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XVIII.

Am Tage nach Arne Terhaldens Begräbnis fuhr Jörg Venningen schon wieder nach dem Köbinghof.

Eine seltsame Unruhe trieb ihn. Es war ihm, als sei er nötig, als müsse er helfen. Auch wenn nicht Sorgen und Bedenken besonderer Art ihn getrieben hätten, wäre es ihm als eine Notwendigkeit erschienen, sich um Maria zu kümmern, sie nicht in diesen ersten Tagen allein zu lassen.

Niemand war bei ihr geblieben. Hille hatte sich dazu angeboten, aber Maria hatte es freundlich abgelehnt.

»Komm lieber später zu mir. Jetzt bin ich nicht imstande, Menschen um mich zu haben, auch die nächsten und liebsten nicht. Ich muß erst einmal mit mir allein sein. Es würde mich nur bedrücken, dich in dieser traurigen Umgebung zu wissen.«

Hille war ganz froh über diese Ablehnung. Sie wäre beileibe nicht gerne geblieben, fühlte sich der Situation nicht gewachsen; Marias seltsam stilles Wesen war ihr unheimlich. Sie hatte es nur schicklich gefunden, sich anzubieten; dachte, daß man es von ihr erwarten würde. Schließlich waren ja auch Jörg und Maren in der Nähe, und gewiß jeden Augenblick für Maria zu haben.

Maria empfing Jörg in Arnes Arbeitszimmer. Sie sah abgewacht und müde aus; ihre Augen hatten einen unsichren Blick, der ihn befremdete, weil er ihm so neu war.

»Gut, daß du kommst, Jörg. Ich hätte dir sonst morgen einen Boten geschickt. Ich wollte dich bitten, die Wirtschaftsbücher einmal gründlich durchzusehen. Ich finde mich nicht zurecht darin. Arne hat mich so wenig eingeweiht.«

»Ist denn das so eilig?« fragte er. Es berührte ihn nicht angenehm, sie anscheinend vollständig in diesen Dingen beschäftigt zu sehen, jetzt schon.

»Ja, ich glaube, daß es sehr eilig ist –«

Wenn Jörg sich einer Arbeit annahm, so tat er es gründlich.

Mehrere Stunden vergingen, und er saß immer noch vor Arnes Schreibtisch, den Maria ihm aufgeschlossen und auf dem sie ihm einen Stoß Bücher und Papiere zusammengetragen hatte. Sie selbst war hinausgegangen und hatte ihn allein gelassen.

Nun erwartete sie ihn in ihrem Zimmer mit dem Teetisch, den sie für sich und ihn hier hatte zurechtmachen lassen. Was sie mit ihm oder er mit ihr zu reden haben würde, duldete keine Zuhörer. Es war alles so still um sie her, und sie selbst saß so still in ihrer Umgebung, wie ein Mensch, der wartet, und dem es gar nicht darauf ankommt, wie lange er noch wird warten müssen.

Endlich kam Jörg. Er sah ein wenig erschöpft aus, wie nach anstrengender Kopfarbeit. Er ließ einen Augenblick die Augen auf der still dasitzenden Frau ruhen, mit einem Ausdruck, als ob er sagen wollte: warum hat man dir das angetan – dann trat er ans Fenster, versenkte die Hände in die Hosentaschen und sah angelegentlich hinaus in den üppig wuchernden Garten.

»Es scheint ja, als sollten wir nun endlich ander Wetter haben,« sagte er. Maria war aufgestanden, machte sich am Teetisch zu schaffen und dachte gar nicht daran, ihn zu fragen nach dem, was er für sie herausgearbeitet hatte. Er würde es ja schon von selber sagen.

»Uns wird es nicht mehr viel nutzen,« beantwortete sie seine Bemerkung. »Die Ernte ist doch verdorben.«

Er pfiff vor sich hin, sichtlich erregt von allerhand Gedanken. Plötzlich drehte er sich um und wandte sich ihr zu.

»Sage mal, Maria, wie denkst du dir das nun eigentlich? Mit deiner Zukunft, mit dem Köbinghof –«

Sie sah ihn verwundert an.

»Darüber brauche ich doch nicht viel zu denken. Ich muß ihn doch selbstverständlich weiter bewirtschaften, für die Kinder.«

»Wirst du das so ohne weiteres können?«

»Ich werde es lernen. Ich wollte dich ja gerade bitten, mir dabei ein wenig behilflich zu sein. Bitte, komm, setz dich doch,« bat sie, und stellte ihm eine Tasse Tee auf den Tisch. Er ließ sich in einen Sessel fallen und begann krampfhaft in der Tasse zu rühren. Immerfort peinigte es ihn: wie soll ich es ihr nur beibringen – es ist ja viel zu viel für sie. –

So saßen sie und schwiegen einander etwas vor, und eine dumpfe Schwüle lastete zwischen ihnen. Wenn sie ihn doch wenigstens fragen möchte – dann würde es leichter sein. Dann wäre doch ein Anfang gemacht.

Nachdem er minutenlang vergeblich auf eine Frage gewartet hatte, gab er sich einen Stoß. Einmal mußte es ja doch sein.

»Sage mal, Maria,« fing er wieder an, »hat Arne eigentlich nie – auch in der letzten Zeit nicht – Geschäftliches mit dir besprochen?«

»Nein. Nie.« Sie sah nicht auf dabei. Sie sah überhaupt so ruhig aus – entweder sie war ahnungslos, was unwahrscheinlich war, oder sie wußte bereits alles; und dann brauchte er nicht so vorsichtig vorzugehen.

Trotzdem suchte er immer noch Umwege.

»Warum hast du ihn denn niemals gefragt? Als seine Frau hattest du doch ein Recht dazu!«

»Ich habe ihn oft gefragt. Früher – und auch zuletzt. Er hat meine Fragen nie beantwortet.«

Jörg wußte nicht weiter. Sie sah ihn an, mit einem freundlichen, ermutigenden Blick.

»Komm doch endlich heraus mit der Sprache, Jörg,« sagte sie ruhig.

Er würgte an dem Bissen Brot, den er im Munde hatte; an den Worten, die nun gesprochen werden mußten.

»Arne ist gerade zur rechten Zeit gestorben, um sich den Folgen seiner unbegreiflichen, unverantwortlichen Wirtschaft zu entziehen. Diese Folgen kommen nun über dich. Ich glaube nicht, daß du oder irgend ein anderer hier weiterwirtschaften kann. Meiner Ansicht nach, und so weit ich das bis jetzt beurteilen kann, ist der Köbinghof für dich nicht zu halten.«

So, nun war es heraus. Und nun wagte er nicht, sie anzusehen.

Endlich tat er es doch, weil ihr Schweigen ihn beunruhigte.

Sie hatte sich in ihren Stuhl zurückgelehnt. Ihre Hände krampften sich um die Armlehnen; man sah die feinen Linien der Knochen bis zu den Gelenken herauf. Ihr Gesicht war still und fast hart. Ihre Augen starrten auf die Fensterscheiben, gegen die der Schein der Abendsonne blendende Lichter warf.

»Bitte, erkläre es mir. Ich bin so unerfahren in diesen Dingen. Du brauchst dich nicht zu scheuen, irgend etwas auszusprechen.«

Jörg Venningen setzte ihr auseinander, daß der Köbinghof annähernd zum vollen Wert verschuldet sei. Arne hatte, anscheinend um die Zinsen zu zahlen, was immer pünktlich geschehen war, jährlich Kapital zugesetzt. Es gab eine Unmenge ausstehender Rechnungen.

»Es kommt darauf an,« schloß er, »ob sich die Bewirtschaftung einträglicher einrichten läßt ohne kostspielige Aenderungen, ohne geld- und zeitraubende Rückwärtsgestaltungen.«

»Rückwärtsgestaltungen,« fragte Maria dazwischen.

»Ja,« sagte Jörg. »Aus der Musterwirtschaft, die Arne anstrebte ohne Rücksicht auf Bodenverhältnisse und lokale Zustände, muß wieder eine einfache, solide, den Verhältnissen entsprechende Landwirtschaft gemacht werden. Ich kann heut noch nicht übersehen, ob und wie das möglich ist. Ich müßte eine Zeitlang vollen Einblick in alle Einzelheiten der Wirtschaftsführung haben –«

»Ich gewähre ihn dir. Ich bitte dich, verschaffe dir ein Urteil über das alles, wie und wodurch du willst. Ich vertraue dir. Ich werde dir sehr dankbar sein, wenn du dir die Zeit nehmen, die Mühe machen willst. Nur Entscheidungen irgend welcher Art möchte ich mir vorbehalten.«

Das letztere fand Jörg Venningen selbstverständlich.

Maria tat ihm so unbeschreiblich leid. Er fühlte einen ohnmächtigen Groll gegen Arne, der dies alles verschuldet hatte; nicht weil er es verschuldet hatte – dafür konnte er vielleicht nichts; er hatte das nicht gewollt, hatte sich in Irrtümer verrannt, die er nicht wieder rechtzeitig gutzumachen gewußt hatte; war auch zu eigensinnig gewesen, um vor sich oder andern einen Irrtum einzugestehen; das lag in seiner Natur begründet. Nein, nicht wegen dessen, was er verschuldet hatte, zürnte ihm Jörg; sondern weil er seine Frau nicht eingeweiht hatte in seine Sorgen, nicht vorbereitet hatte auf das, was kommen mußte, kommen konnte. Daß er sich nicht lange würde halten können, mußte er gewußt haben, es war sogar ganz unmöglich, daß er es nicht gewußt hatte. Er war viel zu wenig Idealist, viel zu sehr ein Mann der Realitäten, um sich darüber einem Zweifel hingeben zu können. Daß er Maria so unvorbereitet, wehr- und schutzlos diesem Bankerott seines Lebens und Schaffens gegenüberstellte, das war seine Schuld, seine unbegreifliche, unverzeihliche Schuld an ihr.

Seine Bewunderung für Maria stieg. Es kam kein Wort des Vorwurfs, der Klage oder der Bitterkeit über ihre Lippen. Nicht einmal in dem Ausdruck ihres Gesichtes lag irgend etwas derartiges.

»Armer Arne!« sagte sie nur. »Was muß er gelitten haben! Warum hat er mich nicht mit leiden lassen!«

Jörg fand diesen Edelmut übertrieben.

»Ich weiß nicht, ob du dir darüber klar bist, daß du jetzt die einzige bist, die zu leiden haben wird,« fühlte er sich gedrungen zu sagen.

»O ja, ich bin mir vollkommen klar darüber. Das ist ja die natürliche Folge,« sagte sie. – –

Jörg Venningen kam jetzt täglich auf den Köbinghof. Maria ließ ihn schalten und walten wie er wollte. Sie erteilte ihm jede gewünschte Auskunft, soweit sie das vermochte, gewährte ihm jeden nötigen Einblick. Sie quälte ihn nicht mit Fragen, drängte ihn nicht ungeduldig zu endgültigen Aeußerungen. Sie ließ ihm Zeit, sie wartete ab. Oft, wenn sie zusammen waren, sprachen sie kaum von diesen Dingen. Manchmal beschränkte er sich auf Hof und Felder und kam gar nicht ins Haus. Es war ihm qualvoll, ihr gegenüber zu sitzen mit den Befürchtungen, die sich ihm mehr und mehr zur Gewißheit erhärteten.

Endlich, als er sich ein umfassendes Urteil gebildet hatte, teilte er es ihr mit.

»Vor allem ist ein neuer Beamter nötig; kein teurer Inspektor, sondern ein einfacher, tüchtiger Aufseher. Die Aufsicht über ihn würde ich gern übernehmen. Sodann müssen die teuren, untauglichen Wanderarbeiter abgeschafft, eingeborne Familien angeworben werden. Das vorhandene Vieh muß verkauft und derbes Landvieh angeschafft werden. Die Fruchtfolge muß geändert werden. Das alles kostet Geld, und es wird viel Zeit vergehen, bis es wieder einkommt. Geld aber ist nicht vorhanden, und Zeit haben wir nicht.«

»Also verkaufen,« sagte Maria.

»Wenn der Hof heute verkauft wird, so rettest du nur das nackte Leben für dich und die Kinder.«

»Und wenn er nicht verkauft wird –?«

»Dann werden die Gläubiger kommen. Du wirst sie nicht befriedigen können. Es müßte sich denn jemand finden, der mit seinem Kredit für dich einträte.«

Maria grübelte vor sich hin, mit tiefem, nachdenklichem Ernst in dem blassen, kummervollen Gesicht.

»Ich habe keinen solchen,« sagte sie. »Und ich könnte das ja auch gar nicht annehmen. Es ist alles zu unsicher, zu unabsehbar. Ich würde einen solchen nur schädigen und zeitlebens in seiner Schuld bleiben.«

Er konnte ihr nicht verschweigen, daß er ihr zustimmen mußte. Er fand ihr Empfinden, ihr klares Rechtsgefühl ehrenhaft und ungewöhnlich mutig und tapfer für eine Frau.

»Ich will es mir acht Tage überlegen,« sagte Maria. »Dann will ich kommen und dir mitteilen, was ich beschlossen habe. Wenn du nur so gut sein willst, die Wirtschaft zu überwachen, daß keine groben Versehen gemacht werden.«

Er versprach es ihr gern. Er verließ sie mit schwerem Herzen, mit großen, bewundernden Gefühlen. Es war ihm nicht möglich gewesen, ihr ein Wort des Mitleids zu sagen. Mitleid brauchen nur die Schwachen. Sie aber war eine Starke; eine ganz Starke. –

Acht Tage lang überlegte Maria; mit ihren Pflichten, ihren Wünschen, ihrem Gewissen; acht Tage hindurch rechnete sie mit allen vorhandenen Möglichkeiten.

Ihr Herz hing nicht am Köbinghof; es war nicht durch das Leben an ihn gefesselt, in seinem Besitz verankert worden. Sie stand all den Anforderungen, die eine selbständige Bewirtschaftung unter diesen unhaltbaren Verhältnissen an sie stellen würde, fremd gegenüber. Sie fühlte sich obenein augenblicklich viel zu müde und elend zur Uebernahme und Durchführung schwerer, ihr von außen aufgedrungener Pflichten. Sie scheute sich nicht davor, nackt und bloß von Haus und Hof zu gehen; sie fürchtete die Armut des Leibes nicht; sie hatte schlimmere Armut kennen und ertragen gelernt. Besser arm in Ehren und Aufrichtigkeit, als ein Besitz, der nur ein unwahrer, trügerischer sein konnte.

Wenn mit Gewißheit anzunehmen wäre, daß die Zeit helfen, bessern, retten könnte, daß sie ihren Kindern würde erkämpfen können, was jetzt verloren schien und in gewagtem Spiele stand – dann wäre es trotzdem ihre Pflicht gewesen, auszuharren, und sie hätte sich dieser Pflicht unweigerlich unterzogen. Aber diese Gewißheit konnte ihr niemand geben. Und Zeit hatte sie nicht, hatte Jörg gesagt. –

Es müßte sich denn irgend eine große, durchschlagende Hilfe finden.

Dem widerstrebenden Gefühle entgegen drängten ihre Gedanken wie durch Naturgewalt, wie unter einer Erleuchtung, oder einem innern Zwange vorwärts zu einem bestimmten Ziele.

»Ich habe keinen solchen,« hatte sie gesagt. »Ich habe niemanden, der mit seinem Kredit für mich eintreten, mir Zeit und Geld verschaffen könnte.«

Jetzt vor sich allein lautete die Antwort anders:

»Ich könnte dennoch einen solchen haben. Aber ich will diesen Einen nicht haben.«

Rütjer Thoren. – –

Rütjer Thoren konnte ihr helfen, denn er war reich und unabhängig.

Rütjer Thoren würde ihr helfen, denn er liebte sie.

Aber gerade weil sie das wußte, daß er ihr aus Liebe helfen würde, gerade darum durfte, konnte und wollte sie diese Hilfe nicht in Anspruch nehmen. Ihr Gefühl, ihr Stolz, ihr Gewissen, ihre Weiblichkeit bäumten sich auf dagegen.

Wenn sie ihn um Hilfe bitten würde, mußte sie in persönliche Beziehungen zu ihm treten. Sie wußte nach den Tagen an Antjes Krankenbett, was diese Beziehungen in ihr aufrühren, wohin sie führen würden. Es war undenkbar, unmöglich, das heraufzubeschwören, jetzt, acht Tage nach Arnes Tode.

Und wenn solche Hilfe nun wirklich Rettung bedeuten würde, war es dann nicht doch Pflicht, sie zu ergreifen? Pflicht gegen den Köbinghof, gegen Arne, gegen ihre Kinder? Pflicht zum Trotz ihrem Gefühl, ihrem Stolz, ihrem Gewissen, ihrer Weiblichkeit?

Ihrem Gewissen? War es denkbar, daß das Gewissen auf dieselbe Frage zweierlei Antwort gibt? Oder daß man zwei verschiedene Gewissen hat, ein persönliches und ein sachliches?

Wenn man vor zwei Möglichkeiten zur Entscheidung gedrängt wird, sagt eine alte Wahrheit, und wenn man anders keinen Ausweg aus dem Konflikt findet, in den die Notwendigkeit der Entscheidung stürzt, so soll man das wählen, was einem das Unangenehmste ist, und es wird das Richtige sein. Aber Maria wußte nicht einmal, was ihr das Unangenehmste, das Schwerste war: Rütjer Thorens Hilfe zu erbitten, oder ohne Hilfe zu Grunde zu gehen.

Acht Tage lang quälte sich Maria ab bis auf den Untergrund ihrer Seele, legte sie alle empfindlichsten Fibern ihres Herzens bloß in grausamer Selbstaufrichtigkeit. Acht Tage lang betete sie um Erleuchtung von oben für ihren dunkeln, einsamen Weg. Und endlich mußte sie die Entscheidung doch sich selber abringen, in Unkenntnis des Schicksals, dem sie entging, und des andern, das sie heraufbeschwor.

Alle unsre Entscheidungen sind nur ein Tappen im Dunkeln, so laut die innere Stimme sie fordert, so scharf wir sie mit dem Licht kurzsichtigen Menschenwissens beleuchten. Es kommt schließlich nur darauf an, daß man den Mut hat, einen Entschluß zu fassen, und ihn dann auch auszuführen, ohne Skrupeln, ohne Bereuen, ruhend in der Reinheit der Beweggründe, denen er entsprang.

Wer die Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zur Arbeit des Lebens – zum Reiche Gottes. –

Am achten Tage ließ Maria anspannen und fuhr zu Venningens. Jörg war an diesem Tage nicht gekommen. Sie aber wollte den Tag nicht zur Rüste gehen lassen, ohne auszuführen, was sie entschieden hatte.

Jörg und Maren empfingen sie mit einer ängstlichen Spannung, die sich nur schlecht hinter warmer Herzlichkeit verbarg. Sie wußten, weshalb Maria kam, und wußten es doch nicht.

Sobald sie allein und die ersten rein äußerlichen Fragen nach Ergehen und Wirtschaft erledigt waren, sagte Maria:

»Ich habe mich dafür entschieden, den Köbinghof zu verkaufen.«

Ein schweres Schweigen folgte. Maria saß so still da, als habe sie etwas sehr Einfaches, Selbstverständliches gesagt. Den beiden andern war es etwas Ungeheuerliches.

»Gott sei Dank,« dachte Jörg, »es ist das einzig Richtige. Aber ruiniert ist sie so oder so.«

»Heimat!« dachte Maren. »Meine Heimat geht in fremde Hände, unter dem Zeichen der Schande.« Und ein schneidender Schmerz ging körperlich fühlbar durch ihren ganzen Menschen.

Maria wußte das alles, verstand das alles. Aber es war nicht ihre Schuld. Niemand konnte verlangen, niemandem konnte sie dadurch nützen, daß sie sich auf dem Köbinghof aussichtslos zu Tode quälte.

»Ich wollte euch nun bitten, zu erwägen, ob ihr Geschwister nicht imstande seid, den Hof zu übernehmen. Nicht weil ich dabei irgend einen Vorteil für mich erhoffte, Ihr sollt ihn kaufen wie Fremde – von einer Fremden; ohne Rücksicht auf mich und auf das, was dann aus mir wird, das ist meine Sache ganz allein.«

»Und Arne hat es zu verantworten,« platzte Jörg heraus in nicht mehr zu dämmender Erregung.

»Arne ist der Verantwortung enthoben,« sagte Maria.

Jörg verbiß seinen Unmut über diese unbegreifliche Stellungnahme. Sie tat ja gerade, als ob Arne ein Märtyrer gewesen wäre.

Maren empfand eben diese Stellungnahme wohltuend. Arne war ihr Bruder. Das gemeinsame Blut erhob seine Stimme.

»Ich weiß nicht, wie groß eure Liebe für die Heimat ist,« hub Maria wieder an. Sie schien die einzige von ihnen, die einer geordneten Rede fähig war. »Ich weiß nicht, wie weit sie euch befähigt, Opfer dafür zu bringen. Denn solche wird es im Gefolge haben, wenn ihr sie nehmt. Marens Geld steht ja ohnehin noch eingetragen; an erster, also sicherer Stelle. Ob Hille das Ihre wieder hineingeben kann, weiß ich nicht. Und Antje ist weit fort – das dürfte große Schwierigkeiten machen. Aber ehe ich den Köbinghof öffentlich zum Verkauf anbiete, wollte ich ihn euch anbieten. Das ist meine Pflicht, ist mir ein Bedürfnis. Daß es mir meinen Entschluß sehr erleichtern würde, wenn ihr in meine Rechte treten wolltet, brauche ich wohl kaum zu versichern.«

Wie klar, sachlich und ruhig sie sprach! Jörg und Maren fanden noch immer kein passendes Wort, so oft sie diesen Fall und all seine Möglichkeiten schon bedacht und besprochen hatten.

»Ich würde euch dann bitten,« fuhr Maria fort, immer mit derselben stillen, ein wenig verschleierten Stimme, »mit den Geschwistern die Verhandlungen zu führen. Es würde mir eine Erleichterung bedeuten, die ihr gewiß begreifen und gern gewähren werdet.«

Jetzt endlich raffte Jörg sich auf, mit einem Seufzer, mit dem er einen beängstigenden Albdruck abzuschütteln schien.

»Ich kann nichts weiter sagen oder tun für den Augenblick, als dir die Hand küssen,« sprach er. Und er tat es.

Maren hockte etwas trübselig auf ihrem Stuhl. Ihr war das alles zu schwer, zu traurig; sie dachte einstweilen weniger an Maria, als an sich selbst und ihre eignen Empfindungen.

Der Köbinghof, auf dem seit Hunderten von Jahren ihre Väter gesessen, der ihnen allen Heimat war in mehr als landläufigem Sinne, wo sie ihre glückliche Kindheit verlebt hatte, wo die Wurzeln ihres Daseins hafteten – der Köbinghof mit seinen Traditionen und Erinnerungen, mit seinen Gräbern – ihren Gräbern – der sollte in fremde Hände gehen, weil ein Terhalden ihn verwirtschaftet hatte – das war mehr als Kummer und Trennungsweh, mehr als ein Brechen mit einer stolzen, ehrenfesten Vergangenheit, das war Schande; Schande, die ein Terhalden über die Familie gebracht hatte.

Das war schlechterdings unmöglich. Sie konnten ihn nicht aus der Hand geben. Sie mußten ihn behalten, jedes Opfer dafür bringen.

Sie sagte das endlich.

Jörg war derselben Meinung. Aber nach objektiver Mannesart dachte er weniger an die Wünsche, als an die Möglichkeiten. Er sah all die Schwierigkeiten voraus, die das mit sich bringen mußte, für jetzt und später.

Er sprach sich klar und sachlich darüber aus.

»Vorausgesetzt, daß Hille und Antje wollen – daß wir alle es können – ein gemeinsamer Besitz bringt je länger je mehr Unzuträglichkeiten. Es käme darauf hinaus, daß wir dahin strebten, den Besitz sobald als möglich – vielleicht in der nächsten Generation – wieder in eine Hand zu legen. Und auch wenn das alles glückte – es wäre nur eine halbe Befriedigung, eine illusorische Genugtuung. Der Besitzer würde dennoch nicht Terhalden heißen.«

»Das ist so wie so ausgeschlossen,« sagte Maria mit einem tiefen Schmerzenszug um die zuckenden Lippen. »Ich habe keinen Sohn, dem ich das Erbe seines Vaters in die Hände legen könnte.«

Jörg und Maren schwiegen bedrückt.

»Und es muß dennoch versucht werden, ihn zu behalten,« sagte Maren endlich mit eigensinniger Bestimmtheit. –

Sie versuchten es.

Eile tat not. Die Gläubiger kamen und forderten ihre Rechte, zum wenigsten eine genügende Sicherstellung ihrer Forderungen. Jörg vertröstete sie. Ein Verkauf sei in Aussicht genommen – dann würden sie alle befriedigt werden. Da er als ein sicherer und zuverlässiger Geschäftsmann galt, ließen sie sich vertrösten.

Hille schrieb außer sich über all diese Zustände. Sie verurteilte Arne schonungslos; es gab in ihren Augen keine Entschuldigung für das, was er heraufbeschworen hatte. Nachdem sie sich seitenlang darüber entrüstet und darüber lamentiert hatte, erklärte sie es rundweg für unmöglich, sich an einer Uebernahme des Gutes zu beteiligen.

»Wir sind ja leidlich wohlhabend, aber wir haben fünf Kinder. Wir sind nicht so gestellt, daß wir einen so großen Teil unsers Vermögens – mein ganzes Vermögen überhaupt – unsicher anlegen können. Ich kann da nicht nur Gefühle walten und bestimmen lassen. Meine Kinder stehen mir näher, als das Ansehen der Familie, ich kann ihre Zukunft nicht gefährden, um dies Ansehen – vielleicht! – zu retten. Ich trage keine Schuld an dem, was ist. Ich fühle mich nicht verpflichtet, Opfer solcher Art zu bringen, dafür aufzukommen, daß Arnes unverantwortliche Fehler wieder gut gemacht werden können. Ihr werdet mich natürlich nicht verstehen und mich verurteilen. Aber ich kann nicht anders.« – –

»Hilles Ablehnung macht die Sache sehr schwierig – fast bedenklich,« sagte Jörg. »Nun kommt es auf Antje an.«

Antjes Antwort konnte nicht so schnell kommen. Es dauerte vier bis fünf Wochen, bis ein Brief sie erreichen konnte. Wenn sie nicht telegraphisch antwortete, so würden zweifellos zwei Monate vergehen, ehe man ihrer Entscheidung gewiß war. Zwei bis drei Monate. Die Zeit drängte, und die Nerven litten unter der marternden Ungewißheit, der gespannten Erwartung.

Antje blieb sich auch in diesem Falle treu; zuverlässig und großherzig, wie immer. Sie telegraphierte ihr bedingungsloses Einverständnis, mit ihrem ganzen Vermögen einzuspringen, und legte alles in Jörgs Hände.

Nun wäre es möglich; nicht ohne Opfer und Sorgen; aber der Preis war das Opfer wert. Jörg und Maren waren entschlossen, es zu wagen. Es mußte wenigstens versucht werden. Ging es nicht, so konnte man immer noch zum Aeußersten schreiten.

Mit Antjes Zusage in der Tasche und einem fertigen Entschluß im Herzen fuhren sie hinüber zu Maria, um alles in die Wege zu leiten.

Maria Terhalden war vielleicht noch ein wenig stiller als sonst. Aber das fiel den beiden nicht auf; sie waren zu erfüllt von ihren Plänen, um es zu bemerken, und hätten sie es bemerkt, so hätten sie es wohl nur natürlich gefunden. Denn aus dem Besitz heraus ging Maria in Armut hinein. –

Arm war sie eigentlich schon jetzt. Aber sie fühlte es noch nicht so.

Maria nahm die Mitteilung von Antjes Einverständnis und dem endgültigen Entschluß der Geschwister hin, ohne Freude zu zeigen. Im Gegenteil. Eine qualvolle Verlegenheit stand deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben.

»Es tut mir leid,« sagte sie, »sehr leid, daß es nun doch zuletzt an mir scheitern wird.«

Jörg und Maren fuhren förmlich zusammen vor Schreck und blickten Maria verständnislos an.

»Wa–s–? willst du selbst – –?« sie fanden keine ordentliche Frage.

Maria verschränkte die Hände im Schoß und sah still vor sich hin. Sie war schrecklich blaß; man sah, daß irgend etwas sie Qualen leiden ließ.

»Ich habe einen andern Käufer,« sagte Maria. »Er bietet mir hunderttausend Mark über den unter uns als für euch möglich verabredeten Preis. Ich muß diesen Vorteil mitnehmen.«

Es wirkte wie eine Unglücksbotschaft. Fürs erste antwortete keiner.

»Wer ist denn dieser Käufer?« fragte Jörg endlich kleinlaut.

Sie nannte einen unbekannten Namen.

»Und wie bist du zu ihm gekommen?« fragte Jörg weiter.

»Ganz ohne eignes Zutun. Ich denke mir, die Gläubiger werden in ihrem Interesse tätig gewesen sein. – Es ist ein unerhörter Glücksfall. Er will den ganzen Kaufpreis anzahlen. Dann bin ich alle Schulden los – und behalte noch etwas übrig –«

»So! also darum!« brach Maren los. »Aus Eigennutz. Daß wir Opfer brächten, schien dir natürlich. Du aber kannst kein Opfer bringen, du willst noch einen Vorteil haben –«

Ueber Marias Gesicht huschte ein gequältes Lächeln.

»Denkst du gar nicht daran, Maren, daß das Opfer, das ich brächte, wenn ihr den Hof so übernehmt, wie ihr könnt, das allergrößeste wär? Ich ginge dann bettelarm hier heraus. Das wenige, was ich selbst besitze, was ich vor Arne gerettet habe, reicht nicht, um mich und die Kinder aufs Einfachste zu ernähren –«

»Du könntest ja hier bleiben, brauchtest nicht heraus. Wir würden dir gern das Wohnungsrecht für dich und deine Kinder verschreiben –«

Maria fühlte den Angstschweiß auf ihre Stirn treten. Es war so ungeheuerlich, was sie tun wollte, diesen Köbinghofkindern gegenüber, die bereit waren, zu kämpfen und zu wagen für die Ehre der Familie, deren Herzen für diese Ehre zitterten und an dieser Heimat hingen. Auf sie allein kam es an – und sie wollte es ihnen unmöglich machen, ihnen die Heimat vor der Nase weg verschachern um elenden, klingenden Vorteils willen.

Nein – nötig wäre es nicht. Sie könnte das Opfer bringen; könnte alles fahren lassen; könnte hier weiterleben, besitzlos und rechtlos, und sich so, mit Hilfe des ihr gewährten freien Lebens, kümmerlich durchschlagen. Sie könnte sich auch irgend einen Erwerb suchen, für sich und ihre Kinder verdienen, sich durch das Leben mühen, um das Leben zu fristen. Es könnte ja sein, daß das Schicksal sich ihrer Kinder erbarmte und ihnen irgend ein freundliches Los in den Schoß legte, das sie ihnen nicht verschaffen konnte. Sie könnte ja darauf vertrauen, daraufhin alles wagen in dem zweifelhaften Hochgefühl, selbstlos und großmütig gehandelt zu haben. Sie hätte das ja alles getan, sie war ja schon bereit dazu gewesen, hatte sich in alles gefunden.

Nun bot sich ihr ein andrer, ein besserer Ausweg.

Und nun trat etwas in Kraft, womit niemand gerechnet hatte, weil niemand darum wußte: ihre ganze Vergangenheit an der Seite ihres Mannes.

Hätte sie Arne Terhalden geliebt, so hätte sie jetzt jedes Opfer gebracht. Was man aus Liebe und um Liebe opfert, das ist ja kaum ein Opfer.

Ihr ganzes Leben war Entsagung und Unterordnung gewesen, von eiserner Pflicht beherrscht, von Selbstentäußerung regiert. Nun war sie frei, zu tun, was sie wollte; sich ihre Zukunft zu gestalten wie sie wollte.

Und nun sollte sie freiwillig auf diese Freiheit verzichten, freiwillig das Joch, das ihre Schultern wund gerieben und ihre Kraft aufgezehrt hatte, weitertragen, mit diesen wunden Schultern und dieser müden Kraft, ohne andre Notwendigkeit, als die ihr aufgedrungene Anerkennung pietätvoller Familienrücksichten.

Sie hatte sich krank und elend gedacht und gequält mit diesen widerstreitenden Gefühlen – um endlich zu der Ueberzeugung zu kommen, daß niemand das von ihr verlangen konnte. Keiner würde es von ihr verlangen, der die Geheimnisse ihres Lebens kannte. Diese Geheimnisse würde sie freiwillig niemandem preisgeben. Und darum würde sie verurteilt und nicht verstanden werden. Das mußte sie dann hinunterwürgen. Einmal im Leben aber wollte sie zu ihrem Recht kommen; jetzt war der Augenblick, wo sie das konnte, ohne irgend welche positiven Pflichten zu verletzen. In diesem Augenblick trat die Pflicht gegen sich selbst in den Vordergrund.

Für Arne hatte sie sich geopfert bis zum letzten Atemzuge. Sich einer Idee zu opfern, aus Gefühlsrücksichten – aus Rücksichten auf die wenn auch noch so berechtigten Gefühle anderer – das konnte sie nicht anerkennen und annehmen als Pflicht, der sie alle andern Pflichten, alle Wünsche, ihre Zukunft, ihr ganzes persönliches Leben beugen und unterstellen mußte.

Aber Jörg und Maren und Hille und Antje kannten eben nicht die Geheimnisse ihres Lebens, die ihrem Empfinden, ihren Entschlüssen zugrunde lagen. Darum war es so entsetzlich schwer, mit diesen Entschlüssen zutage zu treten.

Die beiden, die da vor ihr saßen, die da innerlich über sie zu Gericht saßen, erwarteten irgend eine Aeußerung. Was hatte doch Maren zuletzt gesagt?

Maria könnte ja auf dem Köbinghof wohnen bleiben.

Maria raffte sich auf zu einem mutigen Hervortreten.

»Nein, Maren, das würde ich nicht tun. Du verstehst das vielleicht nicht – ich kann es dir auch nicht weiter erklären. Ich muß bei alledem aber auch an mich denken. Ich habe ein Recht dazu; es ist meine Pflicht gegen die Kinder, Arnes Kinder. Ich denke, es ist wichtiger, daß ich an die Zukunft seiner Kinder denke, als an die Zukunft seines Gutes. Außerdem ist es ja durchaus nicht meine Schuld, die ich durch fortgesetzte Opfer zu tilgen verpflichtet wäre. Es ist vielleicht nicht von ungefähr, daß dieses Angebot gekommen ist. Kurz und gut, – ich bin entschlossen, es anzunehmen.«

Diesem festen Willen gegenüber, der, mehr noch als in ihren Worten, in ihrem Wesen zum Ausdruck kam, war wenig zu tun und zu sagen.

Maren fühlte eine große Empörung.

»Ich habe nicht gedacht, daß du so rücksichtslos und so selbstsüchtig sein könntest,« sagte sie eisig. Und Jörg murmelte nur, verlegen und begütigend:

»Es ist ja am Ende begreiflich, daß sie jetzt zunächst an sich denkt.«

Maria war sich klar darüber, daß sie die Vorwürfe und den Groll der ganzen Familie würde auf sich nehmen müssen. Es schmerzte sie; aber es machte sie nicht mehr schwankend.

Wenn sie nur alles erst hinter sich hätte!

»Ich darf dich unter diesen Umständen um deine weitere geschäftliche Unterstützung wohl nicht mehr bitten –« sagte sie zu Jörg. Ihre Worte tönten so laut durch die schwüle Stille. Es wollte keine Unterhaltung wieder in Gang kommen.

Jörg fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wie aus einer innern Hilflosigkeit heraus. Auch er verurteilte Maria. Und dennoch konnte er ihr nicht böse sein.

»Warum denn nicht?« sagte er beinahe barsch. »Ich werde eben denken, daß es in deinem Interesse ist, und möglichst viel für dich herauszuschlagen suchen.«

Wie Jörg und Maren, so empfanden auch die andern. Der Widerhall all ihrer Briefe war immer nur ein vorwurfsvolles: warum tust du uns das an!

Maria erklärte nicht, entschuldigte sich nicht, rechtfertigte sich nicht. Sie handelte nur. Was sie litt und fühlte, ahnte niemand; danach fragte niemand. Sie waren alle so daran gewöhnt, sie nur unpersönlich, selbstlos, nachgiebig bis zur Willenlosigkeit zu sehen, daß sie diese plötzliche Regung von Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit nur als solche empfanden, selbstsüchtig und rücksichtslos. Wenn jemand nie etwas für sich verlangt hat, so wird ihm, wenn er es zu guterletzt doch noch einmal tut, das Recht darauf nicht mehr zugestanden. Wäre Maria immer selbstsüchtig und rücksichtslos gewesen, so hätten sie das alles vielleicht ganz natürlich gefunden und sich stillschweigend darin ergeben. So aber täuschte Maria all ihre Erwartungen und mußte das büßen. –

Vierzehn Tage später war der Verkauf abgeschlossen. Alle Gläubiger, auch Maren, wurden ausbezahlt.

Der Schnitt war vollzogen. Die Kinder vom Köbinghof hatten ihre Heimat verloren.

Maria begann, das Haus zu räumen. Die Arbeit war ihr eine Wohltat, obschon ihre Kräfte kaum ausreichten, sie zu bewältigen. Ueber das, was nachher werden sollte, dachte sie kaum nach.

Was sie von dem vorhandenen Hausrat für sich behalten wollte, ließ sie verpackt und verwahrt bei dem neuen Besitzer stehen.

»Bis ich es brauchen werde,« hatte sie gebeten. »Ich weiß heute noch nicht, wo ich mir ein andres Heim gründen werde.«

Was sie nicht behalten wollte, kaufte ihr der neue Besitzer ab.

Vier Wochen hatte sie Zeit zu all diesen Arbeiten und Ueberlegungen. Dann mußte sie fort.

Es war wirklich ein unerhörter Glücksfall mit diesem Verkauf. Es wickelte sich alles so glatt ab, wie der Faden von der Winde, ohne alle Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten für sie. Der Käufer war bei seinen gelegentlichen Anwesenheiten voller Liebenswürdigkeit und Rücksichtnahme. Ohne die störenden Einflüsse kleinlichen Aergers und peinigender Unsicherheiten hatte sie Zeit, über ihre Zukunft nachzudenken.

Sie hatte eigentlich noch keine Ahnung, was sie nun tun würde. Sie fühlte sich elend und sterbensmüde. Sie hätte sich am liebsten in irgend einen einsamen Winkel verkrochen, und sich da erst einmal ausgeruht von allem, was hinter ihr lag; Kraft gesammelt zu neuen Entscheidungen.

In dieser Zeit bekam sie den ersten Brief von Antje.

Sie ließ ihn einen halben Tag uneröffnet liegen, weil sie Angst hatte, ihn zu lesen. Er würde ja doch nur Vorwürfe enthalten; Vorwürfe, die sie schmerzen würden, eben weil sie von Antje kamen. Jörg hatte ihr telegraphisch die Entscheidung mitgeteilt, die sie über den Köbinghof gefällt hatte. – Gegen Abend endlich las sie ihn doch.

Und dann schämte sie sich, daß sie Antje so schlecht gekannt hatte. Antje, die nun seit über zwei Jahren Haralds Frau war; deren Eigenart sich in dieser Ehe nur vervollkommnet und ausgebaut haben konnte.

»Daß ich traurig bin und daß es mir schwer fällt, ist wohl natürlich. Aber du wirst deine Gründe gehabt haben. Ich kann sie nicht beurteilen; aber ich ehre sie, ohne sie zu kennen. Denn ich kenne dich. Und ich habe so viel Schönes und Gutes im Leben, daß es undankbar wäre, wollte ich mit diesem Schmerz, dieser Enttäuschung, mit dir deshalb hadern und rechten.«

In dieser Nacht wurde sich Maria klar über das, was sie zunächst wollte; was sie für sich wollte; was sie brauchte in ihrer niedergebrochenen Stimmung, was ihr helfen, sie wieder gesund machen, sie fähig machen würde, sich wieder im Leben zurechtzufinden.

Sie wollte für einige Monate zu Harald und Antje gehen.

Der bloße Gedanke daran verursachte ihr eine Freudigkeit, wie sie eine solche seit Jahren nicht empfunden hatte.

Die Reise würde Geld kosten; viel Geld. Gut, sie würde es vom Kapital nehmen. Sie würde das verantworten, vor sich selber; sie war ja keinem andern Verantwortung schuldig.

Der nackte Selbsterhaltungstrieb schob sie; die krankhafte Sehnsucht nach etwas Erfrischendem, Liebevollem, Warmem und Gesundem. Ihr graute vor sich selber, vor der trübsinnigen Ergebung, der kraftlosen Schwäche, der flügellahmen Bedrücktheit, die sich in ihr angesammelt hatte. Wie wollte sie damit dem weiteren Leben, den jungen Kindern gerecht werden! Es war ihre Pflicht, sich selbst erst wieder in Ordnung zu bringen, damit sie den Pflichten gegen Arnes Kinder zu genügen wieder imstande wäre. –

Als der Morgen graute, stand ihr Entschluß fest. Schon allein dieser Entschluß hatte etwas Stärkendes, Befreiendes im Gefolge. Beweis, daß es ein guter Entschluß war.

Und nun keine Zeit verlieren; keine Zeit gewinnen für Bedenken, für allerhand hindernde Zwischenfälle. Hinaus – fort – gleich – alles hinter sich werfen, aufräumen, und dann – neu anfangen.

Sie schickte ein Telegramm an Harald und fragte, ob sie kommen könne.

Am folgenden Tage schon hatte sie die Zustimmung in Händen; eine Zustimmung, aus der trotz des kurzen Wortlautes warmherziger Jubel klang.

Wie das gut tat!

Nun blieb nur noch eins zu erledigen. Die Kinder.

Maria fuhr zu Venningens, teilte ihnen ihren Entschluß mit und fragte, ob sie ihnen für ein paar Monate die Kinder abnehmen und aufheben wollten. Sie war so erfüllt von ihrem Entschluß, von ihrer Freude, von ihrem festen Willen, diesen Entschluß auf alle Fälle auszuführen, daß sie alle Bedenken überwand, die sich aus dem abgekühlten Verhältnis zu den Geschwistern ergeben konnten.

Jörg und Maren wunderten sich nicht weiter über Marias Absichten. Sie wunderten sich über gar nichts mehr an ihr. Sie waren gern bereit, die Kinder zu nehmen. Es waren ja auch Arnes Kinder. Es war vielleicht gut, daß diese Kinder auf solche Art Gelegenheit bekamen, in ihres Vaters Familie Wurzel zu fassen, ehe sie dieser Familie, wie nach den letzten Ueberraschungen wahrscheinlich war, durch ihre Mutter entfremdet wurden.

Maria trennte sich mit warmen Dankesworten, und merkte kaum, daß sie kühl aufgenommen wurden.

Als sie fort war, schüttelte Maren halb tadelnd, halb betrübt den Kopf.

»Maria ist ja die reinste Egoistin geworden,« sagte sie.

»Laß nur,« entgegnete Jörg tiefsinnig. »Es kommt mir vor wie eine Art Reaktion. Das gibt sich. Es liegt zu wenig in ihrer Natur. Maria kann auf die Dauer gar nicht egoistisch sein.« –

Acht Tage später stach das Schiff in See, das Maria Terhalden ihrem ganzen bisherigen Leben und seinen Leiden entführte. – –


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