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XVII.

Es kam etwas.

Arne Terhalden legte sich an einer schweren Lungenentzündung.

Am Sonntag war er stundenlang auf den durchweichten Feldern herumgelaufen, auf denen die spärlichen Garben zerzaust durcheinanderlagen, mit grauer Leichenfarbe überzogen; stundenlang in stechender Sonnenglut, mit der unausgesprochenen Sorge, der stummen Verzweiflung, dem aufbegehrenden Trotz im Herzen. Heiß von Sonne und Erregung, hatte er das heraufziehende Gewitter nicht bemerkt oder nicht geachtet. Ein kalter Wassersturz hatte seine Kleidung durchnäßt, sich wie eisige Umarmung auf die erhitzte Haut gelegt, daß das Blut erschreckt zurückwich und ihm die Glieder schwer wurden am Leibe, wie von einer tödlichen Lähmung.

Klappernd vor Frost hatte er sich nach Hause geschleppt. Er wurde nicht wieder warm, trotzdem die Sonne nach kurzer Zeit von neuem stach und brannte.

Am andern Morgen war die Krankheit da.

Arne war eigentlich noch nie im Leben krank gewesen. Alle seine Organe waren von einer robusten Kraft und Gesundheit. Darum, als es ihn traf, packte es ihn mit verdoppelter Stärke. Der Kampf ist um so heißer, je tüchtiger der Gegner ist. Darum, als es ihn traf, zweifelte niemand daran, daß er es überwinden würde.

Arne war ein sehr schwieriger Kranker. Er nahm es vom ersten Tage an sehr tragisch; sein Zustand verschlimmerte sich noch in seiner Auffassung. Er war körperliche Leiden nicht gewöhnt; darum ängstigten sie ihn, machten ihn ungeduldig. Er war reizbar und anspruchsvoll. Niemand konnte es ihm recht machen. Die sorgfältigst zubereitete Krankenkost schmeckte ihm nicht, jeder Zuspruch reizte ihn, jeden gut gemeinten Ratschlag wies er mürrisch zurück.

Auch Maria konnte ihm nichts recht machen. Trotzdem duldete er keinen andern an seinem Krankenbette als sie. Nacht für Nacht verwachte sie an seinem Lager. Er dachte nicht daran, daß sie ihm all ihren Schlaf opferte, daß sie das auf die Dauer selbst krank machen mußte. Er hatte nie an andre denken gelernt.

Maren bot sich an, zu helfen. Er wollte sie nicht haben.

»Es ist mir peinlich und ungemütlich,« sagte er.

Maren fand, daß man darauf keine Rücksicht nehmen müsse.

»Kranke muß man behandeln wie kleine Kinder. Man darf ihnen nicht allen Willen tun.«

»Man darf sie aber auch nicht aufregen,« sagte Maria. »Laß nur, ich halte es schon allein durch. Es freut mich ja so, daß er nur mich haben will.«

Maren fuhr wieder ab, unverrichteter Sache; kopfschüttelnd.

»Da werde einer draus klug,« sagte sie zu Jörg. »Ich habe manchmal gemeint, sie mache sich nichts aus ihm. Nun tut sie wie eine Verliebte.«

»Sie ist pflichttreu; und sie ist gut. Der Kern der Pflichten ist die Güte.«

Maren sah ihren Jörg erstaunt an. So weise Worte hatte sie noch nie aus seinem Munde gehört.

Komisch – wenn die Menschen mit Maria zusammenkamen, brachten sie immer so etwas Weises, Philosophisches mit sich.

Jörg Venningen war jetzt öfter auf dem Köbinghof. Maria hatte ihn gebeten, sich der Ernte anzunehmen. Arne war außerstande, Anordnungen zu treffen. Auch wenn er nicht zu krank dazu gewesen wäre, mußte ihm das alles jetzt ferngehalten werden. Maria hielt aber den Beamten für unfähig, allein zu wirtschaften. Sie selbst hatte keine Zeit, hatte jetzt höhere Pflichten.

Darum bat sie Jörg. Er war gefällig; und es war Not am Mann.

Jörg war allemal ernst, fast mißmutig, wenn er nach solchen Inspizierungsbesuchen ins Haus kam, nach Arne fragte und bei Maria eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein trank.

»Den Roggen könnt ihr gleich auf den Mist fahren. Mit dem Weizen wird es wohl nicht anders werden. Ich weiß nicht – es hat doch überall geregnet; aber so wenig wie hier ist nirgends geborgen.«

Und ein andermal:

»Die Gerste ist ja viel zu früh geschnitten. Ich kam leider einen Tag zu spät. Die würde beim idealsten Erntewetter nicht trocken und reif im Korn. Wer mäht denn überhaupt bei solchem Sauwetter, wenn es nicht die allerhöchste Zeit ist! Aber der Trottel, der Aufseher, sagt: er habe nicht gewußt, womit er die Leute beschäftigen sollte; sie bekämen ohnehin so hohe Tagegelder.«

Und endlich einmal platzte er los:

»Das ist überhaupt eine ganz infame Lotterwirtschaft hier. Ich begreife Arne nicht –«

Maria sah ihn so entsetzt, so verstört an, daß er sich Zwang auferlegte.

»Jeder tut, was ihm paßt,« brummte er. »Die Kerle sind aufsässig und die Weiber sind faul. Arne hat doch sonst eine strenge Faust!«

Maria schwieg. Jörg stürzte ein Glas kalten Mosel hinunter; der Schweiß perlte ihm auf der Stirn.

»Und überhaupt – das Vieh. All diese empfindlichen edlen Sorten passen ja gar nicht in unsere schwere Niederung, in unser Klima. Da wird man ja die Krankheiten und die Verluste gar nicht los. Und was geleistet werden soll, kann eben nicht geleistet werden. Solch Vieh verträgt ja hier nicht einmal das landesübliche Futter.«

Maria hielt sich den Kopf mit beiden Händen.

»Hör doch auf Jörg, ich bitte dich!«

Er sah sie mit gutmütigem Bedauern an.

»Nun ja – ich habe ja auch das größte Mitleid mit dir!«

»Hab doch lieber Mitleid mit Arne!«

»Mit Arne?«

»Ja; er hat das alles doch nicht aus Absicht oder aus Faulheit verkehrt angefangen –«

»Natürlich nicht; aber er mußte mit der Zeit doch einsehen, daß es verkehrt war. Und dann konnte er andre Leute um Rat fragen; aber dazu war er natürlich zu eigensinnig –«

»Er leidet entsetzlich darunter, seit er es eingesehen hat,« sagte Maria mit zitternden Lippen. »Glaube es mir. Ich weiß es.«

»Um so weniger ist sein Eigensinn zu begreifen.«

»Mach ihm jetzt keine Vorwürfe –«

»Er hört es ja nicht.«

»Aber ich höre es. Und es tut mir weh – jetzt. Arne ist sehr krank. Er wird vielleicht – nicht – wieder – gesund – werden –«

Jörg setzte das Glas, das er in unstillbarem Durst wieder an die Lippen geführt hatte, schwer auf den Tisch.

»Ist das wahr, Maria?«

»Ja. Heute morgen hat mich der Arzt darauf vorbereitet.«

Dann allerdings ja, dann war es roh gewesen, so zu ihr zu sprechen. Dann mußte es sie verletzen. Oder es konnte sie kaum interessieren. –

Wieder einmal saß Maria allein in der heiligen Stille eines Krankenzimmers. Die Nähe des Großen, Letzten hatte nichts Furchtbares mehr für sie. Die Erlebnisse der letzten Jahre hatten sie vertraut gemacht mit diesen fremdesten, geheimnisvollsten Dingen des Menschenlebens. Aber man steht dem Tode jedesmal wieder anders gegenüber. Jedesmal greift er in andre Tiefen unsres Seins; jedesmal rührt er andre Saiten in dem Instrument unsrer Seele.

An Antjes Krankenlager hatte Maria geweint und gebetet. Am Totenbett des kleinen Alf war sie kraftlos zusammengebrochen. In den Stunden, wo Arne mit dem Tode rang, ging sie mit sich selber ins Gericht. Ein letztes Mal. Es war wie ein Sichbloßstellen vor dem eignen Gewissen, wie eine Beichte vor Gott, wie eine Abrechnung mit ihrem Leben, mit diesem Manne, dem ihr Leben vierzehn Jahre lang geweiht gewesen war in Selbstaufopferung, Pflichterfüllung, schweren stillen Kämpfen. –

Maria legte einsam in stiller Nacht die Stirn auf die gefalteten Hände.

»Gott, ich danke dir, daß du mich bewahrt hast in der Stunde der Versuchung; daß ich ihm mit reinen Händen seine brechenden Augen schließen kann; daß ich nicht mein Glück gesucht habe auf Kosten meiner Pflicht; daß ich nicht von diesem Lager zurückweichen muß mit dem Kainszeichen auf der Stirn, mit dem Stachel im Gewissen, rastlos und friedlos auf dem weiteren Wege durch das Leben, das du mir noch vorbehalten hast. Gott, ich danke dir, daß du mich bewahrt hast in der Stunde der Versuchung!«

Und doch waren diese Tage an Arnes Krankenbett die potenzierte Qual ihres Lebens.

Da lag nun der Mann, der sie auf seine Art geliebt, mit dem sie all diese Jahre geteilt, dem sie sich selbst und alles hingegeben hatte bis zur Ausschöpfung ihrer Kraft, – und hatte ihr nichts zu sagen. Er war bei vollem Bewußtsein. Er wußte, wie es um ihn stand. Er selbst hatte es dem Arzt abgefragt, in seiner diktatorischen Art, vor der es kein Ausweichen gab. Er sah, wie Maria unermüdlich, still, zart und gütig um ihn war Tag und Nacht. Mit der allergrößten Liebe hätte ein Weib ihren Mann nicht besser pflegen können. Er nahm es hin, wie er alles im Leben von ihr hingenommen hatte; ohne Dankeswort, ohne Dankesblick, wie etwas Selbstverständliches, das ihm gebührte, das sie zu tun schuldig war.

Er wußte, daß vieles, das Höchste und Beste, unausgesprochen geblieben war im Leben. Er wußte, wenn er nun sterben mußte, würde er sie zurück lassen mit schweren Sorgen, mit einem ganzen Berg von Lasten und Unzuträglichkeiten, den er aufgehäuft hatte. Aber mit keinem Wort rührte er weder an das Vergangene noch an das Zukünftige.

Marias Umihnsein war ein beständiges Horchen ihrer Seele auf einen Laut, der ihr verraten könnte, daß er sich nach einer Aussprache sehne. Es kam nichts dergleichen. Sie wagte nicht, davon anzufangen. Einen Kranken soll man nicht erregen. Sie hatte oft genug die Zwecklosigkeit solcher Aufregungen eingesehen. Sie wollte nicht einen bittren Tropfen in die Erlebnisse dieser Tage mischen, die die letzten sein konnten.

Wenn Maria täglich erbarmungswürdiger aussah, täglich mehr einem Schatten gleich ihre Krankenpflegedienste verrichtete, wenn ihre Augen täglich größer wurden und täglich tiefer, dunkler, wie von einem zehrenden Fieber durchglüht, so lag das nicht an den körperlichen Anstrengungen, die viel zu groß waren für ihren zarten Leib, sondern das lag vielmehr an der Not ihrer Seele, die ihre tiefsten Schmerzen litt im zusammengedrängten Erleben des Mangels, den sie all diese Jahre erlitten, der nie gestillten Sehnsucht, der nie erfüllten Wünsche; im zusammengedrängten Erleben ihres Lebens, das wie eine Unnatur auf ihr gelastet, wie ein Gewicht an ihr gehangen, wie eine Kette all ihr bestes gefesselt und gelähmt hatte.

Sie sah, wie es abwärts mit ihm ging. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß dieser Mund sich für ewig schließen würde, ohne sich ein einzigesmal für sie geöffnet zu haben. Es war ja doch nicht möglich.

»Arne,« sagte sie, beugte sich über ihn und sah ihm angstgeschärft in das vom Fieber verzehrte Gesicht, »hast du nicht irgend einen Wunsch, Arne?«

Er sah sie an, als wisse er nicht recht, was sie meinte.

»Ich habe ja alles. – Nein – doch – ich möchte den Pfarrer haben.«

Sie richtete sich auf. Gewiß, er sollte ihn haben; gleich. – Es mußte alles ordnungsgemäß zugehen in seinem äußern Dasein – bis zuletzt.

Sie schickte zum Pfarrer.

Sie ließ auch das noch über sich ergehen.

Sie ging leer aus dabei. Aber Gott würde es ihr ja nicht als Sünde anrechnen. Sie hatte ja immer mit ihm das Abendmahl gefeiert, und immer allein. –

Am andern Morgen war Arne Terhalden tot.

Draußen ging ein schweres Gewitter nieder; der Regen strömte, rauschte, rieselte und klatschte. Maria hörte es nicht.

Auf dem Hofe stockte alle Arbeit. Es kam ohnehin gar nicht mehr darauf an, daß noch irgend etwas getan wurde, solange dies Wetter anhielt.

Maria Terhalden ging aus ihres Ehemannes Sterbezimmer hervor mit der Hoheit eines Schmerzes, der nicht Schmerz um verlorenes Liebesglück war; mit einer Festigkeit und Ruhe, die wie ein Grabstein auf ihrer Seele lag.

Alle, die sie sahen, mit denen sie zu tun hatte in diesen Tagen, wunderten sich über sie. Sie war wie versteinert in Schmerz, und ließ doch all den vielen an sie herantretenden Anforderungen volle Gerechtigkeit widerfahren. Sie selber dachte an alles, bestimmte alles, sorgte für alles. Mit ihrem erschöpften Körper und ihrer ermüdeten Seele leistete sie Unbegreifliches. Sie empfing Besuche, die Geschwister, einige auswärtige Verwandte, die zum Begräbnis kamen; sie beantwortete alle Fragen, berichtete immer wieder mit derselben Ruhe und Geduld über all das, was in den letzten Tagen gewesen war. Sich und ihre Gefühle dabei erwähnte sie mit keinem Wort. Sie war trotz aller Güte und Freundlichkeit unnahbar.

»Sie kann nicht darüber reden, ihr Schmerz ist zu groß, sie kann ja nicht einmal weinen,« sagten die Leute.

Ja, ihr Schmerz war groß; aber doch so anders, als die Leute dachten.

Die Geschwister wunderten sich über sie, wurden nicht klug aus ihr.

»Sie hat ihn am Ende doch mehr geliebt, als wir dachten,« sagte Maren.

»Es ist bei ihr eben alles anders wie bei andern Menschen.«

»Sie posiert als unglückliche Witwe, als schwergeprüfte Frau,« sagte Hille, die sogar gegen die, die sie eigentlich liebte, gewisse Erbarmungslosigkeiten hatte. »Sie sollte doch ruhig zugeben, daß das Leben nun um vieles leichter für sie werden wird; denn sie hat es doch mit ihm recht schwer gehabt.«

Während so hin und her über sie gesprochen wurde, war sie drinnen bei Arne. Der Sarg sollte geschlossen werden. Draußen warteten die Leute. Aber sie hatte noch einmal mit ihm allein sein wollen.

Einmal. Ein letztes Mal.

Arne Terhaldens Gesicht hatte sich im Tode veredelt und vergeistigt. Aber der Zug unerbittlicher Härte, den es im Leben gehabt, den hatte selbst die Hand des Todes nicht wegwischen können. Im Tode fällt aller Schein, alle Lüge, alles Unwesentliche ab vom Menschen; aber was den eigentlichen Kern seines Wesens ausmachte, das bleibt. Die Seele, die im Leben oft nur durch Schleier und Zwang aus dem Körper spricht, drückt ihm im Augenblick des Scheidens das Siegel der Wahrheit auf.

Maria stand und betrachtete das stille, stumme Gesicht. Und dabei schlichen ihr die Tränen über die schmalen, blassen Wangen. Merkwürdige Tränen, heilige Tränen.

Wenn ich dich doch hätte lieben können! dachte Maria Terhalden. Wenn ich doch jetzt um dich trauern könnte, wie andre Frauen um ihre Männer trauern! Wenn ich dir doch hätte helfen, dich hätte glücklicher machen können! Hätte ich es gekonnt, – wenn ich dich geliebt hätte? Vielleicht. Und dieses Vielleicht – dieser Mangel an Liebe – den werde ich als ungetilgte Schuld durch mein Leben schleppen. Denn die größte Pflichttreue kann diesen Mangel nicht ersetzen. Daß ich dich nicht liebte, nicht das ist meine Schuld. Aber daß ich ohne Liebe dein Weib wurde – das ist die Schuld, von der mich niemand lösen kann, ob ich sie gleich in unwissendem Irrtum beging. Die Folgen bleiben dieselben für mich. –

Dann neigte sie sich über ihn, und küßte seine kalten Hände. »Nun schenke dir Gott die ewige Ruhe –«

Und dann kniete sie neben ihn hin, legte die Stirn auf die gefalteten Finger, und so auf den harten Rand des Sarges gebeugt, blieb sie, als sei das Leben von ihr gewichen, lange.

Bis es an die Tür klopfte. Da stand sie auf und öffnete und ließ die Leute zu ihrer traurigen Arbeit antreten.


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