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V.

Antje fiel aus einem Staunen ins andere.

Auf dem Köbinghof wurde gebaut. Das war nicht dagewesen, so lange sie denken konnte. Ein neuer Viehstall war entstanden, eine neue Scheune im Werden. Die alten Holzzäune längs des Gartens und der Straße wurden durch massive Mauern ersetzt. Vor dem Geräteschuppen standen mehrere neue Maschinen, deren Bestimmung sie nicht kannte.

»Warum hast du mir nie etwas davon geschrieben?« fragte sie Maria.

»Es ist so umständlich –« sagte sie ausweichend. Sie schien sich wenig dafür zu interessieren. Sie war überhaupt so anders, blaß und einsilbig, und von einer nervösen Reizbarkeit, die Antje nicht an ihr kannte.

Auch Arne kam ihr verändert vor; unzugänglicher für alles Menschliche, ganz hingenommen von Geld- und Gutsgeschäften, herrisch und unliebenswürdig im Hause, rücksichtslos gegen Maria.

Eigentlich war er ja immer so gewesen. Hatte es zugenommen? Hatte sich ihr Empfinden dafür geschärft?

Es lastete wie ein Albdruck auf dem Familienleben. Es fiel Antje auf die Nerven.

Das kommt davon, dachte sie, daß Maria ihm allen Willen tut. Selbstlose Frauen züchten ja geradezu die Rücksichtslosigkeit der Männer. Hier gehörte eine her, die seinem Wesen einen energischen Widerstand entgegensetzte. Eine offene Empörung würde erlösend wirken. Marias freiwilliges Märtyrertum war verderblich für ihn, entwürdigend für sie.

Auf dem Hofe gab es lauter neue Gesichter. Statt des alten Aufsehers, der im derben Kittel mitgearbeitet hatte, stand da ein junger eleganter Beamter, der in hochfahrendem Ton die Leute kommandierte, Handschuhe trug und Zigaretten rauchte.

»Warum das?« fragte Antje. »Der paßt doch nicht hierher!«

Maria zuckte die Achseln.

»Arne hat den Alten weggejagt, weil er seinen Neuerungen im Wege war, und mit den Leuten nicht allein fertig werden konnte. Der Neue ist mit allen modernen Einrichtungen vertraut und hält ihm allen ›Leuteärger‹ vom Halse.«

»Und die Leute?«

»Die Alten sind auch meist fort. Sie konnten sich mit dem neuen Beamten nicht vertragen – da hat er ihnen gekündigt.«

»Er??«

»Ja. Arne liebt es nicht, mit solchen Angelegenheiten belästigt zu werden.«

»Aber – –«

»Du wirst dich noch über manches wundern, Antje. Frage lieber Arne selber. Es freut ihn ohnehin, wenn du dich für seine Wirtschaft interessierst.«

Antje tat es. Aber sie erfuhr bald, daß er unter Teilnahme nur blinde Zustimmung, urteilsloses Lob verstand. Widerspruch reizte ihn, und einen Vergleich mit dem, wie es früher gewesen, ertrug er erst recht nicht. Antje hatte nicht Lust, sich mit ihm zu zanken.

»Ich interessiere mich nicht mehr für seine Sachen,« sagte sie zu Maria, »wenn man nicht alles lobt und gutheißt, wird er verstimmt. Und ich kann das Wenigste gutheißen. Also sehe und höre ich lieber nichts davon.«

Maria sah an Antje vorbei und lächelte verloren.

Mein Gott – wenn sie sich doch einmal aussprechen wollte!

»Sag mir nur, Maria, wo nimmt er das Geld her?« fragte sie ein andermal. Aus Marias dunklem Erröten merkte sie gleich, daß es eine dumme Frage war.

»Er hat natürlich Schulden gemacht – das Gut belastet. Er hätte es gern vermieden; er wollte das Geld von mir haben – aber ich – habe mich geweigert.«

Also hat sie ihm doch Widerstand geleistet, dachte Antje.

»Du findest das vielleicht unrecht von mir,« fuhr Maria in ihrer stillen, klaren Weise fort. »Es ist mir auch schwer geworden; aber ich habe selbst wenig und ich mache mir ernste Gedanken um die Zukunft. Ich glaube, wir werden es einmal nötiger brauchen als jetzt –«

Antje machte ein erschrockenes Gesicht. Sie wußte den Bruder und den Hof nur in guten, sicheren Verhältnissen.

»Wie kommst du darauf, Maria?«

Die sah an ihr vorbei ins Wesenlose.

»Es sind vielleicht törichte Sorgen. Aber wenn Arne so fortfährt – er ist eigensinnig und läßt sich nicht raten. Er will durchaus eine Musterwirtschaft haben. Ich glaube nicht, daß der Hof ihm das verzinsen wird, was er hineinsteckt. – Sprich nicht davon zu den andern,« setzte sie hinzu. »Es gibt nur unnützes Gerede.«

Von diesem Tage an beobachtete Antje ihres Bruders Schalten und Walten mit einem ganz anderen Interesse, als dem durch die Heimat bedingten. Ihr Blick schärfte sich für Dinge, die sie bisher nicht gesehen; ihr Ohr griff gelegentliche Aeußerungen auf, die sie sonst vielleicht überhört hätte.

Sie war in der Wirtschaft aufgewachsen und sie hatte in den letzten Monaten zugelernt. Unbewußt wurde Rütjer Thorens Tätigkeit der Maßstab, mit dem sie Arnes Tätigkeit maß; je länger je mehr fiel der Vergleich zu Arnes Nachteil aus. Arne arbeitete mit dem Kopfe – Rütjer Thoren mit dem Herzen. Arne ging mit starren Augen seinen rücksichtslos gewählten Weg. Rütjer Thoren paßte sich den Verhältnissen an und ordnete sich ihnen ebenso oft unter, wie er sich gegen sie durchsetzte. –

Worin der Unterschied lag, wußte sie selbst noch nicht recht.

Einmal war sie bei Maren. Da fing Jörg Venningen davon an. Er hatte dieselben Bedenken wie Maria.

»Arne ist ein Theoretiker,« sagte er. »Aber in der Praxis muß die Theorie mit den gegebenen Verhältnissen rechnen – sonst gerät sie auf tote Geleise.«

»Das Schlimmste ist,« sagte Maren, »wie er mit den Leuten umgeht. Das heißt, er geht eigentlich gar nicht mit ihnen um. Sie sind ihm nur Maschinen, nur Mittel zum Zweck. Das lassen sich unsere Leute nicht gefallen. Das sind vor allem Vaters Leute nicht gewöhnt, die Guten werden ihn verlassen, und die Schlechten werden auf sich bedacht sein, nicht auf ihn.«

»Und der Bengel, der da als Inspektor bei ihm herumläuft, ist der Schlimmste von allen,« ereiferte sich Jörg. »Er versteht gar nichts und kujoniert die Arbeiter. So etwas spricht sich herum. Wozu braucht überhaupt Arne einen Inspektor! Er muß selber arbeiten, selber in allen Ecken herumkriechen und überall Bescheid wissen. Aber er hat nur seine Pläne und Neuerungen im Kopf. Um den Kleindienst kümmert er sich nicht, den versteht er gar nicht. Und der Beamte redet ihm zum Munde – darum behält er ihn.«

»Sprich doch mit ihm darüber,« bat Antje. Jörg lachte ärgerlich.

»Arne läßt nicht mit sich sprechen. Er ist viel zu überzeugt, daß er alles am besten weiß und kann.«

»Maria müßte es tun –« tastete sich Antje weiter.

»Ach, Maria hat erst recht keinen Einfluß. Es liegt ihr auch nichts daran. Sie ist zu gleichgültig – sie lebt in irgend einer Traumwelt und sieht gar nicht, was um sie her vorgeht.«

Und Maren fügte hinzu:

»Sie erzieht ihre Kinder und verzieht ihren Alf – mehr kann sie nicht. Sie ist eine anmutige Frau, in die man sich heut noch verlieben könnte – aber für Arne paßt sie nicht.«

Antje stieg das Blut zu Kopfe.

»Ihr beurteilt Maria ganz falsch,« sagte sie. »Nur das ist richtig: für Arne paßt sie nicht, oder vielmehr: er nicht für sie. Was ihr Gleichgültigkeit nennt – das ist einfach Resignation.«

Maren machte große Augen.

»Ich weiß, ihr liebt euch, und du nimmst Partei für sie. Aber Resignation? Warum? Sie ist eine einfache Gelehrtentochter, und manche würde sie beneiden um das Los, das sie mit der Ehe gezogen hat.«

»In der Ehe ist aber der Mann die Hauptsache, nicht die Verhältnisse.«

»Und was hast du denn an Arne auszusetzen?«

»Nichts weiter, als daß er nicht für sie paßt.«

»Das ist nicht seine Schuld – wenigstens nicht mehr als ihre.«

»Das ist nicht Schuld oder Verdienst, das ist Glück oder Unglück. Es ist jedenfalls immer ein besonderes Glück, wenn die Wahl, die man in der Ehe trifft, nachher auch die richtige war.«

»Liebe Antje,« sagte Maren mit überlegener Weisheit, »hier oder da paßt es in jeder Ehe nicht. Die Ehe ist ein Kompromiß, da heißt es: ›sich anpassen‹. Wer das nicht kann oder nicht will – den trifft die Schuld, wenn es nachher schief geht.«

»Dann trifft in diesem Falle Arne ganz allein die Schuld,« ereiferte sich Antje immer heftiger, »denn er ist rücksichtslos bis zur Grausamkeit, und Maria paßt sich an bis zur Aufgabe ihrer Persönlichkeit.«

»Arne würde sich freuen, wenn er dich so reden hörte.«

»Ich glaube, es würde ihm ganz gleichgültig sein und ich werde mich hüten, ihm etwas darüber zu sagen.«

Auf dem Heimwege bereute sie bitter, daß sie sich so weit hatte hinreißen lassen. Es erschien ihr wie ein Verrat an Maria, ein Preisgeben und Bloßstellen dessen, was Maria in ihrer innersten Seele verbarg und vor fremdem Einblick hütete; was aber doch aus ihren Augen, ihrem Wesen klagte – nur dem verständlich, der sie kannte und liebte. –

Maria war ihr entgegengegangen. Antje ließ den Wagen leer nach Hause fahren. Zusammen wanderten sie durch den klaren, windstillen Herbstabend, der im tiefen, goldroten Abendrot, am weiten Himmel verglühte. Das Feld lag kahl und still; von den Höhen sank es herb und kühl hernieder.

Antje empfand nur das Bedrückte und Wehmütige, das wie ein Schleier über Marias Seele lag. Es gab soviel Sonne, soviel warmes Licht in dieser Seele. Wer schleuderte den unheilvollen Bann, der die Kraft dieses Lichtes brach?

Antje plauderte krampfhaft, in dem Bestreben, Maria zu erheitern und zu zerstreuen. Sie sprach vom kleinen Alf. Sie ahnte, daß dieses Kind in seinen zarten Händen die Macht trug, Maria zu erlösen oder zu vernichten.

»Ach, Antje,« sagte Maria plötzlich, »wie werd ich dich vermissen, wenn du erst wieder fort bist!«

Antje folgte einer ihrer intuitiven Eingebungen.

»Komm mit! Besuche mich für ein Weilchen! Es geht sehr gut. Du wohnst in meinem Vorderzimmer. Und während ich arbeite, sitzt du im Park und ruhst dich aus. Du kommst nie heraus hier, fast immer nur Einsamkeit und Pflichten, nie Erholung und andere Eindrücke –«

»Wer Pflichten hat in einem glücklichen Heim, braucht keine Erholung,« sagte Maria mit ungewohnter Schärfe.

Sie zitiert Maren, dachte Antje, oder sie will mich dumm machen. Umso eindringlicher redete sie weiter.

Aber Maria schüttelte den Kopf und ihr Gesicht bekam etwas Gespanntes.

»Du meinst es gut, Antje, aber es geht nicht. Bedenke, in welche sonderbare Lage ich käme –«

Antje verstand nicht und sah Maria nachdenkend an.

»Du meinst, weil du selbst die Herrin eines Besitzes bist, kannst du nicht eine Verwandte besuchen, die auf eines andern Besitz in Dienst steht? Das sieht dir doch gar nicht ähnlich, Maria?«

Maria schwieg. Sie konnte ihre Lüge nicht noch bestätigen.

»Also das ist Unsinn,« fuhr Antje hartnäckig fort. »Außerdem kennt dich der Graf Thoren von früher her –«

»Die Bekanntschaft war viel zu flüchtig –«

»Er hat sie nicht vergessen –«

»Um so schlimmer – das würde also auch dich in eine sonderbare Lage bringen.«

Antje wurde ärgerlich.

»Ich begreife dich nicht, Maria. Sage doch lieber gerade heraus: ›ich will nicht‹.«

»Nun gut also. Ich will nicht.«

Das kam in so eigensinnigem, schroffem Ton heraus, daß Antje nicht mehr den Mut hatte zu fragen: warum nicht?

Ja, warum nicht? Hing das mit Marias auffallender Teilnahmlosigkeit für Antjes neues Leben zusammen? Sie fragte nie, und wenn Antje erzählte, kam es ihr manchmal vor, als höre Maria gar nicht zu. War sie nicht einverstanden mit Antjes Beruf? Dann hätte sie es doch sagen können, damals, als es noch Zeit war. Jetzt wollte Antje sich die Befriedigung in ihrer Arbeit nicht mehr stören lassen durch eine zwecklose Aussprache über das, was Maria augenscheinlich nicht gut daran hieß.

Hätte Antje ihre Schwägerin weniger geliebt und weniger durchschaut, so hätte dies Beisammensein eine Abkühlung in ihrem gegenseitigen Verhältnisse bewirken können. Denn es gab da etwas Unausgesprochenes, Trennendes. Aber weil sie Maria liebte aus einer tiefen Harmonie der Seele heraus, weil sie den Mangel ihres Lebens längst erkannt hatte mit heißem Mitgefühl, weil sie als eine Terhalden sich verantwortlich fühlte für diesen Mangel – darum steigerte sich ihre Liebe in diesen Wochen zur Schmerzhaftigkeit. Sie hätte in Marias scheue, verschlossene Seele hereinbrechen mögen mit der ganzen Kraft dieser Liebe – vertraue mir, sprich dich aus zu mir, laß mich dir tragen helfen. Aber Marias Sein und Wesen war wie eine Knospe, die absterben muß, wenn man sie gewaltsam erschließen will.

Antje hatte das dumpfe Gefühl, daß einmal irgend eine schicksalsschwere Stunde ihr diese dunkle, unbekannte Seele öffnen werde.

Sie verließ diesmal gern den Köbinghof. Sie wunderte sich darüber, aber es war so. Es hatte die ganze Zeit ein Druck auf ihr gelegen, den sie nicht abschütteln konnte. Es war kein Glück, kein Frohsinn in diesem Hause. Eine Wolke stand zwischen dem Leben und der Sonne. Und diese Wolke hieß Arne Terhalden.

Nur ein Strahl hatte die Kraft, diese Wolke zu durchbrechen und in Marias umschattetes Dasein zu leuchten – ein heller Strahl, der sich in Tränen spiegelte. Das war der kleine Alf.

Gott erhalte ihr das Kind, betete Antje aus inbrünstigem Herzen.

Sie reiste gern ab, denn sie kehrte gern auf die Thorenburg zurück. Sie freute sich auf die Arbeit, auf ihr kleines, schmuckes Heim, auf die dicke, behagliche Dorette, auf die Hunde, auf die Hühner. Sie atmete tief, sehnsüchtig, als die frische seesalzschwere Luft ihr über die tiefe Ebene entgegenstrich, wie ein ehrlicher, kräftiger Willkommengruß. –

Als sie über ihre Schwelle trat, war ihr, als käme sie nach Hause.

Trotzdem konnte sie den unbehaglichen Druck nicht ganz loswerden. Er stellte sich allemal ein, wenn sie an den Köbinghof dachte.

Marias Schicksal ging ihr nah, und in ihrem Herzen setzte sich ein ungeduldiger Groll gegen den Bruder fest.

Am ersten Morgen hatte sie die gewohnte frühe Tagesbesprechung mit ihrem Prinzipal. Rütjer Thoren begrüßte sie mit der ihm eigenen, persönlichen Freundlichkeit, die er für den geringsten Knecht, für jedes Tier im Stalle hatte. Er fragte, wie es ihr ergangen sei, und sah sie dabei an, als müsse er irgend etwas an ihr entdecken – etwas, das an ihr haften geblieben wäre von der Umgebung, aus der sie kam.

»Danke gut,« sagte Antje, ohne den Blick zu heben. Dann kam das Geschäftliche an die Reihe.

Als Rütjer Thoren gegangen war, sah Antje ihm sinnend nach. Seine Art tat ihr gut, sie fühlte sich sicher und wohl dabei. Arnes Art war ihr in diesen Wochen beständig auf die Nerven gefallen.

Sie verglich, empfand den Unterschied und wußte doch nicht, wo er lag.

Sie waren beide Arbeitsmenschen, beide ernst bis zur Strenge. Sie sprachen beide nicht viel.

Und doch war gerade in der Sprache ein Unterschied. Arnes Stimme war wie Schläge auf Holz; kurz, hart, klanglos. Wenn Rütjer Thoren sprach, so tönte eine Glocke. – Auch im Gang war ein Unterschied. Sie sah ihm eben nach, wie er über den Hof ging. Sein Schritt war elastisch, ruhig, weitausholend; er trug den Mann, wie die Woge das Schiff. Arne trat hart und gewaltsam auf, mit kurzen, hastigen Schritten, und hielt sich steif und unnachgiebig dabei. Aber diese Aeußerlichkeiten konnten es doch nicht sein.

Antje verglich in Gedanken alle die Menschen, die sie kannte. Jörg Venningen in seiner behaglichen Art, Axel Bergen in seiner liebenswürdigen, weltmännischen Gewandtheit; Arne mit seiner unerschütterlichen Selbstzufriedenheit; Rütjer Thoren in seiner ernsten Güte wie ein Riegel vor seinem heißblütigen Temperament.

Sie anerkannte jeden in seiner Eigenart – sogar Arne, obschon ihr das in ihrer jetzigen Stimmung gegen ihn schwer wurde. Jörg vertraute sie, mit Axel plauderte sie gern; auf Arne konnte sie sich wahrscheinlich fest verlassen, wenn sie nicht eine gewisse Furcht vor ihm empfände. Der Graf Thoren war ihr sogar ein Ideal fester, gütiger Männlichkeit.

Aber der Mann, den sie hätte lieben können oder heiraten mögen, war nicht darunter. Der mußte anders sein, anders sogar wie Rütjer Thoren, dessen freien Adlerflug das Gewicht einer schweren Vergangenheit hemmte. Daß er diese Vergangenheit nicht abschütteln konnte oder wollte, erschien ihr eine unverzeihliche Schwäche.

Der Mann darf sich nicht von einem Weibe das Leben verderben lassen. Er soll ihr Herr sein, nicht sein ganzes Schicksal aus ihrer Hand nehmen. Beim Weibe ist das anders; die ist abhängig vom Manne in den urinnersten Momenten ihres Lebens. Wenn ein Mann seinem Weibe das Leben verdirbt, so ist sie wehrlos; kann wohl innerlich frei werden, wenn sie genug Seelengröße besitzt, bleibt aber äußerlich gebunden, so lange sie die sittliche Weltordnung achtet. Darum ist ein Mann, der sein Weib knechtet, viel schlimmer, als eine Frau, die ihrem Manne wegläuft. –

So dachte Antje, und dabei spitzten sich ihre Gedanken unmerklich wieder auf Maria zu.

»Sie sind verändert, Fräulein Terhalden,« sagte eines Morgens Rütjer Thoren zu Antje. »Sie sehen aus wie jemand, der sich mit schweren Gedanken trägt.«

Es war nicht seine Art, im Verkehr mit ihr persönlich zu werden. Sie hatte das angenehm empfunden. Diese Frage geradezu in sie hinein verdroß sie, machte sie verlegen und ihr Gefühl sträubte sich gegen ihn.

»Haben Sie Kummer? Haben Sie –« seine Stimme stockte einen Augenblick – »trübe Erlebnisse gehabt während Ihres Urlaubs?«

Irgend etwas griff ihr ans Herz, an die wunde Stelle, die sie da jetzt heimlich trug. Sie sah plötzlich Maria vor sich, in all ihrer trüben Einsamkeit. Wie dankbar würde die sein, wenn jemand – wenn Arne sich so um ihre Herzensangelegenheiten kümmerte!

Das war auch so eine, die sich mit einem schweren Leid durchs Leben schwieg.

Sie wußte nicht, was ihr schließlich wider Willen die Lippen öffnete.

»Erlebnisse – nein; das gerade nicht. Ich habe nur mitangesehen, daß jemand ein – schweres Leben hat.«

»Wer –« eine mühsam verhaltene Ungeduld durchzitterte die fragende Stimme. Sie merkte es nicht.

»Meine Schwägerin,« sagte sie bedrückt.

Stille folgte den Worten.

Er denkt schon an ganz anderes – er hat ja nur aus Höflichkeit gefragt, dachte Antje, gab sich einen Ruck, alles abzuschütteln, und sah auf.

Rütjer Thoren sah zum Fenster hinaus; die grelle Beleuchtung machte sein Gesicht wohl so blaß und scharf, und daß es in seinen Augen funkelte und zuckte, kam wohl nur daher, daß die Sonne gerade hineinschien. Plötzlich machte er eine Wendung und kehrte dem Licht den Rücken.

»Warum hat sie denn ein schweres Leben?« fragte er vollkommen ruhig.

Antjes mitteilsame Regung war verflossen.

»Ach – Herr Graf – das kann Sie ja nicht interessieren; und helfen können Sie ihr erst recht nicht.«

»Nein – helfen kann ich ihr nicht und ich begreife, daß Sie nicht indiskret sein wollen. Es war nur eine unwillkürliche Teilnahme, wie sie uns überfällt Menschen gegenüber, die wir einmal gekannt haben. Ihre Schwägerin war ein sehr anmutiges Geschöpf, für ein zartes, helles Glück geschaffen. Es tut mir leid, zu hören, daß sie es nicht gefunden hat.«

Antje hätte gern mit ihm von Maria gesprochen; hätte sie gewußt, wie viel er von ihr kannte, wie sie damals gewesen sei. Aber sie traute sich nicht.

Und Rütjer Thoren wartete auf eine Frage, ein Wort von ihr – aber es kam keins. Er sah ein, daß er nicht länger so abwartend hier stehen bleiben könne.

»Ich möchte Ihnen nur noch sagen: wenn Sie denken, daß Sie zu Hause irgend etwas nutzen können – wenn man Sie aus irgend einem Grunde dort brauchen sollte – Sie können jeden Augenblick reisen.«

Antje lächelte, halb dankbar, halb schmerzlich.

»Maria braucht mich nicht. Sie würde sich nur wundern. Es muß jeder allein fertig werden mit sich selbst.«

»Da haben Sie recht. Und wer es gekonnt hat – der ist nicht mehr zu bedauern, sondern zu beneiden.«

Er ging. Zum ersten Male – aus Zerstreutheit – an die unrechte Tür, die nicht auf den Flur, sondern in einen unbenutzten Nebenraum führte. Als er sein Versehen bemerkte, machte er einen gezwungenen Scherz.

Ich möchte wissen, dachte Antje, ob ihm das mit Maria so nahe gegangen ist. Ich habe ihn noch niemals zerstreut gesehen.

Hille schrieb an Antje und lud sie ein, sich mit ihnen in Hamburg zu amüsieren. Sie sei mit Axel für einige Tage da – der Abwechslung und des Vergnügens halber; und wenn Antje abkommen könne, so möchte sie mittun.

Antje hatte keine große Lust, aber sie mochte auch nicht absagen, gerade weil es Hille war, die so leicht etwas übelnahm. So fuhr sie über Sonntag hin. Den erbetenen Urlaub bekam sie bereitwilligst.

Sie wurde mit lautem Hallo auf dem Bahnhof empfangen und sofort in ein elegantes Restaurant am Wasser geschleppt.

»Den Reisestaub kannst du dir nachher abspülen,« wehrte Axel ihre Einwendungen munter ab. »Bei Nacht sind alle Mädchen schön.«

»Alle Katzen grau,« verbesserte Antje, auf seinen Ton eingehend.

Das Rasseln des Wagens auf dem Pflaster machte vor der Hand jede vernünftige Unterhaltung unmöglich. Antje ließ in wohliger Erschlaffung das bunte, lichtbewegte Straßenbild an sich vorüberziehen. Zur Linken zerfloß das Licht in welligen Streifen und zuckenden Ringeln auf der dunklen, leise atmenden, seidig schimmernden Wasserflut. Axel erklärte, und Hille gähnte.

Als sie in blendender Helle, in betäubendem Geschwirre von Menschen und Stimmen am Tische saßen und das Essen bestellt war, lehnte sich Axel behaglich im Stuhl zurück und sagte:

»So Antje, nun erzähle, wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«

Hille musterte die Schwester mit einer gewissen Neugier.

»Du siehst ja noch recht anständig aus; gar nicht wie eine verstäubte Schreiberseele!« sagte sie.

Antje sah in der Tat auffallend frisch, hübsch und vornehm aus.

»Davor hast du dich wohl recht gefürchtet, arme Hille!« neckte sie.

»Ein bißchen ja. Die Beschäftigung drückt dem Menschen so leicht ihren Stempel auf. Und die deinige ist recht wenig standesgemäß. Na – lassen wir das. Mit der Zeit wirst du es wohl von selber satt haben. – Hat er sich nun schon gründlich in dich verliebt oder du dich in ihn?«

»Wer –« entfuhr es Antje. Sie war im ersten Augenblick begriffsstutzig.

»Nun – dein Graf natürlich. Wer sonst? Hast du Auswahl?«

Antjes Gesicht überflammte eine dunkle Röte.

»Ich will dir sagen, Hille, er ist viel zu vornehm, um zum Gegenstand solcher Witze gemacht zu werden.«

Hille ärgerte sich über die Zurechtweisung.

»Natürlich – Antje nimmt immer gleich alles tragisch; das hätte ich wissen können.«

Antje antwortete nicht mehr, und die Verstimmung war da. Axel erhielt auf seine einlenkenden, objektiven Fragen nur einsilbige Antworten. Er ärgerte sich über die Taktlosigkeit seiner Frau und war um so liebenswürdiger gegen seine Schwägerin. Das ärgerte Hille noch mehr.

»Irgend etwas wirst du doch über ihn sagen können,« beharrte sie mit eigensinniger Hartnäckigkeit. »Oder ist er so vornehm, daß man überhaupt nicht von ihm sprechen kann?«

Antje hielt es für besser, einzulenken. Sie war ja nicht hergekommen, um sich zu zanken. –

»Er ist ein Mann, den das Schicksal gezeichnet hat,« sagte sie in ihrer schweren, gründlichen Art. »Ich sehe ihn wenig. Aber ich habe es gut unter ihm. Er ist gerecht und gütig gegen alle seine Untergebenen, und ich habe eine große Verehrung für ihn.« –

Anfangs wurde es ihr schwer, zu sprechen. Zuletzt klang eine freimütige, unbefangene Wärme aus ihren Worten.

Also alles in Ordnung – dachte Axel, fühlbar erleichtert. Er hatte selbst zu viel erlebt, als daß er seine Schwägerin ohne Sorge hätte ihr Amt antreten lassen.

Hille dachte dasselbe – mit einer kleinen Enttäuschung. Anders wäre es interessanter gewesen.

Nachdem diese Sache hiermit erledigt war, wurde es gemütlicher. Das heißt, was man bei Axel und Hille Gemütlichkeit nennen konnte.

Das fortwährende Geplänkel der Eheleute, das jeden Augenblick in einen ernsthaften Zank auszubrechen drohte, machte Antje nervös. Die verfänglichen, für einen Dritten meist unverständlichen Anspielungen, die hin und her flogen und in denen sie sich zu gefallen schienen, verletzten die ernste, zartfühlende Mädchenseele. Sie wurde oft verlegen und mußte sich auslachen lassen. Sie war noch öfter verständnislos und wurde erst recht ausgelacht.

Sind die beiden nervös oder sind sie nur aufgeregt? dachte Antje, als sie sich später todmüde und in wenig behaglicher Stimmung im Bette streckte. Haben sie mich herbestellt, um mir ein Vergnügen zu machen oder weil sie einen Dritten zwischen sich haben wollten?

Was mache ich mir für dumme Gedanken, schalt sie sich selber. Axel und Hille können gar nicht anders sein. Das war immer so und wird immer so bleiben. Darum, weil sie so sind, können sie auch andere Menschen nicht begreifen.

Und mit den »andern Menschen« meinte sie Maria Terhalden und Rütjer Thoren. Diese beiden standen plötzlich in ihren wirren Gedanken beieinander, ein gut Stück über der sonstigen Menschheit erhaben, in einer stillen, vornehmen, verehrungswürdigen Größe. Wenn das Schicksal die beiden zusammengebracht hätte – sie hätten ein Evangelium der Ehe werden können für alle, die unter dem Gesetz gebunden seufzten.

So tastete sie sich immer an der Wahrheit vorbei, weil sie nicht den frevlerischen Mut hatte, ihr ins Auge zu sehen.

Mit sich jagenden Unternehmungen, in einer Hetze nach Genuß und Vergnügen, doch ohne die rechte Ruhe darin, die beiden erst zum Zweck verhilft, verging der Sonntag. Antje schwirrte der Kopf, von allem, was sie sah und tat, von Hilles unaufhörlichem Schwatzen. Es lag etwas Verwirrendes und Aufregendes in diesem Springen und Hüpfen von einem Gegenstand zum andern, in diesem witzelnden Abtun der ernstesten Dinge, in dieser Wichtignahme der lächerlichsten Kleinigkeiten.

»Man hat seine liebe Not mit ihr,« sagte Axel in komischer Verzweiflung. Und wieder wußte Antje nicht, was nun das echte war: die Komik oder die Verzweiflung.

»Wohin gehst du zu Weihnachten?« fragte Hille.

»Ich weiß noch nicht. Ich denke, zu Maren, da ich eben bei Maria war.«

»Ich würde auf alle Fälle lieber zu Maren gehen. Auf dem Köbinghof herrscht eine Stickluft, die einem das Lachen und den Atem benimmt.«

Antjes Kopf flog herum wie gestoßen.

»Warum –?«

»Warum? – Weil Arne ein unausstehlicher Tyrann ist und Maria herumgeht wie eine blasse Märtyrerin.«

Lieber Himmel, dachte Antje, was hat Hille für eine Dreistigkeit, die Dinge erbarmungslos beim Namen zu nennen.

»Findest du das etwa nicht?« forderte Hille heraus.

Antje schwieg. Axel sagte beschwichtigend:

»Du siehst zu schwarz, Hille. Arne hat den Kopf voll und Maria ist glücklich mit ihren Kindern.«

»Ach bewahre,« sagte Hille. »Sie haben sich gründlich ineinander geirrt und sind beide zu vortrefflich, um ihren Irrtum einzugestehen. Ich möchte auch nicht Marias Mann sein.«

»Möchtest du Arnes Frau sein?« fragte Antje scharf dazwischen.

»Um keinen Preis der Welt. Aber besser wie Maria wäre ich doch noch mit ihm ausgekommen. Ich hätte ihn mir anders erzogen.«

»Sei froh, daß du nicht vor diese Aufgabe gestellt worden bist.«

»Bin ich auch!« lachte Hille. Dann nahm ein Hut ihre ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch.

Hinter ihrem Rücken sagte Axel leise zu Antje:

»Ich bewundere Maria; es gibt wenig Frauen wie sie.«

Er sagte es, weil es seine ehrliche Meinung war; weil er Hilles hartes Urteil mildern wollte; weil er wußte, daß er Antje eine Freude damit machte.

Hinter Hilles Rücken drückte Antje ihm schweigend und heftig die Hand.

Da begab sich das Merkwürdige, daß Axel sich die Augen wischte.

Antje sah ihn groß an. Er wandte sich um und trat zu seiner Frau.

Vollkommen zerschlagen von allen äußeren und inneren Eindrücken trat Antje am Abend die Heimreise an. Sie war solchem Einstürmen auf ihr Auffassungsvermögen nicht gewachsen. Sie war zu schwer, zu gründlich, es ging ihr alles zu tief, saß zu fest. Wenn es in solcher atemlosen Reihenfolge kam, überpurzelte sich alles, und sie stand einem wüsten Chaos gegenüber.

Es war gegen Mitternacht, als sie sich der Thorenburg näherte. Die Sterne blinkerten am kalten Novemberhimmel, ein knisternder Frosthauch lag über dem feuchten Boden. Alles so still – so weit – so unendlich. Ihr war den ganzen Tag so unruhig und so eng zumut gewesen – eingeschnürt von lauter Kleinigkeiten, befangen tappenden Unsicherheiten.

Hier wurde sie wieder sie selbst, schüttelte alles Fremde von sich ab. Was hat man von der ganzen übrigen Welt, wenn man sich selbst verliert? Sich selbst festhalten, das ist die Hauptsache. Und es ist Pflicht, zu tun, was zu solchem Festhalten nötig ist, auch wenn andere es nicht verstehen, es belächeln oder verdammen.

Nur, wer sehr stark und sehr frei ist, kann unter allen, auch den widrigsten Umständen, sich selbst festhalten. Wer aber nicht so stark und so frei ist, der soll sich einen Winkel aussuchen, wo niemand ihn stört.

Nein, dachte Antje, lieber stehe ich unter der Wolke in Arnes Haus, wie in der Faschingshetze, die Hilles Leben ausmacht.

Unter solchen Gedanken kam sie nach der Thorenburg zurück.

Das war ihr Winkel.

Fräulein Dorette war noch auf und empfing sie mit einem heißen Tee.

»Du meine Güte, wie sehen Sie aus, Fräulein Terhalden!« rief sie und leuchtete ihr mit der Lampe ins Gesicht. »Sind Sie krank?«

»Nein,« lachte Antje, wieder völlig im Gleichgewicht ihrer klaren Stimmung. »Ich habe mich nur zu viel amüsiert.«

»Na – dann hat's keine Not, das geht bald vorüber. Das ist besser, wie das Gegenteil.« –


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