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XV.

»... Die Sonne lacht vom Himmel, sie lacht aus Haralds Augen und in meinem Herzen. Die ganze Welt ist Sonne – – –«

So schrieb Antje in ihrem ersten Brief, nachdem sie den Köbinghof verlassen hatte.

Maria las das wieder und wieder. An Antje dachte sie nicht dabei. –

Es war mit einem Male wieder leer und still geworden im Hause, und sie war allein mit Arne, allein mit ihrem Schicksal. Wie früher.

Und nun würde alles wieder werden, wie es früher gewesen war. Nur sie – sie sollte anders sein. Das hatte sie Harald versprochen. Das hatte sie sich vorgenommen. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo sie dies Versprechen erfüllen mußte.

Bisher hatte so viel anderes das Haus erfüllt, zwischen ihr und ihrem Leben gestanden, das die brennenden Fragen dieses Lebens betäubte, das sie heraus riß aus ihrem eigenen Schicksal, hinein in das Schicksal anderer. Es hatte sie ausgefüllt, abgelenkt, ihr über sich selbst hinweggeholfen. Sogar der kleine Alf war nicht mehr so oft gekommen, sie mit seinen süßen Kinderaugen anzusehen und mit seinen kleinen Fingern an die wundesten Stellen ihrer Seele zu rühren. – Nun war das alles vorbei. Sie war allein, auf sich selbst und ihre eigene Kraft angewiesen. Und der Wille, der aus dieser Kraft schöpfen sollte, von dieser Kraft abhing, stand da und wartete, ob diese Kraft ausreichen würde.

Wenn ich Harald behalten hätte, dachte Maria, so wäre es leichter gewesen. So hätte ich eine Hilfe gehabt, an der ich allmählich wieder erstarkt wäre.

Aber das Leben geizt mit solchen Hilfen. Es stellt den Menschen ganz allein auf sich selber. »Nun zeige, was du kannst.«

Maria war nicht ein Mensch, der sich in seiner Schwäche gehen ließ, der Schwäche und Hilfsbedürftigkeit interessant fand. Sie sah ihre eigene Schwäche an wie eine Krankheit, die überwunden werden mußte, wenn sie nicht zum Tode führen sollte, zu einem kläglichen, kraftlosen Sterben. Maria fand keinen Reiz an solchem Sterben aus Schwäche. Dahingestreckt werden von wuchtigen Schicksalsstreichen mitten in mutigem Kampf – das konnte groß, das konnte sogar beneidenswert sein. Aber willenlos sich dem Schicksal ausliefern, – da bin ich, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, mach aus mir, was du willst –

Ihr fielen Haralds Worte ein: du bist zu schade, um elend am Leben zu sterben.

Die alte Lebensfreudigkeit regte sich in ihr. Nicht mit lachender Daseinswonne, sondern mit heiligem Kampfesmut. Gott schickt die Leiden nicht, damit wir daran zugrunde gehen, sondern damit wir daran stark werden.

Sie wollte einst vor Gott bestehen mit ihrem Leben, mit sich selber. Man kann sich selber retten, indem man sich selber aufgibt, die eigenen Zwecke, die eigenen Glücksbedürfnisse aufgibt, um über sich selber hinaus nach Höherem zu greifen. Das ist das Höchste und Schönste im Leben, daß man frei wird von sich selber, um so das eigene Ich zu der höchsten Vollendung zu führen; um so die Früchte zur Reife zu bringen, deren Möglichkeiten in den göttlichen Keimen der Persönlichkeit schlummern. Ein jeder nach seinem Vermögen. Auch das engste Leben läßt Raum für solche Entwicklung. Und wenn man die engen Grenzen des Lebens nicht sprengen kann, so kann man doch die Grenzen des eigenen Ich sprengen und über das Leben siegen, so wie es ist.

Alle diese Gedanken, die Maria in den ersten Tagen ihres Alleinseins mit sich herumtrug, waren der beste Beweis dafür, daß ihre Kraft nicht erloschen war, sondern nur eine vorübergehende Lähmung erlitten hatte. Es liegt etwas Tragisches in solch unverwüstlicher Lebenskraft. Sie führt zu immer neuen Anstrengungen, neuen Kämpfen, neuen Wunden. Schwäche ist viel bequemer. Man legt sich hin und läßt alles gehen, wie es will, und wenn es schlecht geht, so kann man nichts dafür, man hatte eben keine Kraft. Und doch sind die Starken zuletzt immer die Glücklichen, ob sie nun siegen oder unterliegen. Denn sie gehen über die Höhen des Lebens zu der rechten Wertschätzung der Dinge. Das ist der Sinn des Wortes: wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen. Nur darf es nicht ein Verlieren in Schwäche sein, sondern ein Aufgeben in Kraft.

Arne Terhalden merkte wie gewöhnlich nichts von dem, was in Marias Seele vorging. Er hatte keinen Blick für die Vorgänge des inneren Lebens. Bis vor kurzem – bis zu der traurigen Geschichte mit dem kleinen Alf – hatte er Maria für eine glückliche Frau gehalten. Warum auch sollte sie nicht glücklich sein? Glück bedeutete für ihn eine normale, angenehme Lebenslage. Daß das Glück viel mehr, fast einzig von inneren Dingen abhängt, begriff er nicht. Daß diese inneren Dinge für jeden Menschen andere sind, begriff er erst recht nicht. Für ihn gab es nur ein Was, aber kein Wie.

Seit dem Tode des kleinen Alf hielt er Maria für verstockt und eigensinnig.

Am Abend des Tages, an dem dieser Brief von Antje gekommen war, ging Maria zu später Stunde in Arnes Zimmer. Der späte Abend ist immer die beste Zeit für die intimen Dinge des Lebens. Die Erde schläft, und man ist allein miteinander.

»Ich muß mit dir reden, Arne,« sagte sie und setzte sich ihm gegenüber. Es war etwas Festes, Feierliches in ihren Worten, das ihn ungemütlich stimmte. Er dachte: jetzt kommt wieder so eine zwecklose Auseinandersetzung. Sie sollte doch wissen, daß ich nicht der Mann dafür bin.

»Was gibt's?« fragte er und machte ein wenig ermutigendes Gesicht, wie jemand, der sich einen kalten Harnisch umschnallt. Maria dachte sich das und sah ihn nicht an, um dem lähmenden Einfluß dieses Gesichtes, das sie kannte, zu entgehen.

»Wir können nicht dauernd so miteinander weiterleben.«

»Du selbst hast dies Leben herbeigeführt. Ich habe es nicht gewollt.«

»Gut. So wirst du zugeben, daß es an mir ist, es wieder zu ändern –«

»Ich spüre keine Lust, ein Spielball deiner Launen zu sein.«

»Was nennst du ›Laune‹? Das alles ist so geworden durch den kleinen Alf. Die Trauer, nenne es getrost die Verzweiflung um ein Kind, das man verliert, das man so verliert, ist mehr als Laune.«

»Es ist nicht meine Schuld, wenn du dich nicht in den Willen Gottes finden kannst,« sagte er.

Maria legte die Stirn in die Hand. War das nur so eine pharisäische Redensart? – Nein. Redensarten machte Arne nicht. – War er also so viel frommer als sie? Hatte er auch gelitten wie sie, still gelitten und stark überwunden?

Er war ein gläubiger Mensch, ja. Aber sein Glaube war kalte Vernunft, selbstverständliches Annehmen. Nicht heißes Empfinden, brünstiges Ringen.

»Es ist manchmal sehr schwer, sich in den Willen Gottes zu fügen,« sagte sie leise. »Namentlich, wenn er sich so äußert. Kurz und gut –« fuhr sie fort und richtete sich auf in einer plötzlichen Willensextase, »ich muß mich mit dir darüber aussprechen, Arne. Ich komme sonst nie darüber hinweg.«

»Ich wüßte nicht, worüber wir uns auszusprechen hätten,« sagte er. »Aussprachen sind nur ein Ballast von Worten, den man sich gegenseitig in den Weg legt.«

»Nein Arne, es gibt Dinge, die nur durch eine ehrliche Aussprache aus dem Wege geräumt werden können. Sie bilden eine Trennung, wenn man nicht darüber hinweg zueinander steigt, mit offenen, mutigen Worten. Sie müssen im wahren Sinne des Wortes weggesprochen werden.«

»Ich sehe keinen Nutzen davon, daß wir noch einmal über unsre Ehe sprechen. Wir haben – das heißt, du hast das im Anfang genug getan, und es hat zu nichts geführt. Ich weiß, daß du nicht zufrieden mit mir bist. Ich habe dir oft genug gesagt, daß ich das für dich bedaure, daß ich mich aber nicht anders machen kann, wie ich bin. Ich dachte, du hättest dich endlich damit abgefunden. Auch ich habe manches an dir ignorieren müssen, was mir nicht behagte. Unter Eheleuten wird wohl selten einer den andern ganz so finden, wie er ihn sich dachte und wünschte. Damit muß man sich stillschweigend abfinden und nicht ewig aneinander herummodeln wollen. Ich finde es ganz zwecklos, daß du diese alten Geschichten wieder anfängst. Ich dachte, du hättest das nun endlich beiseite gelegt.«

Maria hatte ihn ruhig ausreden lassen. Es war schon viel, daß er überhaupt sprach; es tat ihr gut, obgleich es lauter harte, kalte Worte waren. Nun hob sie das Gesicht aus der Hand und sah ihn still an.

»Ich wollte gar nicht über unsre Ehe mit dir sprechen.«

Er war erstaunt, kam sich hereingefallen vor und ärgerte sich.

»Ueber was denn? Wenn es durchaus sein muß, so sage es doch endlich.«

»Ich wollte über den kleinen Alf mit dir sprechen.«

Das war nun das allerschlimmste. Denn in diesem Punkte fühlte Arne sich nicht sicher. Er beschloß, ihr vorzugreifen.

»Du willst mir wahrscheinlich Vorwürfe machen. Du warst ja mit Bezug auf ihn nie einverstanden mit mir.«

»Nein, auch das wollte ich nicht. Das hätte gar keinen Zweck mehr.«

»Dann willst du mir also sagen, daß ich seinen Tod verschuldet habe –« Er stieß es hart hervor. Jeder Zug in seinem Gesicht wurde steinern.

»Ja, Arne.«

»Und daß ich dich damit unglücklich gemacht habe.«

»Ja, Arne.«

»Nun gut, wenn du dies Bekenntnis von mir wolltest – das hättest du längst haben können –«

»Nicht so, Arne!« In ihren Augen war ein zitterndes Flehen. Er sah es nicht.

»Wie denn? Willst du, daß ich dir als reuiger Sünder zu Füßen falle? Ich empfinde mich nicht als solchen. Außerdem wüßte ich nicht, was ich dir abzubitten hätte. Alf war mein Kind ebensogut wie deines. Er starb mir ebenso sehr wie dir. Du wirst doch nicht behaupten wollen, ich hätte absichtlich –«

»Nein, Arne,« unterbrach sie hastig. »Aber siehst du, gerade weil es uns gemeinsam traf, hätten wir es auch gemeinsam tragen müssen. Daß wir es nicht getan haben, das hat uns auseinandergebracht.«

»Es ist nicht meine Art, über seelische Vorgänge zu sprechen. Ich kann am besten allein damit fertig werden.«

»Ich aber nicht –« sagte Maria.

Und da waren sie wieder an dem alten Punkt angelangt, den sie ja eigentlich hatten vermeiden wollen. Arnes starre Selbstsucht, die nicht die Notwendigkeit anerkannte, sich der Art eines andern anzupassen oder auch nur sich helfend zu ihr herabzulassen. Ich bin so wie ich bin, und wenn andre damit nicht einverstanden sind, so ist das nicht meine Schuld. Seine Nichtachtung, sein Nichtverstehen jeder andern Art. Sein Mangel an Liebesfähigkeit – der Fähigkeit, sich in den Andern hineinzuversetzen, aus des Andern Art heraus den Andern zu begreifen, zu entschuldigen; ihm zu geben, was er braucht, wonach er hungert und dürstet, auch wenn er solchen Hunger und Durst nie selbst empfand. Der Mangel an Liebe überhaupt. – Und neben ihm das Weib, das an diesem Mangel zugrunde ging. –

Er sagte nichts auf ihre letzten Worte. Was er zu sagen gehabt hätte, das hatte er früher schon so und so oft gesagt und hielt eine Wiederholung für überflüssig.

Maria war es recht so, daß er nicht antwortete, sie nicht noch mutloser machte.

»Siehst du, Arne,« fuhr sie nach schwerem Schweigen fort, »das ist es ja eben – du bist so wie du bist, und du hast ja auch in gewisser Weise ein Recht dazu; ein Recht, zu verlangen, daß ich mich darein finde. Aber ich bin auch so, wie ich bin, und wie ich bin, das weißt du ganz genau, und es ist doch eigentlich sehr grausam von dir, daß du mich so neben dir leiden läßt und hast nicht einmal ein gutes Wort für mich. Ich meine auch jetzt nur das mit dem kleinen Alf. Du weißt – trotz dem, was du vorhin sagtest –, daß der kleine Alf mir mehr gestorben ist als dir; ich liebte ihn mehr –«

»Woher willst du das wissen?«

»Gib es doch zu, Arne. Du selbst hast mich ja oft genug gescholten wegen meiner übertriebenen Liebe. Du hast vielleicht kein Verständnis dafür, daß ich ihn so über alle Maßen liebte. Aber es war doch so. Und nun starb dies Kind an dir. Ja, Arne, an dir, an deiner Strenge, an deiner Verständnislosigkeit. Du hast das beste gewollt, und ich mache dir keinen Vorwurf daraus, daß du irrtest. Und nun war es geschehen. Du mußtest wissen, wie mich das traf; es ist ganz unmöglich, daß du dir darüber nicht klar warst. Du sahst es ja. Ich habe mir keine Mühe gegeben, es vor dir zu verbergen. Du mußtest wissen, mußtest wenigstens ahnen, was das für eine Frau bedeutet, wenn ein Kind ihr auf solche Weise genommen wird. Mancher an deiner Stelle würde vor den Folgen gezittert haben. Du ließest sie ruhig eintreten. Du hast dich nicht um mich gekümmert in jenen schrecklichen Tagen, du fandest es selbstverständlich, daß ich mich abfand – mit diesem wie mit allem –«

Arne machte eine ungeduldige Bewegung.

»Ich wußte es ja vorher – es kommt immer darauf hinaus, daß du mir Vorwürfe machst.«

»Ich wartete ja nicht auf Reue und Zerknirschung,« fuhr sie unbeirrt fort, »die gehörten nicht vor mich, sondern vor einen Anderen, Höheren. Ich wartete nur auf ein Wort der Liebe für mein verarmtes, zerschlagenes Herz. Und wenn du nur mit mir geweint hättest –«

»Du stellst fortgesetzt Ansprüche an mich, die ich nicht erfüllen kann.«

»Ich will dir nur erklären, wie es kam, daß ich mich gegen dich empörte, verhärtete. Daß es mir unmöglich war, weiter mit dir zu leben, wie jede Frau mit ihrem Manne lebt. Meine ganze Seele sträubte sich gegen dich. Ich konnte nicht mehr. – Du hast mich ja dann auch gewähren lassen, wie du mich immer gewähren läßt. Diesmal war ich dir dankbar dafür. Es war eine große Ehrenhaftigkeit von dir, die ich nicht unterschätzt habe.«

Arne lachte kurz auf.

»Also diese gute Eigenschaft wenigstens läßt du mir.«

»Ich anerkenne alle deine guten Eigenschaften. Aber ich habe mir oft gewünscht, du möchtest weniger gute Eigenschaften und – mehr Herz für mich haben.«

»Ich trage mein Herz nicht auf der Zunge. Wenn du nach Worten allein das Vorhandensein des Herzens abschätzest, so stellst du dir ein bedauerliches Armutszeugnis aus.«

Maria sah ein, daß sie auf diesem Wege nicht weiterkam. Sie bereute, diesen Weg, auf dem sie schon so oft unverrichteter Sache hatte umkehren müssen, überhaupt eingeschlagen zu haben. Es wäre ohne Aussprache am Ende doch besser gegangen. Ebenso stillschweigend, wie er sich in den jetzigen Zustand gefunden hatte, würde er sich vielleicht in einen neuen Zustand gefunden haben. Aber sie konnte das nicht; konnte sich nicht an all diesen Dingen vorbeischweigen. Wenn sie jetzt, ohne ein Wort zu verlieren, ihr Wesen hätte ändern sollen, das wäre gewesen, als wenn man ein Pflaster auf eine eiternde Wunde klebte oder als wenn man frische Farbe auf verfaultes Holz streicht. Darunter frißt und fault es weiter, der Schaden wird ärger als zuvor. Der alte Schutt muß beseitigt werden, ehe der neue Bau aufgeführt werden kann. –

Sie gab es wieder einmal auf, ihn zu verständigen. Aber sie hatte doch nun wenigstens sich selbst freigesprochen.

»Was bezweckst du eigentlich?« fragte Arne. »Du kannst doch nicht der Meinung sein, daß es nach all den Liebeswürdigkeiten, die du mir da gesagt hast, besser zwischen uns werden soll. Es wäre wenigstens ein sehr merkwürdiger Annäherungsversuch.«

»Ich möchte gern, daß du auch einmal etwas sagtest!«

»Ich habe nichts zu sagen.«

»Dann – antworte mir bitte auf das, was ich fragen werde – weil ich es wissen muß –«

Er seufzte ungeduldig. Aber er widersprach wenigstens nicht.

Er wurde schließlich neugierig, was sie fragen wollte. Es schien ihr sehr schwer zu werden. Sie stand langsam auf, emporgehoben von irgendeiner schweren Erregung. Sie schloß sekundenlang die Lider, wie in einer jähen Schwäche. Sie sah entsetzlich elend aus. Das fiel sogar ihm auf, der sonst nie etwas an ihr bemerkte. Und noch etwas fiel ihm auf, über dessen Art er sich nicht Rechenschaft geben konnte. Es war das frauenhaft Hohe, Reine und Gute einer durch tausend Schmerzen geläuterten Frauenseele.

Seine geharnischte Stimmung ging für Augenblicke unter in einer ängstlichen Spannung.

Maria schlug die Augen auf und sah ihn ernst an.

»Ich will wissen, ob du mich behalten willst, Arne.«

Was war das nun wieder für eine Ueberspanntheit. – – –

»Das ist doch selbstverständlich,« sagte er kurz.

»Das ist nicht selbstverständlich. Ich meine nicht, ob du es für deine Pflicht hältst, es gewissermaßen als Anstands- und Ehrensache betrachtest. Ich meine, ob es dein Wunsch ist, der Wunsch deines – Herzens.«

Ihre klaren, traurigen, furchtlosen Augen verwirrten ihn. Mit solchen Augen kann man nichts Schlechtes vorhaben. Aber es war ihm unklar, was sie überhaupt vor hatte.

»Ich begreife nicht, was das alles soll –« sagte er ausweichend.

»Bitte, antworte mir!«

Jetzt stand auch er auf. Er konnte es nicht mehr ertragen, daß sie da so vor ihm stand.

»So, wie du in dieser letzten Zeit warst, liegt mir allerdings nicht viel daran, dich zu behalten. Denn ich habe dich ja so wie so nicht mehr. Aber wenn du beschlossen hast, vernünftig und umgänglich zu werden – dann brauchst du nicht erst zu fragen. Dann konntest du dir das allein beantworten.«

Maria fühlte einen kalten Frost über ihren Körper kriechen.

Das hätte sie allerdings vorher wissen können, daß er nicht die Notwendigkeit empfinden würde, durch eine Aenderung seines Wesens zu der Neugestaltung ihres Verhältnisses beizutragen. Er war solcher Aenderung eben nicht fähig. Nur sie mußte sich ändern. Ihr allein war alles anheimgestellt.

Sie nahm es auf sich.

»Es ist gut,« sagte sie. »Nun weiß ich doch, woran ich bin. Es ist oft so schwer, das zu wissen, dir gegenüber. Wir wollen das alles nun abgetan sein lassen und versuchen, so zu leben, als wäre es nie gewesen.«

Sie hielt ihm die Hand hin, die er nur flüchtig und verlegen berührte.

Dann blieb sie bei ihm sitzen und sprach von alltäglichen Dingen – wirklich so, als wäre nie »etwas« gewesen.

Arne wurde es zuerst doch schwer, auf diesen Ton einzugehen. Er war verstimmt durch diese ganze Unterhaltung. Er begriff Marias Empfindungsart nicht. Wenn sie endlich einsah, daß sie sich unrichtig gegen ihn benommen hatte und sich ändern wollte, so konnte sie das stillschweigend tun – ebenso wie sie damals stillschweigend ohne irgend eine Erklärung sich von ihm abgewendet hatte.

Seelische Vorgänge, die er nicht verstand, hielt er für Launen oder Nerven. Beides kurierte man seiner Ansicht nach am besten durch absolutes Nichtbeachten, und im äußersten Falle durch Vermeiden von Reizungen. So hatte er auch Maria kuriert. Wie es schien, mit Erfolg. Wenn sie gehofft hatte, dadurch, daß sie sich von ihm abwendete, und ihre Pflichten gegen ihn vernachlässigte, etwas von ihm zu erreichen, ihn zu ändern, zu erschrecken, ihn sich ihr zu beugen, so hatte sie sich geirrt. Das hatte sie nun wohl eingesehen, zugleich mit der Notwendigkeit des Wiedereinlenkens. Und weil sie zu eigensinnig, zu überzeugt war von ihrem Recht, um einfach durch ein verändertes Benehmen einzugestehen: Ich habe unrecht getan, ich will es wieder gut machen – darum inszenierte sie das Wiedereinlenken mit einer theatralischen Komödie.

Arne war gnädig genug, sie gewähren zu lassen; die Hauptsache war ja, daß sie sich änderte. Wenn sie die Notwendigkeit empfand, dies mit tragischem Gefühlskram vor sich und ihm zu begründen, zu rechtfertigen, so wollte er das scheinbar gelten lassen, um der Sache willen. Ihm war der Zustand dieses letzten Jahres unbeschreiblich unbequem und lästig gewesen. Er hatte – auf seine Art – sogar darunter gelitten. Aber auch wenn dieser Zustand geblieben wäre, hätte er nie einen Versuch gemacht, ihn zu bessern. Er hatte ihn nicht herbeigeführt, und er hatte eine heillose Angst vor einem Mißerfolg solcher Bemühungen. Einer Ablehnung setzte er sich nie aus, und wo er je eine solche erlitten, trug er sie starrnackig nach und vergaß sie nicht wieder.

Nun hatte sie sich ihm wieder angeboten. Es war also das einfachste, er nahm sie wieder in Gnaden an. Sonst riskierte er womöglich irgend einen Skandal. Und Skandale haßte er. Er kam sich gewissermaßen großmütig vor in der Rolle des nachsichtig Verzeihenden.

Er wußte nicht, daß kaltes, pharisäisches Verzeihen viel demütigender, kränkender wirkt, als leidenschaftlich aufbrausender Zorn.

Wenn er heute abend getobt und gescholten und ihr dann einen ehrlichen Kuß gegeben hätte, so wäre ihr wohl gewesen. Nun bedurfte es ihres ganzen, ehrlichen, inbrünstig heraufbezwungenen Willens, um nicht auf dem tapfer betretenen Wege zu ermatten.

Ich will mich tot machen, damit ich wieder leben kann, dachte Maria wieder und wieder. Ich stehe nun mal in dieser Ehe; ich selbst bin schuld an allem. Ich will nicht andre leiden lassen unter meiner Schuld. Wenn er mir heute gesagt hätte, daß ihm nichts mehr an mir gelegen sei, so wäre ich von ihm gegangen. Es wäre die einzige Art gewesen, mich von der Lüge meines Lebens, von der Unsittlichkeit dieses Ehelebens ohne Liebe zu befreien. Aber er will mich behalten. Folglich muß ich bleiben. Mein Leben ist an das seine gebunden, ich habe nicht das Recht, es selbständig von ihm loszureißen.

Es wird heutzutage so viel geredet und geschrieben von dem Recht der Persönlichkeit, von dem Joch der Ehe, von der Freiheit der Liebe, dachte Maria weiter. Aber das sind alles nur Flitter, mit denen der Mensch seine Schwäche bemäntelt, seine Schwäche gegen das Leben, gegen sich selber. Man soll nicht fortwerfen, was hinderlich ist – man soll es überwinden. Man soll nicht seinen Trieben leben, sondern seinen Pflichten. Man soll seine Leidenschaften nicht austoben, sondern man soll sie heiligen. Wohl gibt es Konflikte zwischen dem, was man sich selbst, und zwischen dem, was man andern schuldig ist. – In solchem Konflikt kann man aber nur dann für sich selbst entscheiden, wenn solch Sichselberwählen nicht gegen Sitte und Recht verstößt. Die Ehe ist eine heilige Sitte und ein urewiges Recht. Wer die Ehe nicht achtet, der soll sie nicht eingehen. Wer aber einen Schwur getan hat, der soll ihn halten. Man kann ihn im Irrtum tun. Irrtum ist nicht Schuld. Irrtümer werden nicht dadurch gut gemacht, daß man sich den tragischen Folgen feige entzieht, sondern dadurch, daß man die Folgen mutig auf sich nimmt, koste es, was es wolle. Das ist nicht Kraft, daß man rastlos und rücksichtslos der Befriedigung wechselnder Bedürfnisse, Leidenschaften und Wünsche nachjagt. Sondern das ist Kraft, daß man sie unterordnet der allmächtigen Hand, die unser Leben gestaltete, wie es ist, die uns auf Wegen führt, die wir nicht verstehen; die uns Tage schickt, die uns nicht gefallen; die zuläßt, was wir nicht begreifen; die bereit ist, uns zu halten, wenn wir sie ergreifen; die immer über uns liegt, so viel wir uns dagegen wehren, so gern wir sie verleugnen möchten, so oft wir versuchen, uns ihr zu entziehen.

Nur dann ist das Leben zu ertragen, zu überwinden, wenn wir es ganz in diese Hand legen – und uns mit ihm.

So dachte Maria und so handelte sie. So konnte sie handeln, weil sie stark war; weil sie ihre Persönlichkeit beherrschte und nicht von ihr beherrscht wurde. –

Arne ließ alles stillschweigend geschehen. Daß sie aus ihrer Abgeschiedenheit herauskam und wieder Interesse für seine Angelegenheiten zeigte; daß sie wieder mit ihm lebte in den Kleinigkeiten des Tages; daß sie das Zimmer des kleinen Alf abschloß und wieder zu ihm kam.

Er verlor kein Wort über das alles, er zeigte weder Staunen noch Freude. Er nahm sie wieder hin, so etwa, als sei sie von einer langen Reise zurückgekehrt und träte wieder in ihre Pflichten ein, an deren Wiederaufnahme ihrerseits er nie gezweifelt, nach der er sich nicht einmal besonders gesehnt hatte, weil es eben ganz selbstverständlich war, daß sie das alles eines Tages wieder tun würde. –

So glitt ihr Leben ganz geräuschlos, ganz von selber, wie ein Schiff, dem eine unsichtbare Hand das Steuer dreht, wieder in sein altes Gleise zurück. Arne wurde ein klein wenig freundlicher, und Maria kam zur Ruhe, weil sie die Krisis überwunden hatte, weil sie wieder fest geworden war. Sie lebte ihren Pflichten mit der Hingabe ihrer ganzen Kraft, und sie lebte ihrem Leid und ihrer Liebe, ihrem Ich und seinen Nöten in der Stille ihrer einsamen Seele.


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