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XIII.

Am nächsten Tage kam Antje.

Arne empfing sie und nahm sie gleich ganz in Beschlag. Das war so ungewohnt bei ihm, und seine Art, ihre Zeit sofort für sich zu beanspruchen, hatte soviel Absichtliches, daß Antje mißtrauisch wurde.

»Wo ist denn Maria?«

Sie hatte das Kommen des Wagens überhört oder sich in der Zeit geirrt. Sie kam eilig von draußen herzugelaufen.

Lieber Gott – wie sah sie elend und abgehärmt aus!

Antje stiegen die Tränen in die Augen.

Ja, ich bin nötig hier, dachte sie. Aber nicht für Arne – sondern für Maria.

Sie umarmte sie mit heftiger Innigkeit und flüsterte ihr Zärtlichkeiten und sinnlose Liebesworte ins Ohr.

Maria entwand sich leise ihren Armen. Sie mochte so etwas nicht in Arnes Gegenwart; der spottete ja nur darüber.

»Da ist noch jemand,« sagte sie, sich nach Harald umsehend, der ihr langsam gefolgt war und nun neben ihr stand. »Mein Bruder, du wußtest wohl, daß du ihn hier finden würdest –«

Antje war fürchterlich zerstreut den ganzen Tag. Und je mehr sie sich darüber ärgerte, desto schlimmer wurde es. Irgend etwas beunruhigte sie; etwas, das sie nicht kannte, das ihr alle Sicherheit nahm und sie unfrei machte.

Es ist nur der Mangel jeglicher Harmonie in diesem Zusammensein, sagte sie sich, als sie am Abend dieses ersten Tages zu Bett ging. Marias bedrückende Schwermut, Arnes eisige Unnahbarkeit, dazwischen das sprühende Leben, die rücksichtslose Fröhlichkeit von diesem Harald Overberg. Man weiß ja gar nicht, wie man sich dazu stellen soll.« –

Schon im Einschlafen, dachte sie noch: aber es ist doch ein Glück, daß es jemand gibt, der es wagt, hier rücksichtslos fröhlich zu sein.

Sie schlief dann traumlos und fest bis in den hellen Tag hinein. Sie hatte jetzt immer einen so wundervoll gesunden Schlaf; sie hatte sich gesund und jung geschlafen in diesem Vierteljahr. Sie war blühender und frischer als sie vor ihrer schweren Krankheit gewesen war. Jeder sagte ihr das. Die alte Dorette sagte es und nickte wehmütig mit dem Kopf dazu: »Ja, ja, die Jugend!« und hatte ordentlich etwas Zärtliches in den Augen, wenn sie dem großen, schönen Mädchen nachsah. Und Rütjer Thoren sagte es und wunderte sich mehr denn je über die frische, treue Hilfe, die ihm in diesem jungen Weibe erwachsen war. Und wenn die Leute sahen, wie fröhlich Antje bei ihrer Arbeit war, wie treu sie überall die Interessen ihres Herrn wahrnahm, wenn sie sahen, wie die beiden miteinander über den Büchern saßen, wenn sie hörten, wie die beiden miteinander das Wohl und Wehe des Tages berieten, wenn aus Antjes Arbeitszimmer manchmal ein froher Gesang über den Hof scholl und der Herr dann unwillkürlich stehen blieb und selbstvergessen den klingenden Tönen lauschte, dann hatten sie allerhand Gedanken.

»Wenn das nicht mit einer Liebschaft endigt, dann werden wir uns wundern,« dachten die Leute. Und die alte Dorette dachte: »Wenn das mit einer Liebschaft endigt, mit so einer rechten, redlichen, so wäre es ein Glück für unsern Herrn. So was Gesundes, Schönes, Frisches fehlt ihm in seinem Leben – sie ist nur ein einfaches Mädchen, aber sie wäre besser für ihn als irgendeine Prinzessin.«

Sie irrten sich aber. Rütjer Thorens Herz war ferne von Antje. Was ihn zu ihr zog und an sie fesselte, war die Erinnerung an eine andere. Und Antjes Herz war ferne von Rütjer Thoren. Was sie blühen und singen und klingen machte, war nur die Vollkraft ihres jungen, unverbrauchten Lebens, die sie dem Leben überhaupt zujubeln machte. Sie stand in einer unbewußten Erwartung von etwas Hohem und Herrlichen, das irgendwo in diesem Leben für sie bereit gehalten wurde – in einer unverdorbenen, gesunden und reinen Empfänglichkeit für irgend einen köstlichen Inhalt, mit dem ihr persönliches Leben ausgefüllt werden sollte.

Antje erschrak, als sie am Morgen nach der Uhr sah und bemerkte, daß die Frühstücksstunde längst vorüber war. Die Mahlzeiten auf dem Köbinghof wurden mit fast pedantischer Pünktlichkeit innegehalten.

Sie schlüpfte in ihre Kleider und lief hinunter ins Eßzimmer. Sie trat ein, etwas hastig und etwas verlegen, mit der Farbe der Jugend auf den Wangen, mit dem Licht der Jugend in den Augen.

Harald Overberg saß ganz allein am Frühstückstisch.

Er drehte sich nach ihr um, und nachdem er ihr sekundenlang schweigend ins Gesicht gesehen, stand er auf und begrüßte sie mit unbefangener Herzlichkeit.

Antje Terhalden spürte ein unruhiges Klopfen ihres stets so ruhigen Herzens. Sie fragte nach den andern.

»Arne und Maria sind mit den Kindern zur Kirche gegangen. – Es ist nämlich Karfreitag heut,« setzte er hinzu, als sie ein etwas begriffsstutziges Gesicht machte. Sie hatte wahrhaftig noch nicht daran gedacht.

»Und Sie – –«

»Ich bin nicht zur Kirche gegangen,« sagte er trocken. Dann nahm er eine Tasse und schenkte ihr Kaffee ein. Sie ließ es zerstreut geschehen.

»Ich hatte ganz vergessen, daß heut Karfreitag ist –« sagte sie.

»Das dachten wir uns,« meinte er und reichte ihr den Zucker und die Sahne und das Brot und die Butter hin, so daß sie gar nicht wußte, wie sie ihm alles schnell genug abnehmen sollte. »Arne wollte Sie wecken lassen, aber ich habe es ihm ausgeredet.«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Ja – warum denn?«

»Ich wollte die Kirchenzeit benutzen, um mit Ihnen einen Spaziergang zu machen. Wenn Sie nämlich Lust dazu haben.«

Antje sah scheu zu ihm auf und sah wieder fort. Sie fühlte, daß er irgend eine Macht über sie hatte, und das war ihr ungemütlich.

»Ich möchte Sie nämlich etwas fragen, was ich Sie nur unter vier Augen fragen kann.«

Antje fühlte sich immer ungemütlicher.

»Ja – was denn?«

»Das will ich Sie eben erst nachher fragen.«

Eine Viertelstunde später verließ Antje Terhalden mit Harald Overberg das Haus.

Ein leuchtender Apriltag war um sie. Ueber den blauen Himmel schwammen blendend weiße Wölkchen. Die Lerchen jubelten über den Feldern, aus denen unter der warmen Sonne eine schwere Feuchtigkeit dampfte. An Weiden und Haselgesträuch standen silbergraue und goldgelbe Kätzchen. Unter den Ulmen blühten die Schneeglöckchen, und am Wiesenrande standen trotzend die gelben Butterblumen. Es war ein Tag sieghafter Lebensfreude nach langem Winterschlaf.

Antje Terhalden fühlte diese Lebensfreude durch ihre Adern rinnen. Und der blonde Riese an ihrer Seite paßte in diesen Tag, wie die Verkörperung all seiner Lust und Kraft. Antje fühlte sich nicht mehr ungemütlich in Erwartung dessen, was er ihr zu sagen hatte. Sie war neugierig darauf; sie freute sich darauf. Es konnte nur etwas Gutes, Starkes, Freudiges sein.

In dieser Erwartung schritt sie rüstig neben ihm aus, den Blick hell in die sonnige Ferne gerichtet, die sich so weit, so leer, so festlich auftat, wie ein großer Freudensaal, der den Helden erwartet, für den er in all seiner Weite und Helle hergerichtet ward.

So lange sie in der Nähe des Hauses waren, wechselten sie nur ein paar nichtssagende Worte. Ueber das Wetter, wie das so eine bequeme Abhilfe ist. Als sie das freie Feld gewannen auf schmalem, baumlosem Fahrwege, sagte Harald Overberg ohne jede Einleitung:

»Stehen Sie meiner Schwester nahe, Fräulein Terhalden?«

Antje sah ihn groß an, fast erschrocken. Jetzt wußte sie, was kommen würde.

»Ich habe Maria sehr, sehr lieb,« sagte sie. »Und ich glaube, daß Maria mich auch lieb hat. Aber was man ›nahestehen‹ nennt – das ist ein Zustand, der bei Maria schwer zu erreichen ist.«

»Dann will ich anders fragen. Kennen Sie Maria? Wissen Sie, wodurch sie das wurde, was sie heute ist?«

»Ja – ich glaube –« sagte Antje. Ihr Herz schlug schwer und ängstlich.

»Also – wodurch?« Er sah sie gerade an mit seinen hellen, zwingenden Augen, die jetzt sehr ernst blickten.

»Durch den Mangel an Liebe,« sagte Antje Terhalden.

Eine Pause entstand. Harald Overberg köpfte mit dem Spazierstock ein paar Butterblumen am Wegrain.

»Und dann durch den Verlust ihres Kindes,« sagte Antje weiter, wie um den Inhalt ihrer letzten schweren Worte abzuschwächen.

Harald Overberg antwortete immer noch nicht. Er schien schwer nachzudenken. Dann sah er Antje an, als wolle er sich noch einmal überzeugen, ob sie die Rechte für diese Unterredung sei. Und endlich sagte er:

»Maria ist meine einzige Schwester. Wir sind in der allerinnigsten Gemeinschaft aufgewachsen. Ich kenne sie. Ich liebe sie. Jeder, der sie kennt – der sie damals kannte, mußte sie lieb haben. Sie war impulsiv und warmherzig. Sie war auch ein wenig exzentrisch. Sie ging immer durch mit ihren Gefühlen – weniger in der Art, wie sie dieselben äußerte, als wie sie dieselben nach innen vertiefte und ausarbeitete. Sie reagierte mit einer beängstigenden Stärke auf jeden äußeren Eindruck. Wenn wir uns zankten, war sie unglücklich und verzweifelt. Wenn ich sie dann wieder küßte, verzieh und vergaß sie alles. Niemals habe ich einem andern Menschen gegenüber solche Reue empfunden, wenn ich unfreundlich oder hart gegen ihn gewesen war, wie ihr gegenüber. Ich hatte so eine intuitive Ueberzeugung, daß kaum ein anderer imstande sei, so wie sie unter Härte und Unfreundlichkeit zu leiden.

»Das war wohl eine sehr zutreffende Ueberzeugung,« sagte Antje.

»Solche Menschen sind unglücklich daran; um so unglücklicher, wenn sich solchem ziellosen Fühlen ein zielbewußtes Wollen entgegenstemmt. Denn das Leben bringt jedem einmal Härten und Unfreundlichkeiten.«

»Das ist noch nicht das schlimmste. Die Härte der Menschen ist meist viel schwerer zu ertragen. Denn die ist etwas Persönliches, richtet sich persönlich gegen uns. Alles andre ist unpersönlich, weil es Schicksal ist.«

Harald Overberg mußte über diese Logik lächeln. Es war ein sehr wohlwollendes Lächeln, und er sah Antje mit einem strahlenden Blick an, den sie nicht bemerkte. – Dann zwang er seine Gedanken in die vorige Richtung zurück.

»Wir müssen Maria helfen; denn so kann das nicht weitergehen.«

»Wir,« sagte er. Antje freute sich über das »Wir«, weil es ihn ihr plötzlich so nahe brachte. Und dann wunderte sie sich, daß sie sich darüber freute.

»Ja – aber wie sollen wir das machen? Es ist schwer, jemandem zu helfen, der sich nicht ausspricht. Man weiß nicht, wo man ihn anfassen soll. – Ich glaube, Sie könnten ihr helfen. Weil Sie Maria kennen; weil –« sie stockte.

»Nun? weil?«

»Weil Sie stark und fröhlich sind,« sagte sie schnell entschlossen.

»Das haben Sie an dem einem Tag entdeckt?« fragte er lächelnd.

»Das habe ich gewußt, sowie ich Sie sah.«

»So –« sagte Harald; weiter nichts. Sie sah ihn scheu von der Seite an. Sie wußte nicht recht, ob er sich über ihre Worte ärgerte oder freute.

Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her.

»Sie sind in Stellung beim Grafen Thoren?« fragte er unvermittelt.

Sie bejahte. Ihr Ja klang keine Spur verschämt oder verlegen; eher stolz und freudig.

»Wie kam denn das?« Sie erzählte. Die inneren Beweggründe und das äußere Zusammentreffen. Sie sprach ganz rückhaltslos über ihre Empfindungen, über ihren Abscheu vor tatenlosen Mädchenexistenzen, über ihr Bedürfnis, ihrem unausgefüllten Leben einen Inhalt zu geben. Er war für sie ein Mensch, dem man alles sagen kann; sie hatte Vertrauen zu ihm, wußte, daß er das alles würdigen und verstehen würde.

»Es stimmt,« sagte er, als sie zu Ende war. Sie sah ihn erstaunt an.

»Was stimmt?«

»Das, was Sie da sagen, stimmt zu dem Bilde, das ich mir von Ihnen gemacht habe.« Antje lachte.

»Also Sie haben sich auch schon ein Urteil über mich gebildet – nach einem Tage –« neckte sie.

»Ja. Es scheint demnach, daß wir uns viel miteinander beschäftigt haben an diesem einen Tage.«

»Nein – wirklich nicht. Ich habe eigentlich gar nicht über Sie nachgedacht.«

»Um so besser, daß Sie trotzdem Bescheid über mich wissen.« Und als sie ihn fragend ansah: »Es gibt nämlich Menschen, die lernen sich nie kennen, weil sie sich nicht verstehen, weil einer den andern immer nur von sich aus beurteilt und darum immer vorbei urteilt. Und es gibt andere Menschen, die wissen von vornherein Bescheid miteinander, weil der eine versteht, was der andre denkt, sagt, tut und ist; weil ihre Wesensarten ineinander eingreifen wie die Zahnräder, die ein Uhrwerk in Gang halten.«

Antje wurde rot, ärgerte sich darüber und wurde noch röter. Während sie mit ihren Gedanken noch bei seinen Worten war, eilten die seinen schon wieder zurück.

»Erzählen Sie mir doch etwas vom Grafen Thoren!«

Wieder folgte Antje rückhaltslos seiner Aufforderung. Sie begeisterte sich für Rütjer Thoren. Sie schwärmte geradezu für ihn.

Harald wurde sehr still und sehr ernst. Nicht weil er auf den Gedanken kam, Antjes Herz könne gefährdet sein und weil dieser Gedanke ihm unangenehm gewesen wäre. Während sie ihre ehrliche Begeisterung für ihn in beredte Worte, in anschauliche Schilderungen kleidete, dachte er nur: was muß das für die arme Maria sein, wenn sie solche Worte hört!

Antje war bei ihrer Krankheit angelangt und wie Rütjer Thoren da für sie gesorgt hatte.

»Maria hat das gar nicht genug anerkannt,« schloß sie.

»Maria?«

»Ja, Maria war doch bei mir, um mich zu pflegen. Und in der Nacht, als man glaubte, daß ich sterben würde, haben sie beide bei mir gewacht. Er auch. Wer tut denn das sonst in seiner Stellung mir gegenüber!«

Um Gottes Willen, dachte Harald, wie kann sie so etwas tun! Und wenn sie es nicht vermeiden konnte – wie hat sie das überstanden! Oder ist das alles vorbei und gestorben? Nein, ich glaube es nicht. Sie hat solche merkwürdigen Augen. Es glüht etwas darin. Aber es glüht nicht für Arne. –

»Sagen Sie mir, warum hat Maria eigentlich Ihren Bruder geheiratet?«

Antje konnte seinen merkwürdigen Gedankensprüngen nicht so schnell folgen. Als sie sich gesammelt hatte, sagte sie:

»Doch natürlich aus Liebe.«

»Natürlich! Ist das so natürlich?«

»Bei Maria – ja. Maria würde nie aus einem andern Grunde heiraten. Das wäre ja eine Lüge. Maria lügt nicht. Mit Worten nicht und erst recht nicht mit Taten.«

»Man könnte sie überredet haben. Junge Mädchen wissen so oft nicht, was sie tun.«

»Ich glaube, Maria weiß immer, was sie tut. Außerdem müssen Sie besser darüber Bescheid wissen als ich. Sie waren ja damals im Elternhause –«

»Vorübergehend. Und mich beschäftigten damals andere Dinge zu völlig, als daß ich die rechte Aufmerksamkeit für Maria gehabt hätte. Es war kurz bevor ich das Elternhaus verließ – ausgestoßen wurde. Ich weiß nur, daß ich mich damals über Maria ärgerte. Ich begriff sie nicht. Ich hatte das dumpfe Gefühl, daß sie ein Unrecht tat, daß sie in ihr Verderben rannte. Verzeihen Sie – er ist Ihr Bruder. Aber die beiden paßten ja nicht zueinander. Ich konnte nichts daran hindern – ich war ein dummer Junge und hatte genug mit mir selber abzumachen.«

Antje schüttelte in schweren Gedanken den Kopf.

»Ich begreife es nicht. Ich kann mir nicht denken, daß Maria so etwas tut.«

»Können Sie sich überhaupt nicht denken, daß ein Mädchen ohne Liebe heiratet?«

»Nein. Es geschieht ja oft genug. Aber ich verstehe es nicht. Ich würde es nie tun. Es ist unsittlich, es schlägt dem Grundbegriff der Ehe ins Gesicht. – Man kann sich irren. Das ist dann tragisch. Und wenn ich in solchem Falle einsähe, daß ich mich geirrt habe, so würde ich es keinen Tag länger aushalten.«

»Da muß man sich also furchtbar mit Ihnen in acht nehmen oder Ihrer furchtbar sicher sein –«

»Ja – das muß man. Aber ich glaube nicht, daß ich mich irren werde.«

Harald Overberg sah sie wieder an mit diesem wohlwollenden, glücklichen Lächeln. Und sie merkte es wieder nicht.

»Seien Sie nicht hart gegen Maria,« bat er dann mit weicher Stimme. »Denken Sie nicht an Lügen und dergleichen. Nehmen Sie an, daß Maria sich geirrt hat. Sie ist nur dann nicht davongelaufen, sondern hat sich tapfer bemüht, die Folgen zu tragen. Ich weiß nicht, was ehrenwerter ist – die Wahrheit auf Kosten der Pflicht oder die Pflicht auf Kosten der Wahrheit.«

»Das letztere ist jedenfalls trauriger,« sagte Antje leise.

Je länger sie miteinander sprachen, desto vertrauter wurden sie miteinander. Nichts von oberflächlichem Plaudern war zwischen ihnen. Mit jedem Satz, den sie sprachen, gaben sie einander ein Stück ihrer Seele frei. Und dabei hatten sie eine solche Freude aneinander, wie an lauter schönen Entdeckungen, die zugleich Besitztümer sind.

Es war Mittag geworden, als sie endlich heimkehrten. Als sie über die Schwelle des Hauses traten, war ihnen, als müßten sie jeder erst ein paar Flügel falten, um sich wieder in den Rahmen der Alltäglichkeit zurückzufinden.

Maria mußte Antje oft ansehen an diesem Tage. Es war etwas neues an ihr und in ihr. Kein Wort verriet es. Aber ihr Wesen strahlte es aus. Und Harald machte so ein triumphierendes Gesicht, als sei dieses neue Wesen, das ihr so wunderbar gut stand, sein persönliches Verdienst. –

Am zweiten Osterfesttag war Taufe bei Venningens.

Maria hatte versprochen, mitzukommen. Im letzten Augenblick hatte sie sich doch nicht dazu entschließen können und war zu Hause geblieben.

»Sie müssen ihr zureden,« sagte Antje heimlich zu Harald Overberg. »Wenn Sie ihr zureden, tut sie es!«

»Warum soll sie denn durchaus tun, was ihr keinen Spaß macht?« meinte er. »Versprechen Sie sich irgendwelchen Nutzen für sie davon?«

»Sie würde doch einmal auf andere Gedanken gebracht –«

»Durch ein Fest, bei dem sich alles um ein Kind dreht? Schwerlich!«

Antje fand, daß er recht hatte.

Arne verlor kein Wort darüber, redete weder zu noch ab. Das war aber nicht zarte Rücksicht; das war verstockter Eigensinn, wie immer ihr gegenüber.

Also blieb Maria zu Hause.

Maren sah blühend und hübsch aus, ganz Zufriedenheit und Mutterglück. Sie trug ein weißes Spitzenhäubchen auf dem glatten Scheitel und ihr Brautkleid. Das hatte sie zu den Taufen aller ihrer Kinder getragen; jedesmal hatte es ein wenig weiter gemacht werden müssen – aber je nach der neuen Mode ließ sich das unauffällig einrichten, und daß die Seide etwas vergilbt war, gab ihr ein um so schwereres Aussehen.

Jörg Venningen war in der rechten Taufvaterstimmung; ein wenig würdevoll, ein wenig erregt, ein wenig stolz und sehr wohlwollend.

Das zur Hauskapelle umgewandelte kleine Boudoir am Ende der Zimmerreihe; der kleine Altar, ganz mit Schneeglöckchen geschmückt; Maren in ihrer Gesundheit und Zufriedenheit umringt von all ihren rotwangigen, vergnügt blickenden Kindern; hinter ihr stehend Jörg mit dem ganzen Gesicht voll Gattenliebe und Vaterzärtlichkeit; der kleine Täufling, dick und behaglich schlafend auf dem Arm seiner behäbigen Wärterin; dazu die Ostersonne, die voll und hell zu den Fenstern hereinflutete – das alles war ein wohltuendes Bild von Familienglück und häuslichem Frieden, das jedem wohltat, der es ansah. Und alle, die es sahen, Arne und Harald und Antje und die kleine Zahl der häuslichen Freunde aus der Nachbarschaft, standen unter dem Einfluß dieses Bildes und der ihm entsprechenden Atmosphäre dieses Hauses.

»Wenn Sie wüßten, wie gut mir das tut,« sagte Harald Overberg zu Antje, mit der er sich immer wieder wie zufällig zusammenfand. »Ich habe seit länger als einem Jahrzehnt deutsches Familienleben entbehrt. Es wird einem so viel Glück vorgetäuscht im Leben – aber das Glück in diesem Hause ist echt.«

»Diese Menschen verstehen es, glücklich zu sein,« sagte Antje nachdenklich. »Sie sind einfache, kindliche Naturen; sie nehmen das Leben wie es ist und halten sich an das, was es ihnen gibt. Sie denken nicht viel nach, kümmern sich nicht viel um andre. Sie sind sich selbst genug, weil sie sich unbeschreiblich lieb haben.«

»Und das ist eigentlich das richtige. Wenn alle Eheleute so wären, gäbe es vielleicht weniger Weltweise und Volksbeglücker, aber auch weniger Selbstmörder und gescheiterte Existenzen und jedenfalls mehr Kraft und Gesundheit.«

»Es ist aber nicht jedem möglich, so ganz in der Stille seinem Familienglück zu leben.«

»Warum nicht? Ein glückliches Familienleben ist der beste Boden für das Berufsleben. Glauben Sie, daß ein noch so hoher und großer Beruf imstande ist, einen Menschen hinwegzutrösten über den Mangel an Glück an seinem eigenen Herde?«

»Ich meine, es besitzt eben nicht jeder das Glück am eigenen Herde!«

»Sie denken an Maria. – Lassen Sie das doch jetzt.«

»Ich muß immerfort an Maria denken,« flüsterte sie heftig. »Es frißt mir am Herzen, sie unglücklich zu wissen!« Tränen blitzten in ihren Augen. Harald sah sie ernsthaft an.

»Arne ist ebenso zu bedauern,« sagte er.

Antje sah ihm nachdenklich ins Gesicht.

»Ich möchte wirklich wissen, wessen Partei Sie eigentlich nehmen!«

»In Ehesachen anderer soll man niemals Partei ergreifen. Die Eheleute selber sind schon allzu parteiisch.« –

Beim Essen und nachher ging es sehr vergnügt und gemütlich zu. Die üblichen Reden wurden gehalten, der Täufling wurde herumgereicht. Es war das so gar nichts Ungewöhnliches. Aber gerade das durchaus Normale wirkte so beruhigend, so befreiend, so ansteckend.

Antje hatte ihre schmerzliche Anwandlung überwunden. Sie wurde je länger je vergnügter. Sie beantwortete unermüdlich die immer wiederkehrenden Fragen nach ihrem Beruf, ihrem Leben und versicherte jedem, daß sie sich vollauf glücklich fühle und sich gar nichts besseres wünsche.

»Ist das wahr?« fragte Harald Overberg, der dicht hinter ihr stand, als sie wieder einmal diesen Ausspruch tat.

»Was –« fragte sie, sich erschreckt und verwirrt umsehend.

»Daß sie sich nichts besseres wünschen, als in Dienst und Brot beim Grafen Thoren zu stehen?« Sie ärgerte sich über seinen Ton, der ihr spöttisch schien.

»Mein Dienst ist leicht und mein Brot schmeckt gut. Ich weiß nichts besseres.« Sie sah ihn herausfordernd an.

Was war nur plötzlich? Harald Overberg machte so ganz merkwürdige Augen; so, als ob er sich über sie lustig machte, als ob er es besser wisse; als ob er sie kindisch finde und als ob er ihr deswegen sehr, sehr gut sei.

Antje starrte ihn an; sie dachte gar nicht mehr an ihn; sie horchte auf einen Tumult, der plötzlich in ihrer Seele losbrach und den sie nicht verstand. –

Und während sie ihn immer noch fassungslos anstarrte, ging er sachte fort.

Er war heute der Mittelpunkt des Interesses. Jeder wollte von ihm hören, jedem sollte er erzählen. Es war so ungewöhnlich, daß sich hier einmal ein Mensch sehen ließ, der in ganz anderen Verhältnissen lebte. Hier war jeder Mensch Landwirt, alle hatten dieselben Interessen, Gewohnheiten und Anschauungen, alle hatten ein ordentliches, geregeltes Leben hinter sich und vor sich. Die kleinen persönlichen Nöte und Leiden waren zu untergeordnet, um eine umgestaltende Rolle zu spielen. – Hier war nun einer, der hatte sich in dreistem Wagemut aus Nichts ein selbständiges Leben zurechtgezimmert, den hatte das Schicksal herumgeworfen; der hatte gesehen, was hier niemand kannte, der führte ein Dasein, von dem man sich hier keine rechte Vorstellung machen konnte; der trug die Spuren harter Kämpfe und fröhlicher Siege in seinem sonnenverbrannten Gesicht; der trat auf, nicht wie jemand, der sich fremd und unsicher fühlt und sich vorsichtig erst wieder zurechttasten muß, sondern wie jemand, der gewohnt ist, sich selbst durchzusetzen und überall festzustehen, wo er den Fuß hinstellt.

Alle umringten ihn, staunten ihn an, fanden ihn interessant und anziehend durch das Unbekannte, Ungewöhnliche, das einen frohen, kräftigen Menschen aus ihm gemacht hatte. Dies Unbekannte trennte ihn nicht einmal von ihnen; er gab sich weder fremdländisch noch eingebildet, nicht wie jemand, der etwas vor anderen voraus hat, sondern menschlich, natürlich und liebenswürdig. Das naive Selbstbewußtsein in seinem Auftreten störte nicht, es paßte zu seinem Leben und zu seinen reckenhaften Gliedern. Kräftig und stählern sein Leib und seine Seele.

Er blickte auch nicht mit Geringschätzung oder nachsichtigem Mitleid auf die heimischen Sitten und Gebräuche, deren er sich entwöhnt hatte, auf mancherlei Ansichten und Vorurteile, die er abgestreift hatte, denen er vorausgeeilt war. Er fühlte sich wohl und heimisch darin, wie ein Kind, das zu den Ferien ins Elternhaus zurückkehrt. Und das merkte man ihm an, das schätzte man hoch an ihm. –

Maren kam zu Arne, der wie gewöhnlich steif und wortkarg herumstand. Er hatte keinerlei gesellige Talente. Andere Menschen und ihre Angelegenheiten waren ihm von jeher gleichgültig gewesen. Maren fand, daß dies alles zunahm bei ihm; er sah heute geradezu finster und ungemütlich aus. Sie schob es auf sein häusliches Leben, auf Marias Gemütszustand, den sie alle kannten, den sie scheuten, weil sie ihm gegenüber machtlos waren. Arne tat ihr leid. Sie wollte ihn ermuntern.

Sie fragte ihn nach seiner Wirtschaft, nach den Feldarbeiten, den Leuteverhältnissen. Das Thema war unglücklich gewählt. Arne hatte dauernde Mißerfolge mit seinen Versuchen und Unternehmungen. Das Wetter war der Bestellung ungünstig gewesen, es fehlte ihm an Geld und an Arbeitern. Er sprach natürlich nicht darüber, er fraß Aerger und Sorgen in sich hinein. Er war viel zu hochmütig, um zuzugeben, daß es rückwärts ging mit den Verhältnissen, daß seine Maßnahmen keine glücklichen waren; er hätte sich nie so weit gedemütigt, sich Rat zu holen und danach zu handeln. Er gab auch Maren nur ausweichende, oberflächliche Antworten. Sie merkte, daß ihre Fragen ihm unbequem waren und sprang auf ein anderes Thema über. Auf Harald Overberg.

Auch hier war Arne unzugänglich.

»Er ist ja ganz nett und lustig. Aber ich sehe wenig von ihm. Er ist Marias Besuch.«

»Und er ist sterblich verliebt in Antje!« sagte Maren.

»So?« machte Arne. Davon hatte er keine Ahnung.

»Seine Augen folgen ihr unablässig und dabei strahlen sie nur so. Ihr müßt das doch gemerkt haben?«

»Ich kann mich nicht um Liebesgeschichten kümmern.«

»Hat Maria nicht davon gesprochen?«

»Maria spricht ja überhaupt nicht.«

Marens Gedanken sprangen in eine andere Richtung über.

»Das geht nicht weiter so mit Maria. Als ich sie zuletzt sah, machte sie einen geradezu kranken Eindruck. Es muß etwas für sie geschehen! Ihr leidet ja alle darunter.«

»Ja – natürlich.«

»Du mußt die Sache in die Hand nehmen, Arne. Sie muß Zerstreuung, Ablenkung haben. Mache doch eine hübsche Reise mit ihr!«

»Sie würde sich schwerlich bereit finden, mit mir zu reisen,« sagte er bitter. Maren sah ihn erstaunt an. Stand es so? – Sie ließ sich ihre Gedanken nicht merken.

»So schicke sie mit ihrem Bruder auf Reisen! Er bleibt ja ein halbes Jahr in Deutschland. Er tut es sicher gern!«

»Ich habe nichts dagegen –«

»Es genügt aber nicht, daß du nichts dagegen hast. Du mußt es anregen, mußt ihr zureden, mußt es ganz einfach verlangen!«

Arne Terhalden zuckte die Achseln.

Maren war verzweifelt. So hölzern hatte sie ihn noch nie empfunden. Eine Zeitlang schwieg sie. Er stand neben ihr in undurchsichtige Gedanken verloren.

»Weißt du,« fing Maren wieder an, »eigentlich wäre es ganz gut, wenn Harald Overberg unsre Antje heiratete. Er macht einen so vertrauenerweckenden Eindruck und er scheint doch etwas Sicheres unterm Fuß zu haben.«

»Solche Verhältnisse sind unkontrollierbar. Wer weiß, was dahinter steckt. Solche Glücksritter sind unsichere Kunden.«

»Er sieht nicht aus wie ein Glücksritter; ich glaube nicht, daß er prahlt oder lügt; er hat so durchsichtige Augen –«

»Dir scheint er es ja auch schon angetan zu haben –«

»Ja. Das hat er. Ich finde, er paßt zu Antje. Schon äußerlich. Was würden die für schöne Kinder haben! Und etwas Ungewöhnliches muß wohl schon dabei sein, wenn sie heiratet. Warum hätte sie sonst so lange gewartet!«

Arne liebte solche Unterhaltungen nicht.

»Sie kann ja tun, was sie will. Sie ist längst mündig und hat immer sehr selbständig gehandelt. Aber du wirst mir nicht zumuten, den Heiratsvermittler zu spielen.«

Maren ärgerte sich. Sie fand Arne unliebenswürdig. Sie hätte das gern mit Hille besprochen, die war klug und praktisch. Aber Hille hatte wegen der großen Entfernung nicht kommen können.

Zu Antje wagte sie keine Frage oder Andeutung. Desto aufmerksamer beobachtete sie und fand, daß auch Antje heute ungewöhnlich strahlende Augen hatte. –

Eigentlich war ihre Entdeckung ihr eine große Beruhigung. Sie hatte immer mit ungemütlichen Empfindungen an Antjes Leben auf der Thorenburg gedacht. Kein Mensch konnte wissen, was da vor sich ging. Sie wußte genug von diesem Rütjer Thoren, um ihm allerhand zuzutrauen.

Wenn Antje heiratete, kam sie wenigstens aus diesem unstandesgemäßen Berufsleben heraus, das Maren immer wie eine Mausefalle erschien. Sie konnte von Glück sagen, wenn sie danach überhaupt noch einen ansehnlichen Mann bekam – darin hatte Hille recht.

Die Ehe war und blieb für Maren der Inbegriff weiblichen Glücks. Freilich – es durfte nicht solche Ehe sein wie die Arnes und Marias. – Maren regte sich auf, wenn sie daran dachte. Aber mit diesen beiden Menschen war nichts anzufangen. Mit den Köpfen hätte sie sie aneinanderstoßen mögen. Aber sie wagte schon längst nicht mehr, mit ihnen auch nur davon zu reden. Seit des kleinen Alfs Tode hielt sie Maria für gemütskrank. Sie begriff vollkommen den Jammer um ein gestorbenes Kind, noch dazu, wenn es solch süßes Kind und der einzige Sohn war. Aber Maria trieb es zu weit. Es war unchristlich und ungesund, sich einem Schmerz so hinzugeben. Es bewies eben, daß Maria krank war. Sie sah ja auch so aus. – Maren nahm sich vor, nächstens einmal zu Maria zu fahren und mit ihr zu reden. Man konnte das nicht so hingehen lassen. Wenn man auch eine Zurückweisung erfuhr – man hatte dann doch wenigstens seine Pflicht getan. –

Spät in der Nacht kamen die drei nach dem Köbinghof zurück. Es war kühl, windstill und mondhell. Leichter Nebel bedeckte die Gründe, die Erde duftete von Fruchtbarkeit und treibendem Leben. Arne saß in seinen dicken Mantel gewickelt und sprach kein Wort. Harald und Antje sprachen immerfort. Er erzählte von nächtlichen Ritten durch die Steppeneinsamkeit, von der Größe und Schöne und Einsamkeit und Fruchtbarkeit der noch durch keine Menschenhand bezwungenen, noch zu keinem Dienst geknechteten, freien, wilden, öden Natur. Und wie klein da der Verzagte sich fühle, wie furchtsam und machtlos; wie um so größer aber der Starke und Mutige; wie er diese ganze große heilige Oede zu beleben und zu erfüllen imstande sei mit dem Bewußtsein allmächtigen Menschentums.

»Da ist Raum für alles, unendlicher Raum. Alles wächst da ins Ungemessene, Riesenhafte; das Gute und Schlechte, heilige und unheilige Kräfte. Nur Kraft muß es sein. Das Kleine, Enge, Feige kann nicht bestehen, es verkriecht sich und vergeht, es wird verschlungen von der Kraft, die da förmlich in der Luft liegt, das Große noch größer macht und das kleine zermalmt.«

»Es muß schön sein, da zu leben,« sagte Antje. In ihren klaren Augen blinkerte das Mondlicht wie in einem tiefen, stillen Gewässer.

Harald Overberg lauschte ihrer leisen Stimme.

»Schließlich sind wir auch dort nur Menschen. Jeder kämpft seinen eigenen Kampf mit dem Leben und mit sich selber. Nur, daß man dabei einsamer ist als hier. Das hat sein Gutes, aber auch sein Schreckliches. Einsamkeit ist Glück und Gefahr, wie alle erhabenen Dinge. Man wird groß daran oder man geht daran zugrunde.«

»Möchten Sie nicht wieder zurückkommen?« fragte Antje.

»Nein,« sagte er fest. »Dafür bin ich hier verdorben, dort zu fest gewurzelt.«

»Und alles, was Sie hier lieben –« klang es leise an sein Ohr.

»Was ich nicht mitnehmen kann, davon muß ich mich trennen. Was ich aber mitnehmen will, das werde ich mitnehmen. Verlassen Sie sich darauf.«

Antje fühlte ein Zittern durch ihren ganzen Körper; es endigte in ihrem Herzen. Wenig fehlte, so hätte sie sich an ihn geschmiegt und geweint. Nicht vor Schmerz, nicht vor Angst, sondern vor unbeschreiblichem, blindvertrauendem Wohlgefühl.

Im Zwielicht des Hausflurs sagten sie sich gute Nacht. Sie sahen sich fest in die Augen dabei. Einer wußte Bescheid mit dem andern, wartete des andern in schöner Sicherheit, war des andern gewiß in stolzem Selbstgefühl.

Harald Overberg ging die Treppe hinauf. Noch lange hörte man ihn in seinem Zimmer singen und pfeifen – wilde Steppenmelodien und träumerische Liebeslieder. Es waren ungewohnte Töne in diesem Hause. Arne Terhalden, der sich unter ihm schlaflos auf seinem Lager herumwarf, verwünschte ihn und seine rücksichtlose Fröhlichkeit, die ihm auf die Nerven fiel.

Antje hatte sich zu Maria geschlichen.

Maria hatte den ganzen Abend am Grabe des kleinen Alf gesessen; allein mit ihrem toten Glück, ihrem Herzeleid, ihrem Jammer, ihrer Reue und einer fürchterlichen, brennenden Sehnsucht.

Diese Sehnsucht hatte lange geschwiegen. Nun war sie wieder da, der Vorbote einer Auferstehung.

Warum? Warum konnte man nicht stumpf und dumpf bleiben, betäubt, empfindungslos, wenn alles Empfinden doch nur Qual war? Warum hat die Seele ein so entsetzlich zähes Leben und wacht immer wieder auf?

Nun lag sie im Bett, aber sie war noch wach, hatte noch Licht. Sie hatte unbewußt auf Antje gewartet.

Sie wußte, wie es um Antje stand. Obgleich jeder Maria für teilnahmslos hielt, wußte und sah sie doch alles, was um sie her vorging. Je stiller sie war, desto mehr sah und wußte sie. Soweit sie imstande war, Freude zu empfinden, freute sie sich über das, was sie entstehen sah zwischen diesen beiden, die sie hoch hielt in ihrem Herzen. Es kam ihr so hell, so schön, so urwüchsig vor – wie die allererste Liebe zwischen den allerersten Menschen. Es entstand so unberührt von aller menschlichen Berechnung und Betastung, so ganz von innen heraus, wie der Keim aus dem Samenkorn, wie der Quell aus dem Erdenschoß. Es war zu zart, um daran zu rühren, zu fest und kraftvoll, um daran zu zweifeln.

Wo solche Liebe so entsteht, da hat Gott selber die Herzen angerührt.

Und nun kam Antje da zu ihr in ihr einsames, trauriges Zimmer, und die Herrlichkeit ihrer jungen, schweigsamen Liebe umstrahlte sie. Ganz still, mit ihren strahlenden Augen, kam sie näher, kniete da hin an Marias Bett, nahm Marias Hände und sah Maria an.

Marias Augen wurden feucht, an ihr Herz griff etwas Heißes, Weiches. Sie machte eine ihrer Hände frei und legte sie auf Antjes Scheitel. Was das Mädchen für eine hohe, klare Stirn hatte!

»Willst du mir noch erzählen, Antje? Habt ihr einen schönen Tag verlebt?«

»Ja – « sagte Antje und dachte nur an Harald Overberg. Sie suchte seine Züge in dem Antlitz der Schwester. Da war so viel Aehnlichkeit – wie zwischen zwei Pflanzen aus einer Wurzel, von denen die eine gediehen und die andre verkümmert ist. Dann holte sie ihre Gedanken zusammen.

»Maren war so hübsch und gesund und glücklich und der Täufling wieder so ein dickes, rosiges Kind, und Jörg ganz Vaterstolz, und alle waren heiter und zufrieden. Und alle fragten nach dir –«

Und plötzlich warf sich das große, starke Mädchen über die schmale, zarte Frau und fing an, leidenschaftlich zu weinen.

»Aber Antje – Kind – Liebling – was ist dir denn –«

Maria war zu Tode erschrocken.

»Ach!« schluchzte Antje, »mir ist so weh um dich! Wenn man selber so ganz unbeschreiblich glücklich ist, so kann man es ja gar nicht aushalten, andre, die man lieb hat, unglücklich zu wissen!«

Maria sagte nichts. Sie versuchte nur durch liebkosendes Streicheln den wilden Ausbruch dieses erregten Gemütes zu beruhigen.

»Weißt du, Antje,« meinte sie nach einer Weile, »ich glaubte seit einiger Zeit, du hättest mich gar nicht mehr lieb.«

»Ich verstand dich nicht mehr, ich zweifelte an dir, ich war manchmal böse mit dir, weil ich dich ungerecht und selbstsüchtig fand. Aber nun weiß ich es besser – nun weiß ich, wie furchtbar schwer das alles für dich ist –«

Die Hauptsachen weiß sie nicht und wird sie nie erfahren, dachte Maria. Und fragte freundlich:

»Warum weißt du es nun auf einmal besser?«

Antje hob das tränennasse Antlitz aus den Kissen, sah aus, als ob sie sprechen wollte, sprach aber nicht, drückte ihre Lippen lange, still und innig auf Marias Gesicht und Hände, stand auf und ging hinaus, wortlos, zögernd.

An der Tür sah sie sich noch einmal um.

So sieht das Glück aus, dachte Maria. Gott segne dich.


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