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I.

Lange Zeit haben die Geschicke der Erben des Köbinghof's den Gesprächsstoff der Leute gebildet. Dann sind sie vergessen worden, wie alles Alte über dem Neuen vergessen wird. Und nachdem sich die Leute eine Zeitlang darüber aufgeregt, daß die schöne Frau Maria Terhalden einmal den Hof verlassen hatte und ins Leben hinausgegangen war, sie wohl gar pflichtvergessen und leichtfertig genannt hatten, beruhigten sie sich darüber und dachten, daß in diesem Falle das Schicksal in ganz unerhört wohlwollender Weise wieder gut gemacht habe, was irrende Menschenhand fehlte.

Das alles war so gekommen:

Der alte Herr Arne Terhalden war an einem heißen Augusttage nach langem Siechtum gestorben und drei Tage später unter den Ulmen des Friedhofes im Kirchdorfe ernst und feierlich begraben worden. Seit mehreren Jahrhunderten hatten die Terhaldens vom Köbinghof, Männer und Frauen, lebensmüde Alte und unschuldige Kinder, auf diesem Friedhofe ihre letzte Ruhe gesucht und gefunden. Ein ganzes Viertel des Platzes war besetzt mit Kreuzen und Steinen, die den Terhaldenschen Namen trugen; es war das vornehme Viertel in der Totenstadt der Bauerngemeinde.

Am Tage nach dem Begräbnis saßen die Erben des Verstorbenen zu wichtigen Beratungen in dem großen Wohnzimmer zusammen. Das heiße Sonnenlicht, das über Hof und Garten brütete, dunstete durch die zugezogenen weißen Vorhänge. Unter der hohen Zimmerdecke, an deren rauch- und altersdunklem Gebälk sich noch die Reste einer ungelenk geschnörkelten Malerei abzeichneten, summten die behaglichen Fliegen. Die Wände waren bedeckt mit Büchergestellen, die eine bunte Sammlung der Literatur aller Zeiten und Völker trugen – von den Oden des Horaz und den alten mittelalterlichen, in Schweinsleder gesperrten Familienerbstücken bis zu den liebenswürdigen und geistvollen Plauderbändchen der Franzosen, den zweifelhaften Erzeugnissen der Ganzmodernen und den dicken Gesetzesbänden des Landesregiments. Auch Bibeln und Gesangbücher fehlten nicht und veranschaulichten den Wechsel von Generationen. Darüber alte und neue Familienbilder, wertlose Kupferstiche, ein paar altmodische, sentimentale Genrebilder und eine große, vielbenutzte, mit Blau- und Rotstift korrigierte und mißhandelte Karte der Provinz Westfalen.

Durch die halbe Länge und Breite des Raumes ein abgetretener flandrischer Teppich; mitten darauf ein Eichentisch, starrend in Wucht und Schwere; darum unverwüstliche Eichenstühle, mit hartem Holzsitz oder rindsledernem Polster.

Auf diesen Stühlen saßen Arne Terhaldens Erben.

Der Notar hatte das Testament verlesen und war gegangen, da alles Uebrige Privatangelegenheit der Erben und seine Anwesenheit weiter nicht nötig war.

Antje hatte dem Bruder die Wirtschaftsbücher vorgelegt, in die er sich schweigend vertiefte.

Er war als ältester und einziger Sohn der Erbe des unverschuldeten Hofes samt allen dazugehörigen Ländereien. Auf jede seiner drei Schwestern entfiel laut Bestimmung des Erblassers ein Kapital von hunderttausend Mark, das er ihnen auszuzahlen oder zu verzinsen hatte.

Die Sache war sehr einfach, aber sie mußte geordnet, die Wünsche der Schwestern mußten gehört und soweit als möglich berücksichtigt werden.

Während der neue Herr Arne Terhalden sich scheinbar mit den letzten Rechnungsabschlüssen beschäftigte, überlegte er die Vorschläge, die er den Geschwistern machen wollte. Im großen und ganzen hatte er sich das schon vorher überlegt, denn wenn auch sein Vater selten über seine Verhältnisse, nie über seine letzten Bestimmungen mit ihm gesprochen hatte, so enthielten weder die einen noch die andern sonderliche Ueberraschungen für ihn, sondern entsprachen dem Bilde, das er sich in Gedanken über das alles letzthin gemacht hatte. Nur an Zahlen hatte es ihm gefehlt, und so konnte er das eigentliche Rechenexempel erst in diesem Augenblick in Angriff nehmen.

Der junge Arne Terhalden war achtunddreißig Jahre alt, ein gesunder, breitschultriger, kerniger Mann, mit festgeschnittenem Gesicht; nicht schön und nicht häßlich; seine Haut war braun und rein, sein Auge klar und kühl, seine Hand groß und fest. Ein Mann der selbstgefälligen Ruhe und selbstgefälligen Kraft. Seine Schwestern vertrauten ihm und achteten ihn, das war ihnen von Kind auf selbstverständlich gewesen. Aber sie liebten ihn nicht und standen ihm innerlich fern. Auch das war ihnen von jeher so selbstverständlich gewesen, daß sie die Tatsache weder als Unnatur noch als Mangel empfanden.

Unterdessen sprachen die andern halblaut miteinander.

Hille von Bergen führte das Wort. Sie war die zweite der Schwestern, und die Hübscheste und Eleganteste von allen. Man sah ihr die Stadtdame an und die Gattin des preußischen Offiziers, den sie vor acht Jahren geheiratet hatte. Die Schwere der heimatlichen Erde war dem Wirbelwind zerstreuenden Weltlebens gewichen. Sie war modisch frisiert und gekleidet, und nur die merkwürdigen stahlgrauen Augen bestätigten ihre Zugehörigkeit zu dem ernsten einfachen Geschlecht, dem sie entsprossen und entflattert war.

Sie richtete ihre geflüsterte, sich hastig überstürzende Rede vornehmlich an Maren Venningen, die immer als die Klügste, Verständigste und Freundlichste ein gewisses Ansehen in der Familie genossen hatte. Außerdem war sie die Aelteste.

Es tat gut, Maren anzusehen. So mußte eine glückliche Frau, eine zärtliche Mutter, ein harmonischer Mensch – so mußte ein Weib aussehen, dem das Leben gerecht geworden ist.

Die beiden Schwäger beteiligten sich wenig an der Unterhaltung. Der Hauptmann von Bergen hatte sich in diesem Hause nie heimisch gefühlt, und die Erbschaft seiner Frau regte ihn nicht auf, weil er sie nicht brauchte. Jörg Venningen, nachdem er erfahren, daß alles klar und ordentlich stand, und die Teilung keinerlei Schwierigkeiten nach sich ziehen würde, fand es unnötig, sich gleich Hille, zu ereifern und wartete ab, was Arne Terhalden weiter vorschlagen würde.

Zweie sprachen gar nicht, das waren Antje und Frau Maria.

Antje hatte die Hände fest ineinander gekrampft und kämpfte fortwährend mit Herzweh und steigenden Tränen. Sie war in tiefstem Sinne dieses Hauses Tochter gewesen. Die andern waren hinausgegangen – sie war geblieben. Sie war seit dem Tode der Mutter, seit fünf ernsten stillen Jahren, die Hausfrau gewesen. Sie war die einzige treue, liebevolle Gefährtin des Vaters geworden. Sie hatte den Vater in seiner langen Krankheit gepflegt und hatte ihm die Augen zugedrückt.

Nun war das alles zu Ende, ihre Lebensarbeit hatte aufgehört, ihre Heimat würde sich schließen. Sie würde dem Bruder Platz machen und hinausgehen. Und dann würde sie da draußen stehen, heimlos, zwecklos. Sie war noch körperlich und seelisch matt von den Anforderungen und Eindrücken der letzten Wochen. Sie fürchtete sich vor dem, was kommen würde, was man über sie beschließen würde.

Minutenlang hatte sie krampfhaft zur Balkendecke emporgestarrt und nichts weiter gedacht als: nur nicht weinen – nur nicht so dumm sein zu weinen. Nun wanderten ihre überwachten Augen langsam zu der stillen Frau, die neben ihr saß und gleich ihr seit geraumer Zeit keinen Laut von sich gegeben hatte.

In demselben Augenblick sah Maria Terhalden Antje an. In solchen zufälligen Augenblicken begegnen sich oft zwei Seelen, die bisher noch nichts voneinander wußten.

Marias Hand – eine schlanke, weiße, feste Hand – glitt leise hinüber in Antjes Schoß und umschloß deren kalte, festverschlungene Finger mit warmem Druck.

Und Antje hielt Maria Terhaldens Hand krampfhaft fest, als klammere sie sich an irgend eine unsichtbare Hilfe.

Da räusperte sich Arne Terhalden, schob die Wirtschaftsbücher ein Stück weiter auf die Tischplatte, lehnte sich in den tiefen Stuhl zurück und begann:

»Ich möchte euch sagen, wie ich mir die weitere Ordnung unserer Erbschaft denke.«

Alle Blicke richteten sich auf ihn; jeder nahm unwillkürlich eine feierliche Haltung an.

Nur Frau Maria sah auf ihre und Antjes verschlungene Hände, als ginge sie das gar nichts an.

Arne Terhalden fuhr fort:

»Ich bin durch Vaters Testament erheblich vor euch bevorzugt. Das ist dem Sohn und Erben des Gutes gegenüber aber natürlich, und ich hoffe, daß es keinem von euch unangenehme Empfindungen erweckt. – Der Anteil der Schwestern an der väterlichen Erbschaft ist in dem Geldwert des Gutes inbegriffen. Es kommt nun darauf an, ob ihr es mir stehen lassen wollt, oder ob ihr es ausgezahlt zu haben wünscht.«

Eine kleine Pause entstand, während welcher Arne Terhalden niemanden ansah und eine gleichmütig abwartende Stellung beibehielt.

Hille rückte ein paarmal auf dem glatten Lederpolster hin und her und erhob dann zuerst ihre Stimme.

»Das Letztere wäre doch wohl das Beste. Es ist die reinlichste Rechnung, und man ist unabhängig voneinander. Geldgeschäfte unter nahen Verwandten sind so leicht peinlich und bedrückend. Schwierigkeiten macht es dir ja nicht.«

Arne Terhalden verzog keine Miene.

»Der Köbinghof ist nach Vaters Ansicht und Berechnungen jetzt fünfmalhunderttausend Mark wert. Wenn ich euch alle auszahlte, würde das immerhin Schwierigkeiten zur Folge haben – jedenfalls nicht gleich möglich sein.«

Schweigen folgte diesen Worten. Alle machten verlegene Gesichter, und Frau Maria wurde rot und neigte sich noch tiefer über Antjes Hände.

»Marens Geld kannst du behalten,« brach Jörg Venningen das peinliche Schweigen. »Wir brauchen es vorläufig nicht und lassen es dir gern stehen. Nicht wahr, Maren?«

»Meins kannst du erst recht behalten,« sagte Antje und hatte Mühe, zu sprechen, weil ihr das Herz so unvernünftig schlug. »Ich wüßte ja gar nicht, was ich sonst damit anfangen sollte.«

Wieder räusperte sich Arne Terhalden.

»Das wäre also in Ordnung. Marens und Antjes Anteile bleiben stehen und werden von mir mit vier Prozent verzinst. Hille werde ich auszahlen, sobald ich mir die nötigen Gelder verschafft habe.« –

Hille fühlte sich ein wenig beschämt, trotzdem war es ihr lieber so. Sie mochte nichts mit dem Bruder zu tun haben.

»Nun kommt eine andere Frage,« nahm Arne Terhalden in rein geschäftlichem Ton das Gespräch wieder auf. »Was wird aus Antje?«

Das war die Frage, die alle mehr oder weniger gefürchtet hatten. Alle wußten, wie schwer das für Antje war; aber keiner wußte, was sie selbst darüber dachte, alle sahen sie an und keiner sprach.

»Es ist ja selbstverständlich,« fuhr Arne Terhalden nach kurzer Pause geschäftsmäßig fort, »daß du hier weiter eine Heimat haben kannst. Aber es ist schließlich deine Sache, ob du sie haben willst.«

Antje sagte nichts. Sie preßte nur unwillkürlich Marias Hand.

»Wenn du zu uns kommen willst,« sagte Maren, »du bist uns jeden Augenblick herzlich willkommen. Es ist dir vielleicht lieber als hier, wo du bisher Hausfrauenrechte hattest –«

»Und natürlich mußt du auch uns recht oft besuchen,« sagte Hille, mehr selbstverständlich als gerade herzlich.

Antje war langsam kreideweiß geworden. Ihr Gesicht bekam einen harten Ausdruck. Sie löste langsam ihre Finger aus Marias Hand, stützte die Arme auf die eichne Stuhllehne und richtete sich steif und gerade auf.

»Ich danke dir für dein Anerbieten, Arne,« sprach sie und schlug genau den trockenen Geschäftston des Bruders an. »Ich denke, du wirst es verstehen, wenn ich doch lieber von hier fortgehe. Ich muß mir das alles noch überlegen. Ich gehe wohl am liebsten zu Maren und suche mir dann möglichst bald einen – andern Beruf –« Dies letzte kam nur noch mit Anstrengung heraus.

Hille riß die runden Augen weit auf.

»Aber das hast du doch nicht nötig – du brauchst dir doch gottlob deinen Lebensunterhalt nicht verdienen!«

Antje lächelte matt, ein wenig geringschätzig.

»An Verdienen denke ich dabei nicht. Ich will etwas zu tun haben.«

»Das kannst du doch auch bei Maren oder hier haben; im Hause helfen, bei den Kindern.«

Antje kniff die Lippen zusammen.

»Wenigstens könntest du doch erst versuchen zu heiraten!« ereiferte sich Hille wohlmeinend weiter.

Antje zog drohend die Stirn in Falten.

»Ich finde, daß Antje sehr recht hat,« mischte sich jetzt Jörg Venningen ins Gespräch. »Jeder Mensch in ihrem Alter hat den Wunsch, etwas Selbständiges zu leisten. Und am meisten freue ich mich über ihren Entschluß, dies alles in Ruhe bei uns und mit uns zu überlegen. Also, abgemacht, Antje!«

Ueber die breite Tischplatte streckte er ihr die Hand hin.

Antje drückte sie kurz und fest; ein dankbarer Blick aus ihren wehen Augen traf ihn, der ihm zu Herzen ging.

»Armes Wurm,« dachte er. »So ist das nun mit den ledigen Töchtern.« –

An einem abermaligen Räuspern Arne Terhaldens merkten die andern, daß er noch etwas zu sagen habe.

»Ich möchte dich bitten, Antje, mit deiner Uebersiedlung zu Maren wenigstens so lange zu warten, bis ich herziehen kann. Ich kann meine Pachtung frühestens zu Neujahr los werden – vielleicht erst im nächsten Juli. Natürlich werde ich die Bewirtschaftung des Gutes mit dem heutigen Tage übernehmen; aber ich kann immer nur vorübergehend hier sein und nach dem Rechten sehen. Das Haus kann nicht gut so lange unbewacht, die Leute unbeaufsichtigt sein. Du würdest mir durch die Erfüllung meiner Bitte einen großen Gefallen tun.«

»Gewiß, Arne, ich werde solange hierbleiben.«

Sie sagte das in einer Weise, daß niemand erkennen konnte, ob sie ihre Einwilligung gern oder ungern gab.

Hiernach wandte sich das Gespräch anderen, weniger wichtigen Dingen zu. Gutsangelegenheiten wurden erörtert, über die letzten Tage und den Tod des Vaters, das Begräbnis und die zahlreich erschienenen Trauergäste gesprochen. Hille und Maren, die sich selten sahen, erzählten einander von ihren Kindern, ihren Dienstboten und sonstigen häuslichen Dingen, die Männer sprachen von Politik und den wirtschaftlichen Konjunkturen.

Maria beteiligte sich wenig an der Unterhaltung. Der alltägliche Anstrich, den dies Beisammensein je länger je mehr annahm, tat ihr weh. Hilles Schwatzhaftigkeit ging ihr auf die Nerven. Antjes stumme, starre Haltung bedrückte sie. Einmal sah sie Arne an, und dabei ging ein sichtbares Frösteln durch ihre Glieder, trotz der schwülen Stickluft im Zimmer.

Plötzlich stand Antje auf. An Frau Maria vorbei drückte sie sich aus dem engen Kreise.

»Wo willst du hin?« flüsterte die ihr zu.

»Ich will für das Abendessen sorgen,« antwortete Antje mechanisch.

Erst als die Tür hinter ihr zufiel, wurden die andern auf ihr lautloses Verschwinden aufmerksam.

Einen Augenblick hörte man nur den Hauptmann sprechen; er breitete sich über das militärische Strafrecht aus. Dann sagte Hille laut:

»Antje ist so sonderbar. Ich glaube, sie hat irgend etwas übelgenommen.«

»Für sie ist das alles doch am schwersten,« sagte Maren begütigend.

»Wir sind aber doch alle sehr nett zu ihr gewesen; Arne hat ihr doch sogar angeboten, hier zu bleiben!«

Ja, aber wie! dachte Maria, und es fröstelte sie wieder.

»Es ist sehr begreiflich, daß sie das nicht annimmt,« meinte Jörg Venningen.

»Jedenfalls scheint es mir die beste Lösung, daß sie zu euch gehen will,« setzte sich Hille über alle innern Schwierigkeiten leicht hinweg. »Bei euch ist sie auf dem Lande – in der Stadt kann sie es ja nie lange aushalten. Jörg wird ihr hoffentlich die schrullige Idee mit dem Beruf austreiben. Und Maren muß versuchen, sie zu verheiraten.«

»Antje ist aber nicht ein Mädchen, das sich verheiraten läßt,« sagte Maren. »Sie gehört zu denen, die ohne große Liebe in der Ehe sehr unglücklich werden.«

»Ach – dann müßten fast alle Frauen sehr unglücklich sein. Denn die ›große Liebe‹ ist zunächst doch für die meisten das Haupterfordernis. So was gibt sich. Man weiß doch wenigstens, wo man hingehört – hat seine Stellung, – seinen Beruf, nach dem sich Antje ja augenblicklich am meisten zu sehnen scheint.«

»Wenn es Maren nicht glückt, können wir es ja versuchen,« scherzte der Hauptmann von Bergen. »Hille hat einige Uebung in solchen Dingen und jedenfalls große Passion dafür.«

»Nein, bei Antje will ich es doch lieber nicht versuchen,« wehrte sich Hille. »Die wäre imstande, mir, wenn es nachher schief geht, die Verantwortung aufzubürden.«

»Die hättest du dann doch auch,« sagte Jörg Venningen.

»O nein, lieber Jörg, ebensowenig, wie ich die letzte Entscheidung zu fällen hätte.«

»Sehr bequeme Auffassung,« brummte Jörg. Dann verließen sie das unerfreuliche Thema. –

Oben in ihrem Zimmer stand Antje mit gefalteten Händen und starren, trockenen Augen.

Sie war nicht in die Küche gegangen. Sie fühlte sich außerstande, an Schinken und Wurst und kalten Braten zu denken. Und die Dienstboten waren alle so neugierig.

Ja, für sie war es am schwersten. Sie verlor am meisten. Nicht nur den Vater, der ihr in diesen letzten Jahren mehr gehört hatte, wie all den andern. Sie verlor auch die Heimat, den Lebensinhalt. Bei den Schwestern blieb wenigstens äußerlich alles beim alten. Und der Bruder nahm die Heimat in Besitz und gewann mit ihr Lebensinhalt. Sie aber mußte hinaus aus beiden.

Sie hatte den Vater geliebt, obwohl er ein strenger und ernster Mann gewesen war, von wenig Worten und vielleicht auch von wenig Liebe. Aber sie hatte ihn verstanden, und vor allem: sie hatte für ihn gelebt.

Mehr noch aber als am Vater hing sie an der Heimat.

Sie hatte ja gewußt, daß es so kommen würde, kommen mußte. Die fertige Tatsache überraschte sie nicht, erbitterte sie nicht; überwältigte sie aber.

Und die andern hatten alle kein Verständnis dafür. Auch Venningens nicht, obgleich die sie geschont hatten. Die waren viel zu glücklich, zu praktisch, viel zu sehr mit sich selbst ausgefüllt.

Aber Maria. – –

Antje kannte ihre Schwägerin wenig. Als Braut war sie einmal einen Tag auf dem Köbinghof gewesen, da war die ganze Familie zusammen, und man war sich nicht näher getreten. Aber sie entsann sich noch, daß sie, Antje, damals eine flüchtige Schwärmerei für das stille, zarte Mädchen mit den tiefen Augen und dem holden Lächeln empfunden hatte. Etwas Geheimnisvolles war um sie gewesen und etwas Unnahbares.

Dann nach kurzer Zeit hatten sie geheiratet. Antje hatte die Hochzeit nicht mitmachen können, weil sie noch nicht völlig vom Scharlach genesen war. Und dann hatte sie Maria nur auf den Taufen ihrer Kinder gesehen und hier und da ein paar Tage auf dem Köbinghof. Sie kam selten, sie konnte immer nicht recht abkommen von den Kindern; und die Reise ins hannöversche Land war langwierig und umständlich.

Antje hatte dann stets bedauert, daß es ihr nicht gelingen wollte, in ein näheres Verhältnis zu ihres Bruders Frau zu treten. Maria war immer freundlich, aber sie sprach nie von sich und schien auch nicht viel Interesse für andere zu haben. Sie war auch viel kränklich gewesen, hatte sich erst allmählich zu einer festeren Gesundheit hindurch gelebt.

Heut zum erstenmal glaubte Antje einen Blick hinter die Mauer geworfen zu haben, die Marias eigentliches Sein ihr bisher verborgen hatte; heute, als sie heimlich und fest ihre Hand nahm. –

Antje hatte plötzlich Sehnsucht nach Maria, als nach dem einzigen Menschen, der ihr in ihrer augenblicklichen Stimmung gut tun könnte. –

Da wurde zaghaft an die Tür geklopft, und Maria Terhalden trat ein. Der rötliche Strahl der sinkenden Sonne fiel über sie hin und leuchtete auf ihrem rotgoldenen Haar, in ihren tiefen, stillen Augen, die auch grau waren, obgleich sie nicht dem Terhaldenschen Geschlecht entstammten.

»Ich wollte noch einmal zum Vater gehen. Kommst du mit, Antje?« fragte Maria einfach.

Antje fühlte etwas Hartes zerspringen in ihrem Herzen und seufzte unwillkürlich kurz auf. Dann nickte sie, fast heftig.

Sie stülpte einen schwarzen Schutzhut über ihr allzeit etwas wirres, lockeres, blonddunkles Haar und stieg schweigend hinter Maria her, die breite, knarrende Eichentreppe hinunter. Unten auf dem Hausflur blieb sie stehen.

»Ich muß doch einmal schnell erst zur Köchin gehen – nachher ist es zu spät. Und Arne wartet nicht gerne – geh doch einstweilen voran.« –

Maria Terhalden verließ das Haus. Sie fürchtete, es könnte noch einer dazukommen und sich ihnen anschließen. Sie wollte mit Antje allein sein. –

Sie ging um das Haus herum nach der hinteren, der Gartenseite, und langsam den schmalen, mit Buchsbaum eingefaßten Steig entlang, der den Rasenplatz in zwei gleichmäßige Vierecke teilte. Stockrosen standen längs der buschigen Einfassung in steifer Pracht, ihre weißen, rosenroten und bronzefarbenen Blüten sahen so ordentlich und sauber aus, wie Papierblumen. Ordentlich und sauber und steif war alles – der Weg und der Rasen und die Blumen – ja sogar die abendlichen Schatten, die hinüber und herüber fielen, nahmen sich aus, wie peinlich akkurate Zeichnungen von pedantischer Schülerhand. Marias Augen glitten darüber hinweg, hinauf zu den Kronen der Eichen und Ulmen, die das nüchterne Viereck mit knorriger Wucht umstanden. Die Bäume waren dem Zwang der Menschenhand entwachsen – in Sonne, Sturm und Regen hatte sich frei die Kraft entfaltet, die sie unmittelbar aus dem Schoße der Erde, aus dem Urquell des Lebens getrunken.

Maria Terhalden dachte daran, daß dies nun künftig ihre Heimat sein würde.

Sie hörte Antjes festen, weit ausholenden Schritt hinter sich, blieb stehen und ließ sie herankommen. Dicht nebeneinander und doch jede für sich gingen sie den geraden Steg bis zu Ende, einen waldartigen Pfad unter dem Eichenbusch entlang, und durch eine Gitterpforte auf die Straße, die hinten vorbeiführte. Durch abgeerntete Felder und grüne Viehkoppeln zog sich der baumlose Weg, dessen lehmiger Boden hart und trocken war wie eine Scheunentenne, eine Viertelstunde dahin bis zum Dorf, an dessen diesseitigen Ende der Kirchhof lag. Es ging sanft bergab, dem Tale zu, durch dessen grünen Grund die kleine Ahse in sommerlicher Müdigkeit dahinschlich. Vor ihnen bis weit hinaus zum fernen Horizont die unendliche, fruchtbare, mit Städten und Dörfern wie mit Spielzeug besäte Ebene; hinter ihnen die Höhe des Bergwaldes mit seinem ernsten Wipfelrauschen.

Lange schritten sie schweigend nebeneinander aus; Antje mit düster gesenktem Blick; Maria mit erhobenem Haupt, die Augen weit hinausgerichtet und doch nicht sehend, was sie sahen.

Endlich sagte Maria Terhalden:

»Es tut mir leid, daß du nicht bei uns bleiben magst, Antje, wirklich sehr leid.«

Antje seufzte ein wenig ungeduldig. Wenn man sie doch im Ruhe ließe damit. –

»Seid mir nicht böse deswegen, sondern versucht es zu verstehen. Ich kann nicht Gast sein, wo ich bislang Hausfrau war. Ich kann nicht müßig zuschauen, wo ich bisher alle Arbeit tat.«

»Ich verstehe es vollkommen, Antje.«

»Es ist auch besser für euch,« fuhr das Mädchen fort; »ich würde mich mit Arne nicht vertragen.«

Auch das verstand Maria, aber sie sagte es nicht, sondern meinte nur:

»Und mich kennst du ja so gut wie gar nicht.«

Darauf hatte wieder Antje nichts zu sagen.

»Es ist gut, daß Du zu Maren gehst,« fing Maria wieder an. Da ließ Antje ihre Zurückhaltung fallen.

»Ich habe das so gesagt – aus Rücksicht. Aber vielleicht kommt es gar nicht dazu. Ich gehe jedenfalls nur solange hin, bis ich etwas für mich gefunden habe.«

»Du willst dir also wirklich einen Beruf suchen?«

»Ja, unter allen Umständen.«

»Das ist tapfer und verständig von dir. Nichts Schrecklicheres, als solche nutzlos herumsitzenden, wartenden weiblichen Existenzen.«

Antje blieb stehen und sah ihre Schwägerin groß an.

»Das habe ich nicht von dir erwartet, Maria. Ihr Frauen seid doch gewöhnlich unbarmherzig gegen unsereinen. Nichtstun sollen wir nicht, wenn wir aber etwas tun wollen, etwas Selbständiges, meine ich, so ist es auch nicht recht.«

»Das sind doch überwundene Standpunkte,« meinte Maria lächelnd.

»Im großen, ganzen – ja. Aber gerade die glücklich verheirateten Frauen sind engherzig und zurückgeblieben in solchen Ansichten. Sie haben das beste Teil erwählt. Statt denen zu helfen, die außen vor stehen, machen sie es ihnen schwer, Ersatz zu finden für das Beste, das ihnen nicht beschieden war.« –

Ueber Marias weiches Gesicht glitt eine seltsame Schärfe. Sie ging weiter.

»Wie alt bist du eigentlich, Antje?«

»Achtundzwanzig.«

»Warum hast du nicht geheiratet?«

Antjes Lippen zuckten ungeduldig. Nun fing die auch so an.

»Ich konnte doch nicht vom Vater fort,« sagte sie trotzig.

»Hättest du jemanden lieb gehabt, so wärest du dennoch gegangen. Das ist nun mal so. Es hätte ja auch schon früher sein können, vor Mutters Tod, da warst du doch abkömmlich!«

»Da hab ich einmal eine Neigung gehabt – ja. Eine unerwiderte. Von so was spricht man nicht gern. Ich bin schnell damit fertig geworden – es war eben nur Neigung – nicht Liebe. Vielleicht hätt's Liebe werden können. Aber es war besser so. Immerhin habe ich seitdem genug davon gehabt. Und ich denke auch jetzt nicht mehr daran.«

Sie war nachträglich über sich selbst erstaunt, daß sie diese Dinge, über die sie niemals sprach, jetzt plötzlich einer fast Fremden gegenüber erwähnte. Es war ihr so entfahren, und sie bereute es. Maria war so still – was sie nun wohl dachte?

»Erzähl mir von deinen Kindern,« bat Antje, um die Gedanken abzulenken. »Ich kenne sie kaum, sind sie gesund?«

»Ja, gesund und hübsch. Und recht begabt.«

»Sind sie dir ähnlich?«

»Es sind Arnes Kinder, äußerlich und innerlich.«

Wie schade, dachte Antje. Dann sind es gewiß selbstsüchtige, eingebildete kleine Philister.

»Nur der Kleinste,« fuhr Maria fort, »der ist mein Kind.« Ihre Stimme hatte dabei etwas Weiches, Umflortes. Und als Antje, von dieser Stimme betroffen, die Schwägerin ansah, erstaunte sie noch mehr über das wehmütig glückliche Leuchten in Marias Augen.

»Erzähl mir von ihm,« bat sie.

»Da ist nicht viel zu erzählen. Er ist ja erst dreijährig. Aber er hat solch wildes, heißes Seelchen. Es ängstigt mich oft, – aber es macht mich doch glücklich.«

Sie hat das an ihm, was sie an Arne nicht hat, dachte Antje. Sie fühlte sich Maria mit jedem Augenblicke näher. Aber sie wagte keine weiteren Fragen. Maria war so ein Mensch, in dessen Vertrauen man sich nicht eindrängen durfte, wenn man es nicht ganz verlieren wollte.

Dann saßen sie am Grabe des Vaters. Viele Kränze lagen darauf. Die Erde umher war zertreten, das umhergestreute Grün zerstampft und verstaubt.

»Es sieht so trostlos aus,« sagte Antje. »Ich mag nicht an Gräbern sitzen; ich denke da nur an Staub und Verwesung. Ich kann die Menschen nicht begreifen, die an ihre Gräber gehen, um an ihre Toten zu denken.«

»Es ist doch das Letzte, was uns von ihnen bleibt –«

»O nein, es erinnert mich nur an das, was mir genommen ist. Uns bleibt mehr und Besseres, als solch trauriger Hügel. Das, was wir von dem Toten im Herzen tragen – alles, was wir ihm in unserem Leben verdanken. Um mir dessen bewußt zu werden, brauche ich nicht an die Gräber zu gehen. Das trage ich überall in mir herum.« –

Trotzdem blieb sie lange mit Maria sitzen auf der steinernen Bank unter der alten Ulme, die dem frischen Grabe am nächsten stand und erzählte ihr von den einsamen, stillen, ernsten Jahren, die sie mit dem Vater geteilt hatte.

»Gesprochen haben wir beide nicht viel, und Zärtlichkeiten waren erst recht nicht unser Fall. Aber wir wußten, daß wir einander brauchten. Jeder hatte seine Arbeit und war ausgefüllt dadurch. Es war ein ernstes Leben, aber es war voll Ruhe und Befriedigung.«

Maria wollte mehr wissen. Sie hatte den Schwiegervater so wenig gekannt; wie er gewesen sei mit der Frau, mit den Kindern, als sie noch klein waren.

Warum fragt sie danach? dachte Antje. Dann erzählte sie.

»Streng und ernst war er immer. Aber doch auch sehr gut. Wir haben ihn sehr gefürchtet, aber wir haben ihm auch vertraut. Daß er mit uns gescherzt und gespielt hätte, entsinne ich mich nicht. Aber als ich einmal krank war – mit sieben Jahren – da hat er oft und lange an meinem Bett gesessen und immer meine Hand gehalten. Ich habe selten gesehen, daß er Mutter geküßt hat, nie gehört, daß er ihr ein Liebeswort sagte. Aber ich weiß keinen Mann, der so genau wußte, was seinem Weibe wohl und wehe tat, so zart war in seinem Handeln und Empfinden gegen die Frau – nicht einmal Jörg Venningen – nein, nicht einmal der –«

Maria Terhalden starrte auf den zertretenen Sand zu ihren Füßen; ihr Gesicht war undurchdringlich.

»Und wie war er gegen seine Untergebenen?« fragte sie.

»Gerade wie gegen seine Kinder. Streng aber gut. Er kannte sie alle persönlich. Keiner blieb ungehört, der ein Anliegen an ihn hatte, wenn es ihm auch keineswegs immer gewährt wu7rde. Es ist sein Verdienst, daß wir noch fast patriarchalische Zustände unter unsern Arbeitern haben, um die uns mancher hier herum beneidet.«

»Und eure Mutter?«

»Mutter war ganz so, wie Maren ist. Das kam wohl durch das lange Leben mit einem ernsten, stillen Mann.«

»Und hatten denn eure Eltern gar keine Fehler?« fragte Maria, immer in den Sand starrend.

Warum will sie das nur alles wissen, dachte Antje.

»Ich weiß nicht – man denkt nicht darüber nach, wenn man ein glückliches Kind ist. Mutter hatte vielleicht zu wenig Sinn für anderes – sie ging eben ganz auf in Mann und Kindern – was darüber hinausging, interessierte sie nicht. Aber ein Fehler war das eigentlich nicht – für sie sogar ein Glück. Vater hätte sie gar nicht anders haben mögen. – Und er – ich glaube, er konnte sehr unerbittlich gegen andere sein. Er hat wohl wenig Versuchungen gekannt in seinem Leben – sein Temperament schützte ihn davor. Er konnte es nicht verstehen, wenn andre welche hatten, nicht entschuldigen, wenn sie ihnen erlagen. Ich habe ihn oft einen harten Mann nennen hören. – Uebrigens hat Arne manche Aehnlichkeit mit ihm,« setzte sie unwillkürlich hinzu.

Maria richtete sich auf und strich mit der Hand über die Stirn. Es schien, als habe sie zuletzt gar nichts mehr gehört.

»Die Sonne ist fort – wir müssen zurückgehen, Antje.«

Als sie auf dem Köbinghof ankamen, stand das Essen bereit und die Geschwister standen wartend vor der Haustür herum.

»Wo seid ihr gewesen?« fragte Arne, und Maria sah sofort, daß er verstimmt war.

»Auf dem Kirchhof,« sagte sie.

»Auf dem Kirchhof?« rief Hille. »Ja, warum geht ihr denn so heimlich fort und sagt uns nichts? Wir hätten doch mitkommen können!«

»Das konntet ihr ja auch von selber tun,« sagte Antje, die vor dem Spiegel ihren Hut absetzte und das Haar glattstrich.

Hille machte ein gekränktes Gesicht und fand, daß Antje manchmal unausstehlich war.


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