender Zärtlichkeit. Maria erwiderte die Umarmung nicht; ihr Körper blieb schlaff und anteillos.

»Liebe Maria,« sagte Axel, und preßte ihre kühlen Hände mit impulsiver Innigkeit. »Du hast uns so schön geholfen in unserer Not – wenn wir dir doch nun auch ein wenig helfen könnten in der deinen!«

Da kamen zum erstenmal Tränen in Marias dunkel umränderte Augen.

Hille weinte bitterlich neben der kleinen Leiche. Ihr Empfinden war kurzlebig und entbehrte der befruchtenden Tiefe; aber es war heftig und ehrlich. – Maria stand starr und still daneben.

Hille fragte. Sie wußte ja von nichts. Ganz unvorbereitet hatte die Nachricht sie getroffen. Maria antwortete einsilbig, mechanisch.

»Ich kann nicht darüber sprechen –« sagte sie endlich in hartem Weh.

Hille nahm sich Arne vor.

»Du mußt gut und liebevoll zu ihr sein. Sie ist ja ganz versteinert. Solch Zustand ist nur durch Liebe zu bannen –«

»Sie will es nicht,« sagte Arne trocken. »Man muß ihr Zeit lassen.«

Hille wunderte sich eben so sehr, wie Maren sich gewundert hatte.

»Ach, Axel, das ist schrecklich,« seufzte sie und schmiegte sich an ihn an. »Wenn wir so etwas erlebten – wir würden anders miteinander sein, so oft wir uns sonst auch zanken. In solchen Stunden muß doch alles Nebensächliche zurücktreten –«

»Ja, wenn es das Nebensächliche ist,« sagte Axel und sah bekümmert drein.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, daß die beiden sehr unglücklich miteinander sind – schon lange. Sie sind immer weit voneinander gewesen; so weit, daß auch dies sie nicht mehr zusammenbringen kann.«

Hille starrte ihn fassungslos an.

»Wie kommst du darauf? Hat Maria dir etwas gesagt?«

»Maria würde nie und zu niemanden darüber sprechen.«

»Aber woher weißt du es denn?«

»Maria kann nicht glücklich sein mit Arne. Sie sind Gegensätze, denen jede Ergänzungsmöglichkeit fehlt.«

Hille dachte nach. Es schien ihr einzuleuchten.

»Dann begreife ich nicht, daß sie es aushält –« sann sie vor sich hin.

»Weil sie eben Maria ist,« sagte Axel.

Hille sah auf. Ihr Temperament verleugnete sich nie.

»Du – ich werde nächstens eifersüchtig auf unsere Schwägerin –«

»Das brauchst du nicht,« sagte er und verschloß ihren Mund mit einem Kuß. Sie war beruhigt.

Antje konnte nicht kommen. Den Brief, den sie schrieb, und der am Morgen des Begräbnistages ankam, legte Maria ungelesen beiseite. Sie wußte, daß er Worte enthalten würde, die ihre Fassung umstürzen konnten.

Es war ein grauer, schneeschwerer Wintertag, als sie den kleinen Alf zu Grabe trugen, nach dem Kirchhof, wo sie ihm unter der alten Ulme, zu Füßen des Großvaters, ein kleines schmales Grab geschaufelt hatten. Schnee deckte die Erde und die Bäume und die alten und neuen Totenhügel, verbarg die Sonne und verdeckte die Ferne. Die Luft war kalt, windstill und von Feuchtigkeit getränkt; eine schwere, bleierne Luft, die den Atem beengte.

Maria ging neben Arne hinter dem Sarge her. Er hatte ihr den Arm geboten; sie hatte getan, als sähe sie es nicht. Sie konnte nicht Arm im Arm mit ihm hinter dem Kinde hergehen.

Sie stand an der offenen Gruft; sie sah ihr Liebstes hinabsinken in die Tiefe, aus der niemand wiederkehrt; sie hörte das Singen und Beten, das Läuten der Glocken weit hinten im Dorf; sie hörte die harten Schollen auf den Sarg dröhnen; jeder Ton traf ihr zerrissenes, zerschlagenes Herz. Sie stand starr und blaß, ohne Tränen, ohne Seufzer. Sie stand so, als ginge sie das gar nichts an, oder als sei sie mit lebendigem Leibe daran gestorben. –

Die Feier war zu Ende. Die Mitdabeigewesenen legten ihre Kränze auf den kleinen Hügel, verrichteten ein stilles Gebet und wandten sich zum Gehen.

Maria rührte sich nicht.

»Komm,« sagte Arne und bot ihr abermals den Arm.

Sie schüttelte den Kopf. In trotziger Hilflosigkeit ließ er sie stehen.

»Komm doch, Maria!« flehte Hille und umschlang sie, wie um sie mitzuziehen. Maria wehrte sie ab.

»Tut mir die Liebe und laßt mich allein!« rief sie laut, wie in Angst.

Da gingen sie und ließen sie allein.

Allein in der weiten, winterlichen Oede; allein mit all den Toten; allein mit ihrem zertrümmerten Lebenswillen.

Und als sie sich überzeugt hatte, daß sie wirklich allein war, als kein Schall gedämpfter Stimmen, kein Ton sich entfernender Tritte mehr an ihr Ohr drang, nur noch das hallende Glockenläuten wie die Stimme der Einsamkeit über einem wüsten Gefilde – da tat sie einen schwankenden Schritt vorwärts und fiel über den kleinen Hügel und umklammerte mit den Armen, die kalte, harte, unbarmherzige Erde.

»Mein Kind, mein süßes, kleines, geliebtes Kind!« stöhnte sie.


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