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IV.

Von Antje kamen ab und zu kurze Briefe. Sie hatte wenig Zeit, sie arbeitete mit aller Kraft, um möglichst bald das Ziel, die selbständige Tätigkeit, zu erreichen. Sie fühlte sich wohl in ihrer Arbeit, war voll gesunden Vertrauens in sich und ihre Zukunft. Von ihrem privaten Leben war wenig zu sagen; das bestand eigentlich nur in Essen und Schlafen. Sonntags machte sie weite, erquickende Ausflüge, allein oder in Gesellschaft einer ihrer Kolleginnen.

Sie ist eine kräftige, reine Natur, dachte Maria; ihre Ideale werden sie nicht untauglich machen fürs praktische Leben, und ihre trotzige, keusche Seele wird sie schützen in allen einsamen Nöten.

Antje war, nächst dem kleinen Alf, der Mensch, der ihr am nächsten stand.

Zu Ostern schrieb Antje, daß sie eine Stellung als Rechnungsführerin bei einem Grafen Thoren angenommen habe; er habe ein großes Gut im Friesländischen. Sie müsse die Stellung gleich nach dem Fest antreten, und so lohne es sich nicht, vorher nach dem Köbinghof zu kommen, zumal sie noch allerhand für ihre persönliche Ausrüstung zu beschaffen habe. Aber sie werde ihren ersten Urlaub zu einem Besuch bei den Geschwistern benutzen.

»Einstweilen freut euch mit mir. Ich bin glücklich.« –

Maria ließ das Briefblatt sinken. Sie war kreideweiß. Aus der Vergangenheit herüber reckte sich eine Hand und faßte an die Wurzeln ihres Lebens.

»Was ist?« sagte Arne, der neben ihr am Tische stand und die Postsachen durchsah. »Nachricht von Antje?«

Er griff nach dem Brief und durchlas ihn flüchtig.

»Nun wird sie wohl noch eingebildeter werden.«

Weiter sagte er nichts. Seine Teilnahme für andere war immer kühl. Erinnerungen schienen ihm nicht aufzudämmern.

Am Abend dieses Tages kniete Maria länger als sonst am Bettchen des kleinen Alf. Sie hielt seine warmen Händchen in ihren kühlen Fingern und sah ihn mit brennenden Augen an.

»Du bist mein Schutzengel, kleiner Alf!« flüsterte sie. Der kleine Alf sah erstaunt zu ihr auf, dann lachte er.

»I bewahre – ich bin doch kein Schutzengel! Die haben Flügel und wohnen im Himmel und man kann sie nicht sehen. Du mußt den lieben Gott bitten, daß er dir einen Schutzengel schickt.«

»Ja, Alfchen, das will ich tun,« sagte Maria. Und während sie ihn küßte, stahl sich eine Träne aus ihrem Auge und versickerte in des Kindes Haar.

Am ersten Festtag kamen die Geschwister. Bergens waren für die Feiertage zu Maren gekommen. Hille hatte es gewünscht – weniger aus Sehnsucht nach der Schwester, aber der Abwechslung halber. Sie brauchte immer Abwechslung.

Für Maria war solch Zusammensein mit der Familie keine unbedingte Freude. Sie stand sich gut mit allen, aber warm geworden war sie mit keinem. Ihre Andersart stand zwischen ihnen. Sie schaltete allemal ihr eigenes Selbst aus im Verkehr mit ihnen. Sie akkomodierte sich, aus Pflichtgefühl, aus angeborener Liebenswürdigkeit und endlich, weil es am bequemsten und besten so war. Daher kam es, daß die Geschwister sich daran gewöhnt hatten, sie für nichtssagend und unbedeutend zu halten.

Natürlich wußten alle schon von Antjes letztem Entschluß. Sie hatte an Maren ausführlich darüber berichtet. Nun sprachen sie darüber.

»Ich habe eine gewisse Hochachtung vor Antje,« sagte Maren. »Wenn es nur ein gutes Ende nimmt. Sie steht doch so allein in ihrem neuen Leben!«

Hille war ganz anderer Meinung.

»Ich hätte nicht gedacht, daß sie es so weit treiben würde. Ich hielt es für eine Schrulle, von der sie bald geheilt werden würde. Ich finde es ganz verdreht von ihr. Sie hat es nicht nötig. Sie verdirbt sich damit alle Heiratsaussichten. Warum? Aber ich bitte euch, wer heiratet einen weiblichen Rechnungsführer! Einer ihres Standes doch gewiß nicht mehr. Höchstens fängt der Graf eine Liebschaft mit ihr an. Hübsch genug ist sie ja.«

»Ist er unverheiratet?« fragte Arne, zum erstenmal anteilnehmend.

»Das ist es ja eben!« ereiferte sich Hille. »Ich bitte dich, wie kann sie zu einem geschiedenen Manne gehen!«

»Muß denn ein geschiedener Mann unter allen Umständen ein Blaubart sein?« neckte Axel Bergen, gutmütig lächelnd. Hille warf ihm einen bösen Blick zu.

»Ich finde es im höchsten Grade unpassend,« sagte sie trotzig.

»Weshalb ist er denn geschieden?« erklang wieder Arnes ruhige, sachliche Stimme.

»Das schreibt Antje nicht,« sagte Maren.

»Weil sie es natürlich nicht weiß,« ergänzte Hille. »Aber Axel sagt, sie sei ihm nicht treu gewesen. Es kann auch umgekehrt sein. Aber in den Augen der Männer muß natürlich immer die Frau schuld sein.« –

»Aber liebes Kind,« sagte Axel, »ich weiß es doch. In Offizierskreisen kennt jeder die Geschichte. Er stand in Bonn bei den Husaren, als die Sache passierte – er nahm den Abschied deswegen, so vor etwa acht Jahren und ist seitdem von der Bildfläche verschwunden.«

Schließlich redeten alle durcheinander und keiner hörte mehr, was der andere sagte.

Hätte irgendeiner Aufmerksamkeit für Maria gehabt, statt ihre stille Gegenwart im Eifer des Gesprächs ganz zu vergessen, – es hätte ihm nicht entgehen können, daß etwas mit ihr vorging. Sie war eben so weiß geworden wie damals, als sie Antjes Brief las. Die Finger, die eifrig am Nähzeug stichelten, zitterten. Sie stach sich schließlich bis ins Blut und wickelte ihr Taschentuch darum und zerrte krampfhaft daran. Sie sah nicht ein einziges Mal auf. Sie sah überhaupt nichts mehr. Vor ihrem Blick schwammen grüne Streifen, und das Geschwätz der andern rauschte wie ein Wasserfall an ihren Ohren vorüber.

Wenn ich doch fortlaufen könnte – dachte sie.

Da redete jemand sie an. Wie aus weiter Ferne klang es und riß sie ins Bewußtsein zurück.

»Was sagst du denn dazu, Maria?«

Es war Marens Stimme.

»Antje wird wohl gewußt haben, was sie tat,« antwortete Maria und wunderte sich, daß sie das so ruhig herausbrachte.

»Sie hat ja nie eine selbständige Meinung,« murmelte Hille geringschätzig. Und Arne sagte mit harter, betonter Stimme:

»Wenn sie mich gefragt hätte, würde ich es nicht erlaubt haben. Aber dazu ist sie ja viel zu hoch. Nun muß sie sehen, wie sie fertig wird.«

Dieser Ansicht schlossen sich die andern an, und nach einigen Schlußbemerkungen war die Sache einstweilen erledigt.

Gott sei Dank, daß Antje nicht gekommen ist, dachte Maria, wie hätten sie sie wohl gequält!

Dann ergriff sie eine Gelegenheit, ihren Schwager Axel beiseite zu nehmen. Sie waren alle im Garten – da schlängelte sie sich an ihn heran und schlug mit ihm einen Seitenweg ein.

Axel Bergen war sehr erfreut über dies Entgegenkommen seiner Schwägerin, aus der er bisher »noch nicht klug geworden war« und die ihn darum besonders interessierte. Er sagte ihr allerhand Freundliches über ihre wohltuende Art, den auswärtigen Geschwistern das Vaterhaus warm und behaglich zu gestalten. Er verfügte über eine sehr gewandte Ausdrucksweise und diesmal kam ihm, was er sagte, von Herzen.

Maria hörte kaum zu. Sobald sie außer Hörweite waren, schnitt sie ihm das Wort ab mit der Frage:

»Bitte, Axel, erzähle mir, was du von der Geschichte weißt.«

Er wußte nicht gleich, was sie meinte und sah sie einen Augenblick fragend an. Sie hielt den Blick gesenkt und sah sehr blaß aus.

»Ach – das mit dem Grafen Thoren!« fiel ihm endlich ein. »Ja – genaues weiß ich darüber auch nicht. Ich kenne ihn nicht persönlich und es ist schon lange her. Aber die Frau soll wirklich allein Schuld gehabt haben. Er genießt überall die größte Achtung und Liebe. Er soll ein tief angelegter, ehrenhafter Mensch sein. Sie hatte wohl von beidem zu wenig. So mag es gekommen sein. Er soll es tragisch aufgefaßt haben, und sie soll mit der Scheidung sehr einverstanden gewesen sein.« –

»Weißt du, wie – wie es auf ihn gewirkt hat?« Maria fragte es stockend; dann atmete sie hastig auf und fügte schnell hinzu: »Das Unglück wirkt doch sehr verschieden auf die Menschen.«

»Du meinst, den einen macht es besser, den andern schlechter? Da hast du recht. Aber ich kann dir darüber nichts sagen. Ich habe nichts darüber gehört. Es interessierte mich ja auch weiter nicht. Warum willst du es wissen? Willst du Antje warnen?«

Maria schlug die Augen auf. Sie leuchteten eigentümlich dunkel und ein vorwurfsvolles Staunen war darin.

»Warnen? Wovor?«

»Nun – teilst du die Bedenken der andern nicht?«

»Nein, Axel. Ich kann nicht von vornherein einem Menschen Böses zutrauen. Und außerdem weiß ich, daß Antje – sollte sie in eine bedenkliche Lage geraten – sich selbst schützen wird.«

Axel sah seine Schwägerin bewundernd an.

»Menschen wie du sind eine wahre Erquickung,« sagte er.

Sie lächelte.

»Ich bin doch gar nicht ungewöhnlich –« meinte sie.

»Doch, du bist weder kleinlich noch mißtrauisch. Du hast keinen Spaß daran, Unrat zu wittern und über andere herzuziehen.«

»Aber das tun doch auch nicht alle andern.«

»Doch – in den Kreisen, in denen wir leben, tun es die allermeisten. Wer es nicht von Anfang an tat, wird durch seine Umgebung dazu erzogen.«

»Dann liegt es vielleicht nur an meiner andersartigen Umgebung –«

»Nein, nein, Maria, du würdest überall bleiben, wie du bist. Man kann das nicht erklären – man weiß es. Du bist ein Mensch, dem man vertrauen kann, zu dem man in jeder Not des Lebens kommen könnte. Du bist dafür vielleicht mehr geschaffen, wie für die Freuden des Lebens –«

»Ach nein, Axel, glaube das nicht. Ich kann mich freuen – so sehr, daß es manchmal weh tut. Ueber einen schönen Sonnenaufgang – über den Sternenhimmel – über den Frühling – über ein freundliches Wort.« –

Sie vergaß sich selbst. Ihre Augen wanderten ins Weite mit einer brennenden Sehnsucht. – Soviel gefesselte Freude lag darin!

»Wie bescheiden!« murmelte Axel. Bist du wirklich so arm, dachte er, daß solche Kleinigkeiten dich so zu beglücken imstande sind?

Es dämmerte ihm ein Licht über dem Leben seiner ungekannten Schwägerin.

Er wußte, jedes Wort, das sie sprach, war echt und wahr. Solche Menschen sind in der Tat eine Erquickung.

Axel dehnte das Zwiegespräch mit ihr so lange wie möglich aus. Es drehte sich nicht um große und tiefe Dinge – denen war Axel gar nicht gewachsen und Maria schien sie vermeiden zu wollen. Sie sprachen von dem Winter in Stadt und Land, von Hilles Sommerplänen, von den Kindern. Als Axel noch einmal von Antje anfing, lenkte Maria unauffällig ab. Für alles andere hatte sie so viel warme Teilnahme, so viel weitherziges Verständnis, so viel innerliche Auffassung. Er dachte immer wieder, daß es erquickend sei, mit ihr zu sprechen. Er gestand sich, daß er mit Hille noch nie so gesprochen habe. Der Gedanke machte ihn zerstreut. Sie merkte es, aber sie rührte nicht an diesem plötzlichen Stimmungswechsel. Auch das tat ihm gut. Hille verlangte Rechenschaft über jegliche Stimmung, quälte ihn oft damit.

Als sie sich endlich den andern wieder anschlossen, rief Hille gleich:

»Wo habt ihr denn so lange gesteckt?« und mit ihren runden, lebhaften, neugierigen Augen die beiden musternd, fuhr sie halb neckend, halb unwillig fort: »Ihr seht ja so feierlich aus, als hättet ihr euch gegenseitig die Beichte gehört!«

»Meine liebe Frau ist wieder eifersüchtig –« spottete Axel und küßte ihr galant die Hand, die sie ihm ungeduldig entriß.

»Davon solltest du lieber nicht reden,« sagte sie.

Maria empfand einen Mißton und kehrte dem Ehepaar den Rücken. Sie war heute so furchtbar empfindsam – sie ärgerte sich, daß sie sich nicht besser in der Gewalt hatte.

Am andern Tage beantwortete sie Antjes Brief. Bis jetzt hatte sie sich nicht dazu entschließen können. Aber einmal mußte es ja sein. Es schien ihr schwer zu werden, und es dauerte lange, bis das weiße Blatt sich mit ihren klaren Schriftzügen füllte.

Als Antje diesen Brief las, wunderte sie sich. So kühl und nichtssagend hatte Maria noch nie geschrieben.

Es war ihr ein trauriger Gedanke, daß Maria ihren Entschluß nicht billige. Da hatten sie nun auf dem Köbinghof zusammen gesessen und über das alles gesprochen. Es war gewiß sehr erregt und wenig wohlwollend zugegangen. Sie wußte, daß Maren und Hille mit ihrem Wege nicht einverstanden waren – das kümmerte sie wenig. Wichtiger war ihr Marias Meinung gewesen – so wichtig, daß sie hätte ausschlaggebend werden können, wenn sie sich gegen ihre Pläne gekehrt hätte. Aber Marias Meinung war ja eine zustimmende gewesen. Hatte sie sich nun von den andern beschwatzen lassen? Fand auch sie es unrecht – wie Antje von den andern ohne weiteres annahm, daß sie zu einem geschiedenen Manne ging? –

Antje war glücklich über die Stellung, die sie nach kurzen Bewerbungen, so mühelos, so überraschend günstig gefunden hatte. Sie verhieß ihr eine Tätigkeit, die ihren Wünschen entsprach, fern von der Enge und Unruhe der Stadt, in der Weite und Einsamkeit des Landlebens; dazu eine Selbständigkeit und ein Gehalt, wie beides einer jungen Anfängerin selten zuteil wird. Sie wunderte sich fast, daß ihr dies alles so mühelos in den Schoß fiel. –

Und doch war eine gewisse Bangigkeit in ihr.

Es war der erste selbständige Schritt hinein ins Leben, das erste Alleinstehen auf eigenem Können und Wollen, in eigener Verantwortlichkeit für sich und andere. Sie kannte nicht die Verhältnisse, in die sie nun hineinging, wußte nichts von den Menschen, mit denen sie nun zu tun haben würde. Ihr Engagement war ohne persönliche Vorstellung erfolgt, nur auf die Empfehlung des Instituts, in dem sie gelernt hatte.

Als sie nachträglich erfuhr, daß der Graf Thoren von seiner Frau geschieden sei und einen Junggesellenhaushalt führe, hätte sie am liebsten ihr Jawort wieder zurückgezogen. Sie unterließ es, weil sie ihre Bedenken lächerlich fand. Was gingen die Familienverhältnisse ihres Prinzipals sie an? Sie sollte ja nicht in seinen Haushalt eintreten, sondern in seine Wirtschaft.

Immerhin – ihr war bange. Ein ermutigendes Wort von Maria hätte ihr wohlgetan. Nun blieb gerade das aus.

Um so besser. So lernte sie gleich gründlich, aus der eigenen Kraft zu schöpfen.

Am dritten Ostertage reiste Antje Terhalden ihrem neuen Ziele entgegen.

Es war ein sonniger, windiger Apriltag, mit weißen Lämmerwölkchen am feuchtblauen Himmel, mit Stargezwitscher und Lerchengetriller, mit zahllosen goldgelben Butterblumen auf den saftgrünen Wiesen und Weiden. Die weite Ebene tat ihre ersten durstigen Atemzüge dem Licht und der Wärme entgegen, die frischgepflügte, blauschwarze und braungelbe Erde duftete. Kälber, Füllen, und Lämmer tummelten sich um die behaglich sich sonnenden Mütter. Mitten in diesem erwachenden Frühlingsleben, sonnenbeglänzt, windumstürmt, lag Schloß und Dorf Thorenburg. Lauter saubere, kleine Arbeiterhäuser, rechts und links der breiten Dorfstraße, über der zwei Reihen alter Ulmen die feingefiederten im rötlichbraunen Knospenschmuck schimmernden Aeste wiegten. Kleine Hausgärten mit jungen Salat- und Blumenpflänzchen, grabenden Weibern und flachsblonden Kindern. Am Ende der Straße ein altes, steinernes Tor, die Mauern so breit wie die Flügel des mächtigen Eichentors, die rechts und links mit eisernen Ketten angelegt waren und anscheinend niemals geschlossen wurden. Dahinter der viereckige Gutshof – tiefe Ställe und breite Scheunen mit weit ausladenden Dächern. Der Torfahrt gegenüber das Schloß, einfach, mächtig, viereckig, mit vielen kleinen Fenstern und hohem, altersbraunem Dach; die ganze Vorderfront bis unter den First mit uraltem Efeu bewachsen. Ernst, fast düster, trotz der lachenden Sonne und der papageibunten Tulpenbeete rechts und links vom Eingang.

Im rechten Winkel gegen das Schloß, mit diesem durch einen verdeckten Gang verbunden, stand das Amtshaus. Vor dem Giebeleingang sonnten sich die Hunde und eine Magd fütterte die Hühner und Tauben, die sich durch den schnell heranrollenden Wagen nicht stören ließen.

In diesem Hause würde Antje fortan wohnen.

Sie bekam zwei kleine, helle Zimmer; es duftete darin nach Scheuerseife und frischer Wäsche. Die Vorhänge an den Fenstern waren blütenweiß und auf dem Sofatisch stand ein Strauß von Frühlingsgrün und Butterblumen.

Der Druck, der sich je länger je schwerer auf Antjes Herz gelegt hatte, begann zu weichen. Alles heimelte sie an; das Ernste, Altmodische, Saubere, Ordentliche, was drinnen und draußen in der Luft lag. Jeder schien hier viel Platz und viel Zeit zu haben, und in solcher Atmosphäre gedieh ein gemütliches Wohlwollen, eine behäbige Freundlichkeit, deren Ausdruck sich ihr in der dicken, alten Wirtschafterin mit dem steifen Tüllhäubchen auf dem grauen Haar und der breiten weißen Leinenschürze um die mächtigen Hüften verkörperte. Sie ließ sich Fräulein Dorette nennen und stellte sich gleich zu einem längeren Besuch bei Antje ein. Sie ließ es sich nicht merken, daß sie ein schreckliches Mißtrauen gegen diesen weiblichen Beamten hegte – den ersten seiner Art in der alten soliden Wirtschaft. Während sie Antje ihre Familienverhältnisse abfragte, um dann ihrerseits Antje über das gesamte Haus- und Hofpersonal nach Namen und Stellung zu unterrichten, musterte sie Antjes Erscheinung und den im ganzen Zimmer verstreuten Inhalt des halb ausgepackten Koffers. Das Ergebnis schien befriedigend zu sein, denn ihr breites Gesicht wurde immer wohlwollender, und sie empfahl sich schließlich mit der Bitte: wenn irgend etwas fehle oder wenn das Fräulein irgend etwas wünsche, möchte sie sich nur an Fräulein Dorette wenden, denn die sei hier die erste nächst dem Grafen und dessen rechte Hand.

Das war das einzige, was Antje heute über ihn erfuhr.

Sie verbrachte den Abend mit Auspacken und Ordnen ihrer Sachen. Dazwischen sah sie zum Fenster hinaus, solange das Licht reichte. Ihr Wohnzimmer lag nach dem Hofe hinaus; sie sah die Arbeitspferde in langen Reihen heimkehren – lauter schwere wohlgenährte Gäule. Sie sah das Jungvieh eintreiben, sah die Arbeitsgeräte ordnen, hörte die Knechte schwatzen und die Mägde lachen. Zuletzt sah sie durch das Tor einen hohen, kräftigen Mann schreiten, dessen Züge ihr die Dämmerung verschleierte; den alle ehrerbietig grüßten, und der mitten über den Hof auf das Schloß zuging und über die Schwelle trat. –

Ihr Schlafzimmerchen lag nach hinten und hatte nur ein Fenster. Es stand weit offen. Antjes Blick verlor sich in der Tiefe eines Parkes mit wunderschönen alten Bäumen. Die Mondsichel schwamm im klaren Aether. In irgend einem unsichtbaren Teich quakten die Frösche. Es duftete so wundervoll nach Frühling, nach Erde und schwellenden Knospen. Es wäre so erfrischend nach allem Reisestaub, nach aller Reisemüdigkeit, wenn man schnell einmal unter diesen alten wunderschönen Bäumen, im silbernen Mondflimmer herumlaufen könnte – aber Antje wußte den Weg nicht, der da hineinführte, und scheute die späte Stunde, in der Fräulein Dorette für Extrawünsche gewiß nicht mehr zu haben war. Das Fenster lag zu ebener Erde – es wäre ein leichtes, auf diesem nächsten Weg hinaus- und ebenso unbemerkt wieder hineinzugelangen. Antje erwog es einen Augenblick ganz ernstlich, dann verwarf sie, innerlich lachend, den Gedanken. Das wäre eine schöne Geschichte, gleich am ersten Abend »durchs Fenster« zu gehen! Wenn morgen jemand die Fußstapfen fände!

Antje schlief gesund und traumlos die ganze Nacht. Sie verzehrte mit gesundem Appetit, was Fräulein Dorette ihr zum Frühstück aufgetischt hatte, und wartete mit gesundem Mut auf alles weitere. Sie hatte kaum aufgegessen, als man ihr sagte, daß der Graf sie zu sprechen wünsche und sie bitten lasse, ins Amtszimmer zu kommen, wo er sie erwarte.

Sie brauchte nur ein paar Schritte auf dem mit Fliesen belegten Flur entlang zu gehen. –

»Seien Sie mir willkommen, Fräulein Terhalden. Haben Sie eine gute Reise gehabt?«

Das ist, was in solchen Momenten gewöhnlich gesagt wird. Aber die Stimme, die es sprach, kam Antje ungewöhnlich vor. Sie wenigstens hatte noch nie eine so warme, wohltuende Männerstimme gehört.

Sie erwiderte irgend etwas furchtbar Nichtssagendes und bemühte sich, gegen die Sonnenflut, die von den gegenüberliegenden Fenstern über sie hinströmte, die Augen zu öffnen.

»Das Licht blendet Sie –« fuhr die Stimme fort. »Kommen Sie etwas zur Seite. Hier – wir wollen uns an diesen Tisch setzen – ich möchte Ihnen gleich die Bücher übergeben.«

Während er sich über die schweren Rechnungsbücher beugte und langsam eins derselben aufschlug, sah sie ihn an.

Er war mager, kräftig, braungebrannt. Er mochte so alt sein wie ihr Bruder Arne. Er sah aus wie ein ernster, verschlossener Mensch mit einem unbeugsamen Willen. Hätte die Stimme nicht geklungen, die tiefe, warme Stimme – Antje hätte sich vor ihm gefürchtet.

Mit der Hand auf dem geöffneten Folianten wandte er sich zu ihr um.

»Dies ist Ihre erste derartige Stellung?«

»Meine erste überhaupt.«

»Und Sie glauben, den Aufgaben derselben gewachsen zu sein?«

»Ich kenne diese Aufgaben noch nicht.«

Rütjer Thoren sah sie prüfend an. Sie ist klug und ehrlich, dachte er. Energisch sieht sie auch aus. Aber wie eine vollendete Dame. Wenn das nur nicht ein Hindernis wird. Immerhin – es ist nun einmal geschehen – es muß versucht werden.

Dann machte er sie mit den Aufgaben ihrer Stellung bekannt.

Sie fühlte sofort, daß er in seiner Wirtschaft Bescheid wußte, daß er mit seiner Arbeit, seinen Leuten lebte. Daß er auch mit ihr leben würde, mit ihr arbeiten, ihre Leistungen überwachen, gelegentlich auch tadeln würde. Er verlangte gewiß viel und würde oft tadeln, und das würde sie sehr schwer ertragen.

Warum war der Posten, den sie hier bekleiden sollte, überhaupt nötig auf diesem Gut? Er hatte ja nur dies Gut und seine Arbeit; keine Familie, keine Aemter. Er mußte viel überflüssige Zeit haben, wenn er die nur anwendete, um seine Beamten zu beaufsichtigen.

Ich muß mich eben erst daran gewöhnen, daß ich in Stellung bin, dachte Antje, und dabei entfuhr ihr ein resignierter Seufzer. Rütjer Thoren war fertig. Er schob die Bücher beiseite und stand auf. Antje erhob sich gleichfalls. Er sah aus, als wolle er sie entlassen oder sich verabschieden.

Statt dessen fragte er ganz unvermittelt:

»Sind Sie verwandt mit Frau Maria Terhalden?«

Antje sah ihn verblüfft an.

»Sie ist meines Bruders Frau,« antwortete sie, und es klang in eine erstaunte Frage aus. – Er beantwortete sie mit kurzer Erklärung.

»Ich habe sie gekannt – vor vielen Jahren – als sie noch im Elternhause war. Ich hörte dann noch, daß sie einen Terhalden heiratete.«

Er schwieg. Es lag nicht in Antjes zurückhaltender Natur, die Unterhaltung fortzusetzen.

»Stehen Sie ihr nahe?« fragte nach einer Pause der Mann und sah sie mit seinen eigentümlich festen Augen an.

»Ich kenne sie wenig. Aber ich liebe sie sehr.«

Wieder verstrichen ein paar Sekunden. Dann sagte Rütjer Thoren mit ganz veränderter, sachlicher Stimme, aber sehr freundlich:

»Nun, ich hoffe, Sie werden sich bald in Ihre neuen Pflichten einleben. Ich bin bereit, Ihnen dabei nach Kräften zu helfen. Lernen Sie die Leute kennen, vor allem die Unterbeamten, mit denen Sie zu tun haben werden, Sie brauchen ihre Berichte für Ihre Bücher. – Sie werden es im Anfang nicht immer ganz leicht haben – die Männer hierzulande sind schwerfällig und zäh, und eine weibliche Hand in der Leitung der Geschäfte nicht gewöhnt. Aber ich wiederhole: ich bin bereit, Ihnen in allen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zur Seite zu stehen.«

Er machte eine kurze Verbeugung und ging. Sie sah ihm nachdenklich nach. Dann stand sie allein in dem kahlen, nüchternen Arbeitszimmer, in dem noch der veraltete, schlechte Tabaksgeruch schwebte, mit dem ihre Vorgänger es jahrelang durchräuchert hatten.

Sie riß ein Fenster auf. Dann räumte sie sich den großen häßlichen Schreibtisch zurecht und besetzte ihn mit allerhand Gebrauchsgegenständen, die sie sich mitgebracht hatte. Tintenfaß, Federn, Stifte, eine große Papierschere und ein wuchtiges Lineal. Mitten dazwischen stellte sie die Bilder ihrer Eltern. Sie brauchte persönliches Behagen zu ihrem Wohlbefinden, auch bei der unpersönlichsten Arbeit.

Während sie dies alles mit der ihr eigenen nachdenklichen Langsamkeit tat, mußte sie immer wieder überlegen:

»Wie ist er darauf gekommen, mich zu nehmen? Gerade mich?« Sie dachte nicht daran, daß dies in irgend einem Zusammenhang mit Maria stehen könne. Daß der Graf Thoren ihre Schwägerin einmal gekannt hätte, erschien ihr als eine nichtssagende Zufälligkeit, die nur so nebenher Erwähnung gefunden hatte.

Trotzdem erzählte sie es Maria in ihrem nächsten Briefe, auch so nebenher. Und als nach langer Zeit eine Antwort kam, enthielt diese nichts, was auf jene Mitteilung Bezug nahm. Maria schien sie ganz übersehen oder vergessen zu haben. –

Inzwischen lebte Antje sich schnell und gut ein. Das Mißtrauen, das ihr in der Tat hie und da entgegengebracht wurde, überwand sie schnell durch ihre ruhige Freundlichkeit, durch ihre geschäftliche Gewissenhaftigkeit und Tüchtigkeit. Den Anforderungen ihrer Stellung fühlte sie sich täglich mehr gewachsen. Daß sie ein Landkind war, erleichterte ihr das Verständnis für das Rechnungswesen, für den Umgang mit dem Volk. Sie widmete sich mit Eifer und Liebe ihrer Arbeit, und die Zeit verstrich ihr schnell. – An den langen Sommerabenden ging sie weit ins Feld spazieren oder sie träumte in dem einsamen Park, oder sie saß mit Fräulein Dorette schwatzend vor der Haustür.

Antje hatte sich das Herz der dicken Mamsell im Sturm erobert. Täglich fast machte diese ihr eine Liebeserklärung in immer neuer Form.

»Dacht ich doch, da käm irgend ein hochnäsiger Bücherwurm, der unser einen gar nicht sieht durch die Brille, die er auf der Nase trägt. Aber nee – die reine Leutseligkeit und Freundlichkeit.« –

Oder:

»Das ist doch ein ander Leben im Hause jetzt, als früher mit den jungen Bengels. Die ruinierten das Sofa mit den Schnürstiefeln und streuten den Tabak überall herum. Und fingen vor Langeweile immer Liebschaften mit den Mägden an. So schlau hätt der Herr Graf man längst sein sollen.«

Auf Grund solcher Erfahrungen schien Antjes Tugendhaftigkeit ihr unheimlich zu werden.

»Sie haben doch gar nichts für Vergnügen, gar nichts Junges, Lustiges! Ist Ihnen nicht einsam? Sie sind doch auch jung und anders gewöhnt!«

»Ich bin gar nicht so anders gewöhnt. Bei uns daheim war's immer ernst und einsam. Und so sehr jung bin ich auch nicht mehr.«

»Aber Sie wollen doch heiraten! Jedes Mädchen will das. Und hier find't sich doch nichts für Sie!«

Antje dachte an die Schwestern und mußte lächeln.

»Wenn ich das gerade suchte, wäre ich hier nicht hergekommen. Sie haben ja auch nicht geheiratet, Fräulein Dorette!«

Ueber das frische, alte Gesicht glitt ein Zug wehmütigen Sinnens.

»Meiner war Matrose. Er ist auf See verschollen. Zehn Jahre habe ich auf ihn gewartet. Darüber waren mir die Heiratsgedanken vergangen.«

Mir sind sie auch vergangen, dachte Antje. Ganz unmerklich, aber sie sind weg. Und es ist gut so. –

Fräulein Dorette konnte überhaupt nicht begreifen, weshalb die hübsche, gesunde Antje in Stellung gegangen war.

»Ist denn das Geld zu Hause gar so knapp, daß es nötig war?« fragte sie in gutmütiger Vertraulichkeit. Antje lachte.

»Nein – wegen des Geldes war's nicht nötig. Ich wollte eine ordentliche Arbeit haben.«

Das konnte Fräulein Dorette nicht begreifen. Daß man ums tägliche Brot arbeitet, gern und freudig arbeitet, das verstand sie; das tat sie ja selber. Aber nur zum Vergnügen –.

»Unser Graf arbeitet ja auch,« spann sie ihre Gedanken zu Worten weiter, »er ist sein eigener Inspektor und schiebt den ganzen Karren, und wegen des Geldes wär's auch nicht nötig. Davon ist genug da. Aber der hat einmal einen großen Kummer gehabt und da hat er mit dem Arbeiten angefangen, und dann hat er sich so daran gewöhnt, daß er's nicht mehr lassen kann. Glücklich ist er aber nicht dabei geworden, glaub ich.«

Antje sah erstaunt aus. Sie hatte wenig Menschenkenntnis, sie beobachtete wenig; sie war zu arglos und zu taktvoll dazu. Sie hatte über den Grafen Thoren eigentlich noch gar nicht nachgedacht. Er stand ihr täglich ein oder zweimal am Schreibtisch gegenüber, sprach Berufliches mit ihr, tat ab und zu eine freundliche Frage nach ihrem Befinden. Jeden Monatsersten rechneten sie zusammen ab. Dann saßen sie sich gegenüber und guckten in die Bücher und dachten nur an ihre Zahlen. Als Prinzipal hatte sie ihn schätzen, ihm unbedingt vertrauen gelernt. Als Menschen kannte sie ihn nicht, wußte sie nichts von ihm. Sie war so gar nicht neugierig. Der Mensch interessierte sie erst, wenn sie in ein persönlich menschliches Verhältnis zu ihm trat. Hier aber gab es nur das Arbeitsverhältnis des Untergebenen zum Vorgesetzten.

Und Antje hatte die glückliche Gabe, überall im Leben zunächst nur die Lichtseiten zu sehen. Deren Vorhandensein nahm sie von vornherein an, während sie sich vom Vorhandensein der Schattenseiten immer nur mühsam überzeugen ließ. Sie war eigentlich keine Optimistin, sie war in vielen Dingen ernst und schwer. Aber sie war arglos und natürlich.

So hatte sie, ohne darüber nachzudenken, den Grafen Thoren für einen zufriedenen Mann gehalten.

Fräulein Dorette belehrte sie eines andern.

»Ich bitte Sie – der und glücklich! Eine wunderschöne Frau soll er gehabt haben; aber sie sagen, sie hätte ihn gequält und halb verrückt gemacht, so kindisch sei sie gewesen. Dann hat sie ihn betrogen. Er hat's entdeckt und hat sie geprügelt. – Er kann furchtbar böse werden – und sie hatt's ja auch verdient. Aber sie hat sich's nicht gefallen lassen und ist ihm weggelaufen. Und er hat sie laufen lassen. Aber seit der Zeit war ihm alles über und er ist hierhergekommen. Eltern hatte er schon längst keine mehr, und für das Gut war's besser, daß er kam. – Aber für ihn! Du lieber Gott, da sitzt er nun mit seinen besten Mannesjahren in dieser Einsamkeit, hat nicht Weib noch Kind, nicht Freund noch Bruder. Fährt nicht aus – wo wollte er auch hin? Ist ja niemand hier herum. Alle Jahr einmal verreist er ein paar Wochen – aber fröhlicher sieht er nicht aus, wenn er zurückkommt. Er grämt sich eben – um sein verdorbenes Leben. Ein Jammer ist's. Helfen möcht man ihm. Aber was kann unsereiner dabei tun? Nicht einmal darüber reden darf man. Sehr gut ist er zu mir, hat mich ja auch schon in der Wirtschaft übernommen. Aber ich möcht mich nicht trauen, ein Wort über seine Sachen zu sprechen.«

»Warum hat er nicht wieder geheiratet?« fragte Antje.

»Ja, sehen Sie, Fräulein Antje – da fragen Sie nun ebenso und mich haben Sie ausgelacht, als ich Sie fragte. Er wird wohl genug gehabt haben an der einen; die rechte Lust hat gefehlt oder die Gelegenheit. Aber besser wär's gewesen. Schon um das Gut, das nun keinen Erben hat.« –

Die Folge dieser Unterhaltung war, daß Antje sich ihren Herrn bei der gewohnten geschäftlichen Unterredung am andern Tage zum ersten Male genauer ansah. Als käme ihr jetzt erst zum Bewußtsein: dies ist ein Mann, der ein schweres Schicksal hinter sich hat und es still und stumm durch ein ganzes einsames Leben trägt. Sie glaubte plötzlich, die Spuren dieses Schicksals in seinem Gesicht zu lesen und sie dachte, ob es denn gar nichts Warmes, Glückliches mehr in diesem einsamen Leben gäbe – nicht einmal eine Erinnerung. Sie war in ihrer schwerfällig intensiven Art so hingenommen von diesen Gedanken, daß sie eine Frage überhörte und nicht beantwortete.

»Woran denken Sie, Fräulein Terhalden?« fragte Rütjer Thoren.

Sie fuhr erschrocken zusammen und wurde dunkelrot. Er sah sie mißbilligend an, als käme ihm ein unbehaglicher Gedanke.

»Verzeihen Sie,« stotterte Antje, »ich war zerstreut.«

Er erledigte das Geschäftliche schneller als sonst, und als er ging, schien es ihr, als sei sein Gruß kühler als gewöhnlich. Sie ärgerte sich unbeschreiblich; sie schämte sich so sehr, daß sie beinahe weinte. Sie verrechnete sich an diesem Tage mehrere Male, und es geschah sogar das noch nie Dagewesene, daß sie über eine Störung ungeduldig wurde.

»Ich bin ganz albern,« schalt sie sich. »So etwas darf nicht wieder vorkommen.«

Und es kam auch nicht wieder vor, und das alte Gleichgewicht in und außer ihr war bald wieder hergestellt.

Einige Wochen später, als es anfing, Herbst zu werden, sagte Rütjer Thoren eines Morgens zu seiner Sekretärin:

»Sie haben nun den ganzen Sommer hier ohne Unterbrechung, ohne Abwechslung gearbeitet, Fräulein Terhalden. Ich möchte, daß Sie sich eine Erholungszeit gönnten. Sie sehen angegriffen aus.«

»Ich bin nicht angegriffen,« wehrte Antje, »es wird von dem vielen Sitzen sein –«

»Gleichviel,« fuhr Rütjer Thoren unbeirrt fort. »Jeder Beamte hat seine Ferien. Wollen Sie nicht nach Hause reisen?«

»Ich habe kein zu Hause. Ich habe keine Eltern mehr.«

»Aber Sie haben Geschwister –«

»Ja, zwei Schwestern und den Bruder. Der hat den Hof.«

»So reisen Sie zu Ihrem Bruder – oder wohin Sie sonst wollen. Sie haben vier Wochen Urlaub, den Sie jederzeit antreten können. Das Reisegeld bitte ich Sie, sich aus der Gutskasse zu nehmen.«

»Herr Graf –« unterbrach Antje.

»Reden Sie nichts dagegen – ich wünsche es so. Und wenn Sie meinen Wünschen entgegenkommen wollen, dann reisen Sie bald ab. Die Zeit ist jetzt am günstigsten.« –

Damit ließ er sie allein.

Antje hatte einen roten Kopf bekommen und machte ein finsteres Gesicht.

Das sah ja aus, als ob er sie los sein wollte. Und daß er ihr zu diesem aufgezwungenen Urlaub noch das Reisegeld schenkte, kränkte sie. Geldgeschenke war sie nicht gewöhnt – brauchte sie auch in ihrer Stellung nicht anzunehmen.

Aber natürlich würde sie reisen, und zwar so bald als möglich.

Sie schrieb an Maria und bat um telegraphische Nachricht, ob sie kommen dürfe. Sobald diese in Gestalt eines freudigen Willkommengrußes eintraf, packte sie ihren Koffer.

Sie schloß ihre Bücher ab und teilte dem Grafen ihre bevorstehende Reise mit.

»Wohin gehen Sie?« fragte er.

»Zu meinem Bruder.«

Er machte ein versonnenes Gesicht. Dann wünschte er ihr einen angenehmen Aufenthalt, und gab ihr – zum allerersten Male – die Hand. Es schien, als wolle er noch etwas sagen – aber er drehte sich kurz um und verließ das Zimmer.

»Grüßen Sie Maria,« hatte er sagen wollen.


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