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XIV.

Harald Overberg zog in aller Morgenfrühe ein Pferd aus dem Stall und sattelte es höchst eigenhändig. Früher war es Arne Terhaldens Reitpferd gewesen. Seitdem er vor Jahr und Tag das Reiten aus Mangel an praktischem Zweck – die Feldmark war klein genug, um zu Fuß abgelaufen zu werden – und Passion aufgegeben hatte, ging es nur noch im Wagen. Aber der Sattel war noch da, und Harald hatte gerade eine unüberwindliche Lust, zu reiten.

Der Kutscher hatte allerhand Bedenken, hatte Angst vor Arne, der nicht gefragt worden war. Harald lachte ihn aus und galoppierte zum Hofe hinaus. – Erst zu Mittag kam er wieder. –

Arne war verstimmt.

»Du hättest mich wohl erst fragen können –«

»Gestern abend wußte ich noch nicht, daß ich heute morgen reiten wollte, und heute morgen schliefst du noch. Sei nicht böse darum – die Bewegung war dem Gaul höchst dienlich.«

Arne brummte etwas von verwilderten Sitten. Harald hörte nicht hin, ging hinauf und zog sich um, wobei er wieder nach Herzenslust sang und pfiff. –

Drüben in ihrem Zimmer stand Antje, drückte die Hände auf das ungestüme Herz und hörte zu.

In strahlendster Laune erschien er beim Mittagstisch. Seine stille, blasse Schwester umarmte er wie ein wilder Junge.

»Kleine Mia!« sagte er zärtlich und setzte flüsternd hinzu: »ich hab mir was ausgedacht, heut morgen. Was für dich. Aber Neinsagen gibt's nicht. Es geschieht einfach!«

Sie dachte an Antje und begriff nicht recht, wie ihr Neinsagen dabei eine Rolle spielen könne. Erstens würden die beiden ja doch tun, was sie wollten, und zweitens würde sie durchaus nicht nein sagen.

Harald fing den Blick auf, der von ihr zu Antje hinüberflog.

»Deine Schwägerin hat gar nichts damit zu tun,« sagte er.

Maria wurde rot. Antje machte ihre strahlenden Augen weit auf, sagte Harald »guten Morgen«, obgleich es schon Mittag war und wurde gar nicht rot. Sie hatte ohnehin schon Rosen auf den Wangen.

Die Unterhaltung bei Tisch besorgten die beiden allein. Arne war verstimmt, Maria war zerstreut. Die Kinder hatten ein für allemal zu schweigen, wenn sie nicht angeredet wurden. Heute horchten sie erstaunt und befremdet auf all die lustigen Nichtigkeiten, die die beiden sich zu sagen hatten und bemerkten nicht, daß etwas Krampfhaftes, Gewolltes darin lag.

Nach Tisch sagte Harald zu Antje:

»Ich gehe in den Garten. Kommen Sie auch hin?«

Natürlich wollte sie. Aber sie zögerte doch mit der Antwort.

»Muß es sein?«

»Ja, es muß sein.«

»Gut, so werde ich kommen.«

Nach Tisch war auf dem Köbinghof die Zeit, die jeder nach Geschmack und Laune für sich verwenden konnte, wo keiner das Recht hatte, Ansprüche an den andern zu erheben. Wenn zwei eine Ausnahme von dieser Regel machten, so ging das einen dritten nichts an.

Antje tat noch allerhand, was gerade jetzt zu tun gar nicht nötig gewesen wäre. Dann kramte sie mit vieler Umständlichkeit in ihrem Zimmer einen Hut hervor, den sie dann doch nicht aufsetzte. Ihr war so heiß, sie sehnte sich nach Abkühlung in der frischen Frühlingsluft. – Langsam, sehr langsam trat sie den ihr anbefohlenen Gang in den Garten an.

Aus der Küche scholl das Schwatzen der Mägde. In den zartgefiederten Spiräen flötete eine Amsel. Irgendwo hoch oben trillerte eine Lerche. Es war ein rechter satter Nachmittagsfriede. –

Drüben, jenseits des Grasplatzes, auf einem tief angewachsenen, koboldig gewundenen Buchenzweig saß Harald Overberg. Unter seinen Augen mußte sie den ganzen langen Weg um den runden Platz herum zurücklegen. Sie kam nicht auf den Gedanken, abkürzend quer über den Rasen zu gehen. Sie dachte überhaupt nicht.

Er kam ihr nicht einen Schritt entgegen. Still, mit wahrem Wohlbehagen sah er sie näherkommen. Wie lang und sicher sie ausschritt, wie gerade und stolz sie sich hielt! Antje – Antje –.

Er hätte es ihr beinahe laut entgegengeschrien.

Nun stand sie dicht vor ihm und sah ihn an.

Eigentlich war es ganz überflüssig, etwas zu sagen. Aber es mußte doch sein.

Harald Overberg stand auf. Angesichts der Entscheidung kam eine stürmische, knabenhafte Erregung über ihn.

»Antje – Mädchen – ich hab dich so lieb – lieber als alles – ich geh nicht wieder hinaus ohne dich – kommst du mit?«

»Ja,« sagte sie. Sie wußte, daß dieser Mann sie sogar gegen ihren Willen mitnehmen würde; daß sie sich gegen ihren Willen würde mitnehmen lassen.

Sie ließ sich von ihm umarmen und küssen, sie küßte ihn wieder unter dem sonnendurchleuchteten Geäst der knospenschwellenden Buche.

Es war so gar nichts Fremdes, Erschreckendes, Ungewohntes dabei. Es war so natürlich, als könne es gar nicht anders sein. Und doch hatte sie ihn vor sechs Tagen noch nicht gekannt, noch kaum von ihm gewußt. Sie fühlte sich so wohl, so geborgen in seinem Arm, so durchwärmt und durchleuchtet von der urwüchsigen Kraft, dem strahlenden Frohsinn seiner Liebe. Alles andere verblaßte und versank – die ganze Welt verkörperte sich ihr nur in diesem einen. Ihre Arme fügten sich fest um den mächtigen Bau seiner starken Glieder, um den Leib, darin sie das starke, lebenrauschende Herz pochen fühlte.

Ihr war zumute, wie dem Helden, der auf seine Heeresfahne schrieb: »In diesem Zeichen werde ich siegen!«

Sie saßen nebeneinander auf dem koboldig gekrümmten Ast, erregt vor Glück und doch still vor Liebe; still vor dem Großen, Heiligen, Urewig-Menschlichen, das sich ihnen offenbarte.

»Wie denkst du dir das nun?« fragte der Mann.

»Morgen muß ich zurück zur Thorenburg. Morgen abend ist mein Urlaub zu Ende. Und ich kann erst zum ersten Juli kündigen.«

Sie war nicht davon abzubringen. Sie war zu pflichttreu; sie hatte zuviel Gutes dort erfahren, sie war es Rütjer Thoren schuldig.

Harald fand das sehr ehrenwert von ihr, aber es war ihm unbequem.

»Sage mal,« fragte er, legte den Arm um sie und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht, lachend und strahlend, »du hast wohl eine kleine Schwäche für deinen Grafen?«

»Er ist – nächst dir – der beste Mann, den ich kenne; der einzige, den ich verehre,« sagte sie ernsthaft.

Ihre Ehrlichkeit gefiel ihm. Er war keine Spur eifersüchtig; er war ihrer viel zu sicher.

»Ich werde dich hinbringen,« entschied er. »Und dann werde ich selbst alles mit ihm besprechen.«

Das freute sie. So würde er die Stätte kennen lernen, wo sie ein ganzes Jahr hindurch glücklich und zufrieden gewesen war.

»Zum Herbst muß ich zurück sein auf meiner Farm. Im September spätestens müssen wir reisen. Im August wollen wir heiraten. – Dann haben wir noch vier Wochen Zeit, irgendwo glücklich zu faulenzen. Also bis zum August mußt du mit allem bereit sein. Du brauchst dir keine große Ausstattung anzuschaffen – nur was du persönlich brauchst. Mein Landhaus ist gut eingerichtet und was uns fehlt, besorgen wir uns drüben. – Während du deinen letzten Pflichten auf der Thorenburg genügst, werde ich mit Maria nach dem Süden gehen. Sie muß – ob sie will oder nicht. Ich werde sie in ärztliche Behandlung nehmen.«

»Seelenärztliche,« schaltete Antje ein.

»Nenn's wie du willst. Jedenfalls muß ich sie dazu allein haben. – Und dann hole ich dich aus der Thorenburg ab und dann tun wir nichts andres mehr hier als uns lieben und glücklich sein. Hochzeit soll ja ›hohe Zeit‹ heißen. Aber diese hohe Zeit braucht sich nicht auf einen einzigen Tag zu beschränken, die fängt schon heute für uns an –«

»Und dauert das ganze Leben lang,« sagte Antje. Sie sah so reizend und selig aus dabei, daß er sie wieder küssen mußte.

»Es ist überhaupt hohe Zeit für uns,« sagte er. »Die höchste Zeit. Ich habe mich da draußen gewaltig gesehnt nach dem Weibe, und du hast dich hier nach dem Manne gesehnt –«

»Nein, Harald, das ist nicht wahr. Ich war vollauf zufrieden. Und ich habe eigentlich noch keine Ehe erlebt, die mir solche Sehnsucht hätte wecken können.«

»Dann hast du sie unbewußt gehabt. Du bist viel zu gesund und natürlich, als daß es anders hätte sein können. Warum willst du dich dagegen wehren? Laß mir doch die Freude, die Erfüllung dieser Sehnsucht zu sein. Es ist so selten für einen Mann, ein Weib voll ursprünglicher Liebeskraft, voll unverbrauchtem Liebesreichtum sein eigen zu nennen.«

»Du hättest unter allen Umständen eine solche gefunden, auch ohne mich. Du kannst nur Ganzes und Volles gebrauchen. Aber daß du es gerade von mir haben willst, das ist mein Stolz und mein Glück!«

Sie waren so ehrlich und vertrauend wie Kinder; so sicher und zielbewußt, wie reife, in sich selbst ruhende Menschen.

Die Sonne lachte über ihnen. Sie sah nicht oft etwas so Schönes.

Auf dem Hof läutete die Glocke zur Vesperpause. Wie schnell war die Zeit vergangen! Und doch war es kaum zu glauben, daß sie nur zwei Stunden miteinander verlebt hatten. Es hätten ebensogut zwei Jahre sein können, so fest waren sie miteinander verwachsen an diesem wunderreichen, fruchtbaren Frühlingsnachmittag.

Arm in Arm traten sie bei Arne ein.

Der hatte seinen Nachmittagsschlaf gehalten. Er hatte sich daran gewöhnt, obgleich er dessen eigentlich nicht bedurfte. Man schlief sich so viel unangenehme Gedanken, so viel überflüssige Zeit damit weg. Er war schlechter Laune, wie fast alle Menschen nach einem überflüssigen Nachmittagsschlaf und sah die Eintretenden verstört und verständnislos an.

»Antje hat eingewilligt, mich zu heiraten und mit mir nach Australien zu gehen,« sagte Harald Overberg.

Arne sah noch verstörter aus. Es erweckte ihm von vornherein unangenehme Empfindungen, daß ihm das so als Tatsache mitgeteilt wurde, daß man es gar nicht für nötig zu halten schien, um seine Einwilligung zu fragen. Seine, des Familienoberhauptes.

»Das ist ja sehr überraschend,« sagte er und stand vor ihnen wie ein starrer Felsen, den das wärmste Sonnenlicht nicht zu erwärmen imstande ist, »und sehr schnell gegangen!«

»Das Glück kommt nie zu schnell,« sagte Harald und sah das Mädchen heiß und zärtlich an. Antje aber richtete bange Augen auf den Bruder.

»Ist es dir nicht recht, Arne?«

»Mir? Ich habe ja nichts darüber zu sagen. Ich wünsche euch Glück zu eurem Entschluß.«

Er gab jedem die Hand, mit einem formellen, wärmelosen Druck. Dann entstand eine verlegene Pause. Selbst Harald Overberg wußte in diesem Augenblick nichts zu sagen.

Nebenan hörten sie Marias Stimme. Antje riß sich los und stürzte hinaus, der erschrockenen Frau geradeswegs in die Arme. Da lag sie und sprach kein Wort.

Aber hinter ihr erschien Harald und sah die beiden an und sprach auch kein Wort. Nur, als es ihm zu lange dauerte, breitete er seine Arme aus und schlang sie um alle beide.

Maria bedurfte keiner wortreichen Erklärungen. Sie wußte Bescheid.

»Kinder,« sagte sie, halb erstickt in der doppelten Umarmung »eine größere Freude konntet ihr mich nicht erleben lassen!« –

Antje war ganz anders als sonst Bräute zu sein pflegen.

Bräute sind entweder verliebt und dann sind sie verlegen; oder sie sind nicht verlegen und dann sind sie auch nicht verliebt.

Antje war gründlich verliebt – echte wirkliche Liebe schließt ja die Verliebtheit nicht aus – und war trotzdem nicht im geringsten verlegen. Sie zierte sich gar nicht, wenn Harald sie in Gegenwart der ganzen Familie küßte, wenn seine warmen, großen Hände liebkosend über sie hinstrichen, wenn seine Arme von ihr Besitz ergriffen. Was so gut tat, was so natürlich und dadurch heilig ist – warum soll man sich dessen schämen? Warum soll man das nicht erwidern, wie's einem ums Herz ist? Es gab immer noch ein Mehr, ein Innerstes, ein Ureigenstes, was man für einsame Augenblicke innigsten Alleinseins aufsparte. Ihr Empfinden war so rein und echt, so unmittelbar aus dem Born heiliger Naturgewalten geschöpft, daß sie sich dessen nicht zu schämen brauchte. Und weil das alles einer Naturgewalt entsprach, darum war trotz aller Zärtlichkeit nichts Kindisches in dem Benehmen dieser beiden. Es war etwas Frisches, Gesundes, Urwüchsiges, das bezauberte, ansteckte, das daherbrauste wie ein frischer Morgenwind aus heiliger Sonnenhöhe. Sie waren wie die ersten Menschen im Paradiese in ihrer Selbstverständlichkeit und Unbekümmertheit.

Aber das alles paßte nicht auf den Köbinghof.

Arne räusperte sich noch öfter als sonst und machte mißglückte Versuche, die Unterhaltung in nüchterne und verständige Bahnen zu leiten. Die Kinder waren verlegen, und weil sie linkisch herumstanden und solche Dinge für sie nicht »passend« waren, wurden sie von Arne hinausgeschickt. In Maria war teils träumerische Sehnsucht, teils qualvolle Hilflosigkeit. In Arnes Gegenwart wagte sie es niemals, die Situation zu gestalten; heute wagte sie es weniger denn je. Heute war sie schwächer denn je im Erleben eines Glückes, das sie nur von ferne gesehen, an dem sie vorbeigegangen war. –

Am nächsten Tage reiste Antje ab und Harald reiste mit.

Arne fand es unbeschreiblich unpassend; aber er sagte es nicht, versuchte nicht, es zu hindern. Antje hatte ihn ja nie gefragt, hatte immer eigenmächtig gehandelt. Er strafte sie durch Gleichgültigkeit, und sie empfand die Strafe nicht einmal als solche.

»Es ist doch zu herrlich und beneidenswert,« sagte sie, »wenn man so ohne alle Rücksicht auf andre seinem Glück leben und sein Schicksal gestalten kann!«

Maria ließ alles gehen wie es ging. Die Tatkraft und selbständige Sicherheit dieser Menschen erweckte ihr Neid und Bewunderung.

Freilich – handeln ist immer leichter als dulden. Aber manch einen hat das Leben nur darum zum Dulden verurteilt, weil er im entscheidenden Augenblick nicht zu handeln verstand.

Als Harald und Antje reisefertig im Wagen saßen, war ihr plötzlich, als müsse sie mit; als könne sie nicht hier zurückbleiben. –

Maria hatte eine Vision. Sie sah unter den alten Bäumen im Park von Thorenburg einen einsamen, ernsten Mann; einsam wie sie; und in seinen Augen hockte die stumme Sehnsucht ihres Lebens.

»Grüße Rütjer Thoren –« rief sie plötzlich in den Wagen hinein. In demselben Augenblick zogen die Pferde an. Sie sah nur noch Antjes erstaunten Blick, Haralds übermütig fröhlichen Abschiedsgruß. –

Ein Wirbelsturm war durch das Haus gefegt; nun war wieder alles still und leer. Noch niemals hatte Maria diese Leere so grausam empfunden. Ihr war zumut wie einem lebenslänglich Gefangenen, in dessen dunkle Zelle ein strahlender Königssohn getreten war, Licht sein Gewand, Freiheit seine Krone; der war da eingetreten, hatte ihre Stirn geküßt mit hoffnungerweckendem Kuß, war gegangen und hatte das erlösende Wort nicht gesprochen.

Der Königssohn war das Menschenglück.

Maria konnte es nicht mehr aushalten. Sie ließ alles stehen und liegen und lief hinaus auf den Kirchhof.

Am Grabe des kleinen Alf weinte sie sich aus. Am Grabe des kleinen Alf fand sie sich wieder in die engen Maße ihres Lebens zurück. Der kleine Alf legte die kühlen Händchen auf das fiebernde Herz des Weibes und sah es an mit einem himmlischen Lächeln.

»Habe Geduld,« sagte der kleine Alf. »Du mußt deinen Weg doch gehen. Dein Weg ist lang. Jeder muß seinen Weg gehen. Ich bin ihn auch gegangen. Und nun bin ich glücklich!« –

Rütjer Thoren saß in seinem Arbeitszimmer. Es war Abend, und draußen rieselte ein kühler Regen vom umwölkten Himmel. Rütjer Thoren dachte daran, daß Antje heute zurückkommen würde. Er freute sich darauf. Sie war so ein erquickender Bestandteil seines Lebens geworden; ihre gesunde Frische, ihre unermüdliche Arbeitslust, ihr jeweiliger fröhlicher Singsang fehlten ihm. Der Umgang mit ihr war so beruhigend und erquickend; da gab es nichts Kleinliches, Unaufrichtiges, Berechnendes; alles an diesem Mädchen war großzügig und klar und einfach. Und über dem weiblichen Reiz ihres Wesens lag manchmal eine leichte Schroffheit, eine unbeholfene Herbheit. Man kam gar nicht auf den Gedanken, mit diesem Mädchen anders als ernsthaft und sachlich zu verkehren. Rütjer Thoren wollte das auch gar nicht. Er sah in Antje nur ein Wesen, das Maria nahestand und das Maria liebte; er war nicht ganz getrennt von Maria, solange er Antje hatte.

Außerdem erfüllte Antje ihren Beruf ebensogut wie irgend ein Mann.

Sie ist viel zu schade zum Rechnungsführer, dachte Rütjer Thoren oft und immer wieder; viel zu schade, um hier in Arbeit und Abgeschiedenheit die Reifezeit ihres Lebens zu versäumen. Dennoch behielt er sie; dennoch war er froh, daß sie blieb.

Rütjer Thoren war selbst erst vor wenigen Stunden nach Hause gekommen. Er hatte die Festtage mit Freunden und Bekannten verlebt. Er hatte deren immer noch eine ganze Menge, trotzdem er sich ihnen selten zeigte. Wo und wann es aber geschah, nahmen sie ihn auf mit der alten Herzlichkeit. Es tat ihm gut, und doch hielt er es nicht lange aus. Immer war in seinem Herzen ein Heimweh nach seiner Einsamkeit der verborgenen Höhe seines Horstes. Diesmal war das Heimweh doppelt mächtig gewesen. Seit Marias Füße dieses Land betreten hatten, war es ihm noch lieber geworden. Ihr sanfter, stiller Geist war überall um ihn her.

Darum freute er sich auch heute besonders auf Antje. Sie kam von ihr; sie konnte von ihr erzählen, wenn er sie fragte. O ja, diesmal würde er gewiß fragen. Er meinte immer an Antjes Leib die Stellen leuchten zu sehen, wo Marias Hände, Marias Lippen ihn berührt hatten.

Seit Weihnachten befand sich Rütjer Thorens Herz in krankhaft gesteigerter Tätigkeit.

Jetzt rollte ein Wagen über den Hof und hielt vor dem Giebel. Das mußte Antje sein. Ob er sie heute abend noch herüberbitten ließ? Sie war eigentlich nicht lange genug fortgewesen, um solche Dringlichkeit zu rechtfertigen. Er wollte es auf morgen verschieben.

Einstweilen war es hübsch, zu wissen, daß sie wieder da war.

Der Diener erschien und meldete, es sei ein Herr gekommen mit Fräulein Antje, der den Herrn Grafen zu sprechen wünsche. Rütjer Thoren erwartete einen Geschäftsmann und ärgerte sich darüber, daß Antje mit ihm zusammen hatte fahren müssen.

Aber es trat jemand ein, den er nicht kannte, und der jedenfalls kein Geschäftsmann war; dessen Erscheinung ihm so imponierte, daß er schneller als beabsichtigt aufstand und ein paar entgegenkommende Schritte tat. Sekundenlang standen die beiden Männer einander gegenüber und maßen sich mit abwägenden Blicken. An dem einen war alles blond und breit, an dem andern alles dunkel und schmal. Der eine verkörperte fröhliche, selbstbewußte Kraft, Lebensfreude; der andre die Feinheit der Seele, die Wildheit des Blutes und die Unerschütterlichkeit des Willens.

»Guten Abend,« sagte Harald Overberg mit seiner unbefangenen, heiteren Stimme. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich so spät noch störe. Ich bringe einen Gruß von meiner Schwester –«

Rütjer Thoren sah erstaunt und ein wenig frostig aus.

»Wer ist denn Ihre Schwester?«

»Maria Terhalden!« klang es an sein Ohr. Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht. Dann lächelte er, ein wenig ironisch.

»Und hat Ihre Schwester Sie nur dieses Grußes wegen geschickt?«

»Nein, der war nur die Einleitung. Ich komme in einer persönlichen Angelegenheit. Ich habe mich mit Antje verlobt. Ich teile Ihnen dies hierdurch in aller Form mit und bitte Sie, meine Braut möglichst bald aus ihrer Stellung zu entlassen.«

Rütjer Thoren strich leicht mit der Hand über die Stirn, weil ihm da alles durcheinander ging.

»Ich schlage Ihnen vor, daß wir uns setzen, und daß Sie mir das alles ordentlich erzählen. Hab ich Sie denn schon einmal gesehen im Leben?« fragte er und suchte angestrengt in seinem Gedächtnis.

»Nein, ich glaube nicht. Aber ich habe Sie gesehen; an dem Tage, als Sie mit dem Pferde stürzten. Sie wurden an mir vorbeigetragen. Ich war damals als Student im Elternhause.«

Rütjer Thoren richtete seine schwarzen Augen auf den Sprecher, als wolle er ihm durch die ganze Seele sehen. Wer bist du und was weißt du? – Aber Harald Overberg schien das nicht zu beunruhigen.

»Also Sie wollen mir die Antje nehmen –« kam Rütjer Thoren auf die Hauptsache zurück. Dann sprachen sie langes und breites darüber.

Er fand Gefallen an dem großen, warmen, frohen Jungen. Er schien ihm ganz geeignet für Antje; ein abschließender Rahmen zu dem Bilde ihrer Persönlichkeit. – Dann dachte er wieder an Maria; er fragte nach ihr; er erzählte von ihrem treuen Pflegen, ihrem geräuschlosen Segen an Antjes Krankenbett.

»Das sieht ihr ähnlich,« sagte Harald. »Ihr ganzes Wesen ist Liebe. Darum leidet sie auch mehr als andre.« Rütjer Thoren zuckte merklich zusammen; Harald aber erzählte von dem Tode ihres Kindes, und daß sie sich nicht wieder aufrichten könne seitdem.

Rütjer Thoren hörte zu und sprach kein Wort und schwieg noch lange, nachdem Harald geendet hatte. –

Dann fragte er diesen, wo er eigentlich die Nacht zu bleiben gedenke. Harald meinte, irgendwo werde sich schon ein Unterschlupf für ihn finden.

Rütjer Thoren befahl seinem Diener, ein Zimmer herrichten zu lassen.

»Und nun holen Sie Ihre Braut herüber. Heute gehören wir zusammen. Wir müssen das Ereignis feiern.«

Antje versuchte inzwischen vergeblich, sich der alten Dorette zu erwehren, die immer zehnerlei hintereinander fragte und alle Antworten verwechselte. Dabei packte sie aus, ohne Andacht und Aufmerksamkeit. Es sah unbeschreiblich aus in ihren Zimmern. Mitten dazwischen lag Haralds Reisemantel, seine Handtasche stand auf dem Tisch. Antje war zerstreut und aufgeregt. Die sich jagenden Ereignisse, der heutige Reisetag mit all der neuen, ungeduldigen Liebe, die Rückkehr in diese liebgewordenen Räume, diese Rückkehr, die schon Abschiedsstimmung war, Dorettes Unruhe und endlich irgend etwas im untersten Herzwinkel, das sie sich nicht erklären konnte, erzeugten ihr eine nervöse Stimmung.

Was die beiden nur so lange miteinander zu reden hatten!

Endlich erschien Harald, es war schon fast zehn Uhr.

»Schnell, Antje, du sollst hinüberkommen.«

»Jetzt noch?« sie sah zweifelnd auf.

»Ja, jetzt noch.«

Während sie sich ein wenig zurechtputzte, schäkerte er mit Dorette, deren Herz er sich im Sturm erobert hatte. Das war ganz der Rechte für ihre liebe Antje, ebenso kernig, gesund, groß und gut. Aber es hätte doch auch anders kommen können, dachte sie in wehmütiger Enttäuschung und dachte an ihren einsamen Herrn und war böse auf ihn.

Harald Overberg schob sie endlich zur Tür hinaus.

Dann stellte er sich breit mitten ins Zimmer und sah sich um.

»Hier sieht es ja nett aus,« sagte er lachend.

»O – sonst sieht es hier immer sehr ordentlich aus,« lachte sie zurück, nahm die Lampe und ging ins Nebenzimmer, um dort irgend etwas zu holen. Er ging ihr nach und sah sich auch hier um, mit einer kleinen, neugierigen Scheu.

Antje stand mit der Lampe in der Hand und ließ ihn Umschau halten. Sie war gar nicht verlegen.

»Ja,« sagte sie, »hier hat Maria mich dem Tode abgerungen für dich!«

Sekundenlang war ein schweres Schweigen zwischen ihnen. Dann kam er und küßte sie ernst und heiß auf die Stirn.

»Nun komm,« sagte er leise.

Auf Rütjer Thorens Tisch stand Wein in alter, verstäubter Flasche. Er füllte die kristallenen Kelche und trank mit ihnen auf eine glückliche Zukunft, auf ein langes, glückliches Leben.

Antjes Wangen glühten, ihre Augen strahlten. Rütjer Thoren sah sie an, wie er sie noch nie angesehen hatte. Von heute ab war sie eine andre für ihn. Er dachte es sich schwer, das dienstliche Verhältnis mit ihr fortzusetzen.

»Sie können natürlich sofort Ihr Amt hier niederlegen,« sagte er.

Sie machte ein ganz erschrockenes Gesicht.

»O nein – das dürfen Sie mir nicht antun, mich so Knall und Fall fortzuschicken!«

»Aber es ist doch nur eine Rücksicht, die ich Ihnen und Ihrem Verlobten schuldig bin und die ich gern erfülle.«

Antje hatte Tränen in den Augen.

»Lassen Sie mich wenigstens hier bleiben, bis Sie einen Ersatz für mich gefunden haben. Es wäre mir schrecklich, so fortgeschickt zu werden – als wenn ich plötzlich zu keiner vernünftigen Arbeit mehr taugte!«

Dann sagte sie ihm, wie sie es mit Harald verabredet hatte.

»Sie sind ein ungewöhnliches Mädchen; jede andre in Ihrer Lage würde lieber heute als morgen davongehen.«

»Dazu habe ich meine Arbeit hier zu lieb gewonnen, bin ich hier zu glücklich gewesen,« sagte sie; »ich kann das nicht so plötzlich abschütteln. Bitte, behalten Sie mich noch eine kleine Weile.«

»Wie Sie wollen,« sagte er. Er sah plötzlich tieftraurig aus.

Harald Overberg beobachtete die beiden. Er fand es doch merkwürdig, daß Antje hier keiner Gefahr erlegen war. Rütjer Thoren war entschieden eine Gefahr für freie Mädchenherzen. So ganz allein mit ihm ein ganzes Jahr – das wäre für manche andre verhängnisvoll geworden. Daß Antje unangefochten daraus hervorgegangen war, das gab ihm zu denken. Das lag nicht nur an ihr, die ein gütiges Geschick ihm aufgehoben und behütet hatte. Das lag noch mehr an ihm.

»Wenn Maria jetzt hier mit uns sein könnte –« sagte er ganz plötzlich. Niemand antwortete. Die Nennung ihres Namens beschwor ein ängstliches Schweigen herauf.

Arme, kleine Mia, dachte er und sah sie im Geist vor sich mit ihrem blassen, abgehärmten Gesicht, in ihren schwarzen Kleidern, in ihrer nüchternen, wärmelosen Umgebung.

Zu später Stunde geleitete er Antje über den dunkeln Hof an ihre erleuchtete Schwelle. Es regnete nicht mehr. Am Himmel teilten sich die Wolken, hier und da glitzerte ein Stern.

»Mir ist es ganz lieb, daß du noch hierbleibst,« sagte er. »So habe ich Zeit für Maria.«

»Ich gönne dich ihr. Sie braucht dich.«

»Sie braucht eigentlich etwas ganz anderes.«

Sie wagten beide nicht, das andre bei Namen zu nennen. Aber während sie sich umarmten und zum Abschied küßten, dachten sie an Maria und an Rütjer Thoren – jeder auf seine Weise. –

Harald und Maria reisten nach dem Süden.

Wie er das bei Arne durchgesetzt hatte, war ihm selbst nicht ganz klar.

»Sie kann ja tun, was sie will,« hatte Arne gesagt und sich weiter nicht darum gekümmert. Da hatte er sie einfach mitgenommen. Nun lag das alles hinter ihnen, und sie waren allein weit draußen.

Es war Marias erste Reise. Er freute sich wie ein Kind, ihr all das zu zeigen, ihre schüchterne Freude zu erleben, ihr Auftauen, das Aufblitzen ihrer Eigenart, die unter der Schwere ihres Lebens fast erdrückt worden war. Er umgab sie mit soviel Zartheit und Güte, mit soviel ritterlicher Aufmerksamkeit und verständnisvoller Liebe. Sie wurden überall für ein Ehepaar gehalten. Er legte es geradezu darauf an, diese Täuschung zu erwecken. Dann lachte er die Leute aus und schrieb die längsten Briefe seines Lebens an Antje.

Eines Abends brach Maria in Tränen aus. Sie saßen auf einer einsamen Bank, hinter ihnen die Berge, vor ihnen der Comer See; in der Luft ein schweres Duften von blühenden Büschen und weichem Wasser, über allem ein unirdisch weißes Mondlicht. Es wehte kühl nach der Hitze des Tages. Harald hüllte sie sorglich in ein warmes Tuch und sagte lauter übermütige, zärtliche Dinge dabei.

Da brach es aus bei ihr.

»Aber Mia – Kind – was ist denn los?«

Sie brauchte eine ganze Weile, um sich so weit zu fassen, daß sie reden konnte.

»Ich bin es so gar nicht gewöhnt, daß jemand so gut zu mir ist. Ich höre nie ein freundliches Wort, ich fühle nie einen warmen Gedanken. Ich habe mich durch mein Leben gehungert und gefroren. Ich habe niemanden, der meinem Herzen gut tut, niemanden, der überhaupt danach fragt, ob ich ein Herz habe. – Nun überwältigt es mich, daß du mich lieb hast, es mich so fühlen läßt –«

An diesem Abend erzählte sie ihm alles. Von dem Tage an, da sie Arnes Frau geworden war, ohne Liebe, aber mit treuem, redlichem Wollen. Alles, was sie nie geglaubt hatte, irgend einem Menschen erzählen zu können. Auch die jammervolle Geschichte vom Tode des kleinen Alf – diese letzte, schrecklichste Niederlage ihres aufgepeitschten Pflichtgefühls.

Harald Overberg erschrak über die leidenschaftliche Seele, die aus den abgerissenen, oft zusammenhanglosen Berichten zitterte. Er unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Er drückte sie nur fest an sich. Er war wie ein Gefäß, in das sie all ihren Jammer hineinschüttete.

Und doch verbarg sie ihm etwas. Die Hauptsache. –

»Ist das alles?« fragte er, als sie schwieg und erschöpft und matt wie ein frierender Vogel in seinem Arm kauerte.

»Ja.«

»Und das mit Rütjer Thoren?«

Sie drängte sich noch fester an ihn. Sie konnte das nicht sagen.

Da sagte er es ihr.

»Du hast ihn geliebt. Du hattest nicht den Mut, deine Liebe zu bekennen, vor dir selber, vor Gott und den Menschen. Um dich zu retten, hast du dich in diese Ehe gestürzt. Und darum ist es so gekommen, wie es kam.«

Sie fröstelte. Die Wucht dieser Tatsachen erdrückte sie.

»Nein,« wehrte sie sich. »Hätte ich bei Arne ein warmes Herz gefunden, so hätte ich selber warm werden können. Ich war jung und ich war willig. So aber ging es nicht. Und wäre ich zu Arne gekommen mit einer Liebe so heiß wie glühende Kohlen – die Glut wäre erloschen, und ich wäre ebenso einsam und elend.«

»Mit solcher Liebe hättest du ihn erwärmen können. Er hat vielleicht darauf gewartet.«

»Nein, er hat nicht darauf gewartet. Er versteht so etwas nicht, braucht es nicht, vermißt es nicht. – Ich habe es ja gewollt. Habe ihn lieben wollen. Ich habe immerfort gegeben – Treue und Gehorsam und Aufopferung – mich selbst ganz und gar. Er hat alles hingenommen wie lauter Selbstverständlichkeiten und nicht einmal ›danke‹ gesagt. Jetzt bin ich zu Ende, ich bin vollständig leer und ausgeschöpft, wie ein ausgepumpter Brunnen. Ich kann nichts mehr. Ich will nichts mehr.«

»Der zündende Funke fehlte!«

»Auch der wäre erloschen, wie die Lunte am nassen Pulver.«

Harald Overberg schwieg. Er wußte nicht, wo er ansetzen sollte.

»Und soll das nun immer so weitergehen?« fragte er endlich.

»Ich weiß es nicht.«

»Du mußt es wissen, du mußt dir klar werden über das, was du willst –«

»Ich will nichts.«

»Wenn ich den kleinen Alf behalten hätte,« fuhr sie leise fort, »so wäre es gegangen. Aber der kleine Alf ist tot. – Ich werde ja auch einmal sterben.«

Harald Overberg tat einen tiefen Atemzug, als müsse er sich wehren gegen die unheilvolle Schwere, mit der dieses Weibes Schicksal auf ihm lastete.

»Das geht nicht, Maria. Das geht unter keinen Umständen so weiter. Du kannst dich nicht so vom Leben schleppen lassen, dir und andern zur Qual. Du mußt dich aufraffen. Man muß das Leben wie einen Stier bei den Hörnern fassen; ihm abringen, was es nicht gutwillig hergibt.«

»Wo nichts ist, da kann man nichts erringen. Außerdem – zum Ringen gehört Kraft. Ich habe keine Kraft mehr.«

»Nein,« sagte Harald mit heiligem Ernst, »du hast keine Kraft. Aber Der da Oben hat Kraft. Von Ihm mußt du dir erringen, was das Leben dir versagt.«

»Du hast gut reden. Du hast nicht solche Tiefen durchwandert –«

»Woher willst du das wissen? Meinst du, ich hätte immer so fest gestanden, wäre immer so glücklich gewesen?«

»Du bist ein Mann. Männer können sich ihr Leben gestalten. Frauen müssen es nehmen, wie es ihnen zufällt. Die Möglichkeit, zu handeln, ist an sich schon Glück, stählt die Kraft. Ertragen zehrt die Kraft auf.«

»Auch du hast dir in gewisser Weise dein Leben gestaltet –«

»In Unwissenheit –«

»Auch Männer handeln unwissend und töricht und müssen dann die Folgen tragen. Auch ich habe es getan. Alles Menschliche ist dem Irrtum unterworfen. Darauf kommt es an, daß man nicht im Irrtum stecken bleibt. Herausrappeln muß man sich. Ungeschehen machen läßt sich nichts, wieder gut machen vieles. In gewisser Weise alles.«

»Ich möchte wissen, was ich deiner Ansicht nach tun soll!«

»Es gibt zweierlei für dich,« sagte Harald Overberg langsam, als wäge er jedes Wort ab, als kenne er die Tragweite jedes einzigen. »Entweder du fängst eine neue Ehe mit Arne an – oder du trennst dich von ihm und gehst zu Rütjer Thoren.«

Es blieb totenstill nach diesen Worten.

Leise plätscherte das weiche Wasser gegen die Uferkiesel, die blühenden Büsche dufteten und flüsterten im Nachthauch. Der Segen des Himmels befruchtete die schlafende Erde.

»Das letztere würde ich niemals tun,« sagte Maria Terhalden. Ihre Stimme klang hart und unerbittlich.

»Also bleibt nur das erstere.«

»Das kann ich nicht.«

»Wenn du so bist, Maria, so schwach, so erbärmlich – ja, dann kannst du getrost hingehen und Gift nehmen. Dann ist es auch weiter nicht schade um dich.«

Er wußte, daß er grausam war. Er ließ es ruhig geschehen, daß sie aufsprang und ein paar empörte heftige Schritte von ihm fort tat, bis dicht an das atmende, zitternde Wasser. Er wußte, sie würde doch wieder zurückkommen.

Und sie kam. Sie legte die Arme um ihn und küßte ihn. Sie konnte so heiß, so zärtlich küssen mit diesem toten, matten Herzen.

»Ich weiß, daß du mich lieb hast. Ich danke dir dafür.« –

Tagelang sprachen sie nicht mehr von diesen Dingen. Aber Harald Overberg merkte, daß ihre ganze Seele voll davon war. Er rührte nicht daran. Er ließ in der Stille reifen, was Stille brauchte.

Vier Wochen verbrachten sie so miteinander; stille, sonnige, friedliche Wochen. Warm schien die Sonne. Aber wärmer und leuchtender als die Sonne vom Himmel wirkte die Sonne, die in des Mannes festem, freudigem Lebenswillen, in seinem starken, warmen Herzen leuchtete auf das verwirrte, umdüsterte Frauengemüt.

Eines Tages schrieb Antje, daß der Graf Thoren zum ersten Juni einen Ersatz für sie gefunden habe und daß sie an dem Tage abreisen könne.

»Das ist also auch für uns das Signal zur Heimkehr,« sagte Maria. »Denn wenn Antje auf dem Köbinghof ist, wirst du es wo anders auch nicht mehr aushalten.«

Also beschlossen sie, langsam den Heimweg anzutreten.

Am Abend dieses Tages klopfte Maria bei ihrem Bruder an.

Sie hatten sich schon gute Nacht gesagt, er glaubte sie schon zu Bett, war selber schon halb ausgezogen. Trotzdem bat er sie, hereinzukommen.

»Was willst du denn noch, Kleine?«

Er stand in Hemdärmeln mitten im Zimmer und sah sie fragend an. Sie freute sich an der jugendstolzen Kraft seines Körpers; es tat gut, solche Riesenglieder zu sehen, wenn man wußte, wie warm das gesunde Blut in ihnen floß. Sie fühlte zuviel Zärtlichkeit für ihn, sie hatte so oft und so weich geruht an dieser breiten, warmen Brust; sie hatte sich da erwärmt nach soviel Kälte und Einsamkeit.

Das würde nun bald vorbei sein.

Sie kämpfte gegen die ängstliche Beklemmung, die ihre Seele bei dem Gedanken überfiel.

»Ich wollte dir nur danken für diese Zeit und was du mir in derselben gewesen bist; daß du dich meiner so angenommen hast –«

»Aber Maria – wozu das – ich hab dich doch lieb –« er war ganz verlegen geworden.

»Ja, eben darum. Du weißt gar nicht, welch eine Wohltat das war. Und ich wollte dir noch sagen: ich habe eingesehen, daß du recht hast. Es geht nicht so weiter. Und wenn ich auch das Leben nicht wie einen Stier bei den Hörnern fassen kann, so brauche ich ihm doch nicht den Triumph zu gönnen, mich auf diesen Hörnern aufzuspießen und mich an irgendeiner Wand totzudrücken. Ich will den Kampf wieder aufnehmen, gegen mich selber und um mich selber.«

»Mia – Kind –« er jubelte es förmlich heraus. Er drückte sie an sich und drehte sich mit ihr ein paarmal um sich selber wie ein übermütiger Junge. Dann setzte er sie in den bequemsten Sessel, der vorhanden war, blieb vor ihr stehen und sah gerührt und glücklich auf sie nieder.

»Ich kann natürlich nicht gleich wie eine Heldin auftreten,« sagte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war. »Ich muß Zeit haben, mich selber wiederzufinden. Aber wenn es mir jemals glückt, so ist das dein Verdienst.«

»I bewahre – lediglich dein Verdienst. Ich habe dir nur klarzumachen versucht, daß du zu schade bist, um so elend am Leben zu sterben!«

»Ja, das ist's eben. Es mußte jemand kommen und mich herauslocken aus der finsteren Höhle, in die ich mich verkrochen hatte. Mit Liebe herauslocken. Ich tue ja alles um ein wenig Liebe –«

»Armes Kind,« sagte er und nahm ihre Hände und streichelte sie.

»Wenn du doch bei mir bleiben könntest, Harry! Es ist schrecklich, daß du wieder fort mußt. Du mußt noch recht gut zu mir sein, solange du hier bist!«

Sie saßen noch lange beieinander an diesem Abend. Nun die Zeit ihres ungestörten Beisammenseins sich dem Ende zuneigte, hatte sie das Bedürfnis, den Mut, sich rückhaltlos auszusprechen.

Es mag sein, daß es Dinge und Zustände gibt, in denen nur die Frau der Frau helfen kann. Es gibt aber auch ebenso gewisse Dinge und Zustände, in denen nur ein Mann helfen kann, in denen Manneswort und -meinung mehr Eindruck macht, mehr Vertrauen erweckt, mehr Macht ausübt, als das Urteil irgendeiner Geschlechtsgenossin. In den allerersten und letzten Fragen des Lebens wird es immer ein Mann sein, der einem Weibe die endgültige Richtung weist.

»Ich muß mich selbst wieder ganz hintenan setzen und nur meinen Pflichten leben,« sagte Maria; sie sagte es tapfer und demütig, ohne jede Spur von Bitterkeit. Harald ließ sich nicht merken, wie traurig er das alles fand.

»Bleibe dabei, und du wirst glücklich dadurch werden. Für euch Frauen ist ein Leben der Selbstaufopferung immer noch besser, als ein Leben nur für euch selber. Euer bestes Wissen ist Hingabe. Und wenn es nicht Hingabe an eine große Liebe sein kann, so laß es Hingabe an große, heilige Pflichten sein. Nur etwas Gutes muß es sein. Wem man sich hingibt, das beherrscht uns. Wenn gute Dinge uns beherrschen, so wachsen wir daran. Trübe und böse Dinge machen uns klein und schwach.«

Seit Jahren hatte niemand so mit ihr gesprochen, niemand sich ihrer Seele angenommen. Seit Jahren war sie ganz allein auf sich selber angewiesen gewesen. Nur die Stärksten können das ertragen. Frauen können es überhaupt nicht ertragen, ohne in irgend einer Weise Schaden dabei zu nehmen. Frauen wie Maria müssen zugrunde gehen an solchem Mangel an Liebe und Weichheit in ihrem Leben. Das ist nicht ihre Schuld, ihre Schwäche; das ist ihr Schicksal, denn es liegt in ihrem Charakter begründet.

Und so klammerte sich Maria Terhalden mit verzweifeltem Lebenswillen an die Hilfe, die ihr durch Harald Overbergs Liebe geworden war.

Mitternacht war längst vorüber, als sie auseinandergingen. Er umarmte die zarte, blasse Schwester und küßte sie, als müsse er ihr einen Ueberfluß an Liebeswärme mitgeben in ihr liebearmes Leben. Er wußte, daß er ihr nicht ersetzen konnte, was ihr fehlte; aber man hilft eben so gut man kann. – Er konnte dann noch lange nicht einschlafen. Er regte sich auf darüber, daß alles so verquer und ungereimt kommt im Leben, daß es mit derselben Erbarmungslosigkeit und Wucht hereinbricht über die Starken und über die Schwachen; daß der eine Glück hat, ohne sich anzustrengen, und der andre mit all seiner tapfern Anstrengung nicht aufkommt gegen das Schicksal.

Lieber Gott, dachte Harald Overberg vorwurfsvoll, du lässest zwar die Sonne scheinen für Gerechte und Ungerechte – aber du hängst den Gerechten manchmal ein solches Gewicht an die Füße, daß es ihnen unmöglich ist, aus dem Schatten ihres Daseins in deine Sonne zu gelangen. Lieber Gott, – nimm Maria das Gewicht ab von ihren armen kleinen Füßen. Du allein kannst es. Ich weiß nicht, wie du es anfangen willst. Aber du bist allmächtig. Wenn irgendeine deiner Hilfe wert ist, so ist sie es. Sie ist gut und treu, aber sie ist müde geworden. Wenn sie am Wege liegen bleibt, so ist es deine Schuld.

Das war Haralds Beten für seine Schwester. –

Drei Tage später waren sie zu Hause.

Maria ging auf Arne zu, umarmte und küßte ihn. Arne war so erstaunt, daß er den Kuß zurückzugeben vergaß.

»Wie ein Stück Holz,« dachte Harald. Er ärgerte sich so, daß sein Begrüßungswort einem groben Anranzer glich.

Maria hatte sich übermenschlich zusammengenommen, hatte alles hinuntergewürgt, was beim Anblick des Mannes bitter und widerstrebend in ihrer Seele aufquoll. Sie ließ sich keine Zeit, eine Enttäuschung zu empfinden. Sie wandte sich ihren Kindern zu. Nach denen hatte sie doch zuletzt Sehnsucht gehabt.

Auch hier hatte sie allerlei herunterzuwürgen. Der kleine Alf würde sie seliger begrüßt, stürmischer umarmt haben. Aber sie wollte ja von heute ab nicht verlangen, was nicht vorhanden war; nicht vermissen, was sie nicht verlangen konnte.

Es kam ihr vorderhand allerlei zu Hilfe. Harald war da, seine Liebe, seine Fröhlichkeit, sein Verstehen war um sie, stützte sie, hielt ihr mancherlei entmutigende Eindrücke fern und half ihr überwinden, was er nicht fernhalten konnte. – Eine Menge Arbeit war da, wie jede tätige Hausfrau sie nach längerer Abwesenheit vorfindet. – Und vom nächsten Tage ab war auch Antje da.

Sie kam mit Sack und Pack. Sie kam mit Jubel und Liebessehnsucht. Das ganze Haus war voll von der Wiedersehensfreude, dem lachenden Glück der beiden Menschenkinder, die so geschaffen waren dafür, ein Glück auszukosten bis auf die unterste Neige. Sie lachten und schäkerten miteinander wie übermütige Kinder. Und dann wieder konnten sie ernsthaft feierlich miteinander umgehen. Wenn sie sich küßten, waren sie immer ganz still. –

Das ganze Haus war voll von ihrer Liebe. Maria freute sich, obwohl es ihr weh tat – sie empfand so deutlich ihre eigene Armut. Arne merkte es kaum. Und wenn er es merkte, so machte er sich aus dem Staube. Dergleichen war ihm unverständlich und ungemütlich.

»Aber der Abschied war doch schlimm,« sagte Antje, als sie am ersten Abend zusammensaßen. Es war in Arnes Zimmer, wo man sonst nicht zu sitzen pflegte. Harald hatte sich mit einer gewissen Absichtlichkeit, mit einer harmlosen Rücksichtslosigkeit da niedergelassen. Die andern waren seinem Beispiel gefolgt, und Arne hatte sich darein finden müssen.

»Willst du mich eifersüchtig machen?« neckte er die Braut.

»Nein; ich weiß, daß du nicht eifersüchtig bist, weil du weißt, daß du dazu gar keinen Grund hast. – Aber sie haben es mir schwer gemacht – die Leute und die alte Dorette und Rütjer Thoren selber –«

»Weil sie alle dich liebgewonnen haben?«

»Ja, und weil man sich undankbar vorkommt, wenn man im Stich läßt, was einem so gut getan hat. Und er selber –« Sie stockte.

»Nun? Er selber?«

Warum fragt er, dachte Maria. Er weiß doch, wie schrecklich mir das alles ist –.

»Ich habe so furchtbares Mitleid mit ihm,« sagte Antje.

»Warum? Nur die Schwachen brauchen Mitleid.«

»Nein – auch die Einsamen.«

»War er nicht einsam, so lange du bei ihm warst?«

Sie sah ihn mit klaren, ehrlichen Augen an.

»Denke dir, Harald, ich glaube, er hätte mich gern behalten.«

»Um so besser, daß ich dazwischen gekommen bin!«

»Ach – so meine ich es doch nicht –«

Arne fand das alles albern. Er begriff nicht, was sie da von Mitleid und Vermissen und allerhand überspannten Empfindungen redeten. Sollte Rütjer Thoren sich etwa in seine Schreiberin verliebt haben, so war es ja gut, daß der Unfug ein Ende hatte, und unnütz, darüber zu sprechen.

Die nächste Zeit brachte wichtige Fragen.

Antjes Aussteuer mußte besorgt werden. Maria übernahm das alles. Sie griff geradezu gierig nach der Arbeit, die ihre Gedanken ausfüllte und sie am Fühlen hinderte. Harald sagte ihr alles, was er anzuschaffen für nötig fand, und sie besorgte das weitere. Antje sollte möglichst wenig damit zu tun haben. Alle ihre Zeit sollte Harald gehören. Sie nahm diese Erleichterung an wie ein dankbares Kind. Seit sie mit ihm wieder zusammen war, war sie in der Tat zu keiner ordentlichen Arbeit mehr zu gebrauchen.

»Mir ist immer, als müßte ich geradeswegs in die Luft steigen, wie ein Vogel oder wie eine Rakete,« sagte sie. »Ich bin so voll von Seligkeit und Liebe, daß ich gar keine Erdenschwere mehr habe!«

Harald küßte ihr die Worte von den Lippen, wie ein Trunkener den Schaum vom Becher. Dazu sang er: »Antje Terhalden ist's, die mir gefällt – sie ist mein Leben, mein Glück, meine Welt!«

Sie sangen und küßten, küßten und sangen den ganzen Tag.

Maria konnte es manchmal nicht mit ansehen und hören. Es brauste ihr von den Ohren, in der Seele, wie Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies.

Die Hochzeit sollte klein sein; nur im Geschwisterkreise. So wünschten es Harald und Antje. So war es wegen des Trauerjahres leicht einzurichten.

»Ich mag nicht die Schaustellung persönlicher Vorgänge vor neugierigen Gafferaugen,« sagte er. »Was geht unsre Liebe andre Leute an? Wir heiraten, weil wir das für uns für nötig halten – nicht um ihnen Gelegenheit zum Zeitvertreib zu geben.«

»Meinetwegen könnten tausend Menschen dabei sein – ich würde es gar nicht merken,« sagte Antje. »Aber Marias wegen ist es mir viel lieber so.«

Dann kam noch die peinliche und nötige Sache mit Antjes Geld; mit ihrem Erbe, das auf dem Köbinghof eingetragen war. Harald wollte es ausgezahlt haben. Er fand das besser und einfacher wegen der Entfernung, wegen der unübersehbaren Verhältnisse. Antje sprach dagegen. Es würde Arne Unannehmlichkeiten machen, er würde es vielleicht als kränkendes Mißtrauen empfinden.

»Ich will dir etwas sagen, Antje. Nach dem, was ich hier gesehen und beobachtet, was ich von Maria gehört habe, scheinen mir Arnes Verhältnisse nicht die saubersten zu sein. Wenn wir erst draußen sind, verlieren wir jedes Urteil darüber. Wenn die Sache schief geht, ist dein Geld weg.«

Antje machte ein erschrockenes Gesicht. Im vorigen Jahre hatte sie ähnliche Gedanken gehabt. Dann hatte sie es vergessen.

Er sagte ihr seine Beobachtungen, seine Gedanken darüber. Sie ließ den Kopf hängen; sie glaubte ihm unbedingt; sie hätte ihm noch viel unwahrscheinlichere Dinge unbedingt geglaubt.

»Aber wenn es so ist – dann kommt eine Kündigung ihm vielleicht erst recht ungelegen –«

»Er muß sich zu helfen wissen; er kann ja anderes Geld aufnehmen. Warum soll gerade deins hier unsicher sein.«

Antje war bedrückt. Das alles war ihr so peinlich Arne gegenüber.

»Könnten wir nicht – wenn es zum äußersten käme – mein Geld ganz entbehren?« fragte sie schüchtern.

»O ja – das könnten wir. Ich würde dich doch zweifellos geheiratet haben, auch wenn du keinen Pfennig besäßest. Aber ich sehe nicht ein, warum du es Arne schenken willst.«

»Soweit ist es noch nicht – wird es hoffentlich nie kommen.«

»Um so eher kann er es entbehren.«

Der praktische Sinn, den der Kampf um die Existenz ihm gezeitigt hatte, überwog die Rücksichten auf andre. Gefühlsduseleien in geschäftlichen Angelegenheiten verstand er nicht. Antje sah ein, daß ihr Reden umsonst war. Er versprach ihr, die Auszahlung nur dann zu verlangen, wenn Arne sie gutwillig gewähren würde und dadurch nicht in ernste Verlegenheiten kam.

Harald trug dem Schwager seine Wünsche vor.

Arne war sofort einverstanden, schien seine Wünsche gerecht zu finden. In wenigen Minuten war die Angelegenheit erledigt.

»Siehst du,« sagte Harald zu Antje, »man muß das Zartgefühl nicht übertreiben.«

Antje nickte abwesend. Sie war nicht ganz beruhigt. Sie wußte, daß Arne niemals ein Unvermögen, eine Verlegenheit eingestehen würde. Sie glaubte zu bemerken, daß Arne von dem Tage an noch zurückhaltender gegen Harald war. Sogar gegen sie war er abgekühlt, und als sie ihm für sein Entgegenkommen ein Dankwort sagen wollte, fertigte er sie kurz ab.

Aus Maria war nichts herauszubringen.

»Er spricht nicht mit mir über solche Sachen,« sagte sie, »seitdem ich mich endgültig geweigert habe, mein Geld für seine Unternehmungen zu geben.«

Antje fand dieses andauernde Nichtsprechen, das auf dem Köbinghof Mode geworden war, geradezu beunruhigend, seitdem sie sich gewöhnt hatte, mit Harald über jede Kleinigkeit in ausführlichster Weise zu reden.

So verging die Zeit. Und weil Harald und Antje, wie alle kräftigen Naturen, den Egoismus des Glückes hatten, ließen sie sich durch solche Zwischenfälle und gelegentlichen unfrohen Eindrücke nicht stören, liebten einander, lebten einander, hatten vollkommen genug aneinander.

Der heiße Sommer glühte draußen, die heiße Liebe glühte drinnen. Das fortgesetzte enge Zusammenleben machte sie nicht matt und schwül; es machte sie nur stärker und freier und sicherer miteinander. Sie lernten sich kennen, wie sonst nur Eheleute sich kennen lernen. Und wenn den Mann die gesunde Ungeduld überkam, wenn er meinte, solch Warten aufeinander sei ein Unsinn, – wenn man übereingekommen sei, einander zu heiraten, so solle man es gleich tun – dann strich ihm Antje die Haare aus der heißen Stirn, sah ihn innig an und meinte:

»Solch Warten auf etwas Gewisses ist auch schön. Der Frühling will auch sein Recht haben – es kann nicht gleich Sommer sein. Vorfreude ist die reinste Freude –« Er griff nach ihrer Hand und sah sie dringlich an.

»So glaubst du an Enttäuschungen?«

»Nein, nur an Erfüllungen. Aber das ist dann nicht mehr Freude – das ist dann Glück?«

»Antje,« sagte er, »du bist das verständigste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe.« –

Die Hochzeit wurde auf den ersten August festgesetzt.

Hille kam schon acht Tage vorher. Sie wollte helfen. Vor allem wollte sie das Brautpaar noch gründlich sehen, den Schwager kennen lernen, von dem sie bislang kaum gewußt hatte, daß er existierte. Sie konnte sich auch gar nicht Antje als Braut vorstellen, die pedantische, schwerfällige Antje.

Maria mußte über diese Attribute lächeln. Antje war ja nie pedantisch gewesen. Sie hatte nur immer ihre eigenen Ansichten gehabt, die mit Hilles Ansichten allerdings kontrastierten. Und alle ihre Schwere hatte sich in hindernisstürmende Leichtigkeit aufgelöst. Diese Schwere war überhaupt nur eine Gebundenheit ihres Wesens gewesen, das noch nicht durch großes Erleben gelöst worden war. Nun hatte die Liebe ihr diese Fesseln abgestreift.

Sie erlebte nichts Ungewöhnliches; aber die Menschen erleben verschieden. Antje erlebte immer tief, schwer; für sie gestaltete sich zum Ereignis, was der Mehrzahl nur eine einfache Tatsache blieb.

So kam es, daß Hille von einem Erstaunen ins andre fiel.

Zuerst war sie erstaunt über Harald Overberg. Sie hatte sich den in ihrer naiven Beschränktheit als etwas wüsten Abenteurer vorgestellt, womöglich mit Banditenaugen und jedenfalls von einer ungemütlichen Ungewöhnlichkeit. Nun fand sie einen blonden, blauäugigen Recken, der den ganzen Tag harmlos vergnügt war, seine ganze Umgebung mit seiner Heiterkeit ansteckte, dem die Herzensgüte und die Harmlosigkeit aus dem Gesicht strahlte. Er hätte fast alltäglich sein können, wenn sein Wesen nicht der Ausdruck einer urwüchsigen Kraft des Leibes und der Seele, einer Kraft des Willens und der Sinne gewesen wäre, die allerdings auf ängstliche, unsichere Gemüter furchterregend wirken konnte.

Antje fürchtete sich nicht vor ihm. Ueber Antje war Hille noch viel erstaunter.

»Sie ist ja bis über die Ohren verliebt in ihn,« sagte sie zu Maria. »Ich habe nicht geglaubt, daß Antje überhaupt verliebt sein könnte. Sie war immer so ein bißchen altjüngferlich. Sie wurde ja rot, wenn Axel und ich uns in ihrer Gegenwart küßten –«

»Sie würde wahrscheinlich auch heute noch über andrer Leute Zärtlichkeit erröten,« sagte Maria.

»Nun – wenigstens denkt sie nicht daran, daß ihre eigne Zärtlichkeit andre Leute erröten machen könnte. Ich finde, sie ist reichlich zärtlich. Ich finde, es ist überhaupt ein gut Teil Sinnlichkeit in der Liebe dieser beiden.«

»Laß doch – das ist ja gut so. Platonische Liebe ist Lüge oder Unnatur. Sie sind Vollmenschen. Was sie tun, das tun sie ganz. Gott sei Dank, daß es so ist.«

Nun war Hille über Maria erstaunt.

»Ich wußte gar nicht, daß du solche Ansichten hast,« sagte sie. »Du kommst mir immer so – ich weiß nicht wie – so übertrieben jungfräulich vor. Ich dachte, du wärst eigentlich nur Seele –«

»Ich bin über die erste, stürmende Jugend hinaus, Hille –«

»Ach bewahre. Du bist noch sehr jung, – jünger als du weißt. Ich könnte mir bei dir eine handkräftige Liebesleidenschaft eher vorstellen als bei Antje. Es ist eigentlich ein Widerspruch zu dem, was ich vorhin sagte. Ich weiß nicht, worin es liegt. Ich glaube, du bist mit sehr großen Forderungen an das Leben – an das Eheleben – herangetreten und bist nicht zu deinem Recht gekommen. Axel behauptet das wenigstens.«

Maria hüllte sich in Schweigen.

Hille wartete auch gar nicht auf eine Erklärung. Ihre Gedanken waren bereits weitergelaufen. –

»Interessierst du dich eigentlich gar nicht mehr für meine Ehe?« fragte sie. »Du hast dich ihrer doch einst sehr tatkräftig angenommen.«

»Ich sehe ja, daß der Erfolg ein guter war.«

Das reizte Hille ein wenig. Sie hatte gar nicht Lust, für normal glücklich zu gelten. Schwierigkeiten, in die man sich heroisch fügt, wirken viel interessanter. Glückliche Frauen waren langweilig. Sie hatte durchaus keine Lust, zu dieser Sorte gerechnet zu werden.

»Du mußt dir nicht einbilden, daß du paradiesische Zustände geschaffen hast,« sagte sie und zog die glatte Stirn etwas schmerzlich hoch. »Axel ist keineswegs ein Parsifal geworden, wenn er es auch nicht mehr so schlimm treibt wie früher. Und die Rolle ewig verzeihender Erhabenheit würde mir auch heute noch schlecht stehen. Aber ich habe eingesehen, daß es ideale Ehen überhaupt wenig oder gar nicht gibt. Ich habe mich in das Unabänderliche gefügt, schon der Kinder wegen. Du hattest ganz recht damals. Aber man muß sich zu solchen Auffassungen, zu der dazu nötigen Seelenstärke erst allmählich durchringen.«

Das ist ja alles nur Gerede, dachte Maria. Sie spielt ein bißchen Märtyrerin – und im Grunde ist sie weit entfernt, das Leben irgendwie tragisch zu nehmen. Sie weiß auch ganz gut, daß sie Axel nichts schuldig bleibt.

»Gib doch einfach zu, daß ihr euch trotz alledem lieb habt,« sagte sie geradezu. Hille rückte unruhig auf ihrem Stuhle hin und her.

»Nun ja – meinetwegen. Aber nach deinem Geschmack wäre diese Art Liebe nicht.«

»Das ist auch gar nicht nötig. Jeder muß auf seine Weise lieben. Nur so findet er das Glück in der Liebe – auf seine Art.«

»Aber es ist doch ein etwas stürmisches Glück,« wehrte sich Hille gegen die ihr aufgedrungene Zufriedenheit.

»Besser ein Glück mit Stürmen und Sonne, als ein Glück im Schatten. Nur Sonne kann niemand verlangen.«

»Ja – aber man schielt doch immer danach.« –

Der einzige, über den Hille sich nicht wunderte, war Arne. Der war ganz unverändert; an dem erlebte man keine Ueberraschungen. Den fand sie nach wie vor langweilig in seiner Regungslosigkeit, bedrückend in seiner Unfehlbarkeit.

Hille grübelte immerfort über das Verhältnis zwischen Arne und Maria nach und konnte nicht daraus klug werden.

Sie fand Maria frischer und auflebender, aber sie war in gewissen Dingen unnahbar und verschlossen, so daß man nicht zu fragen wagte.

Dann kam Axel Bergen, und es wurde immer lauter und fröhlicher im Hause. Axel war wie elektrisiert durch das Brautpaar und erklärte es für das erquickendste, das er je erlebt hatte. Er schloß sofort Brüderschaft und Freundschaft mit Harald Overberg und entdeckte immer Neues, Ungewohntes, Reizendes an Antje.

Maria stand ihm höher, aber Antje stand ihm näher.

»Man bekommt ordentlich Lust, auch noch einmal ein Brautpaar zu sein, findest du nicht, Hille?« sagte er abends zu ihr.

»Nein, gar nicht,« gab sie gekränkt zurück. »Ich sehe gar nicht ein, warum man sich als Ehepaar nicht ebenso benehmen kann.«

Er sah sie verdutzt an.

»Ach – das ist dann doch nicht mehr so –« meinte er.

»Weil man die Alltäglichkeit hat und die Besitzessicherheit?« Sie stand vor ihm, ganz in zartes Leinen und Spitzen gehüllt und machte ein herausforderndes Gesicht.

»Ueber letztere haben wir uns eigentlich nicht zu beklagen,« sagte er lachend und sah sie verliebt an.

»Ach – erinnere nicht an die alten Geschichten,« sagte sie wegwerfend und wandte sich ab. Er ging ihr nach, umarmte sie von hinten und bog ihr Gesicht zu sich herum. Sie kniff die Augen zu und zog ein Schippchen, wie ein schmollendes Kind, das aber eigentlich nur zum Spaß schmollt.

»Ich weiß ja, ich bin ein alter Sünder. Das sagst du mir oft genug. Aber du bist auch eine kleine Sünderin, die einen Mann gründlich peinigen kann. Also passen wir doch ganz gut zusammen.«

»Man muß sich zusammenpassen, wenn man zusammengeschmiedet ist,« seufzte sie, schüttelte ihn von sich ab und sah ihn an mit einem Augenaufschlag, der gar nicht zu dem Seufzer paßte. – Und er war ohnehin schon genügend verliebt an diesem Abend.

»Harald und Antje wirken ansteckend,« entschuldigte er sich. »Also – wollen wir's doch noch mal mit der Brautschaft versuchen?«

»Unsinn,« sagte sie. »Ehepaar sein, ist viel besser. – Schon darum, weil dann nicht jeder Streit gleich kritisch wird,« setzte sie abschwächend hinzu.

»Es war doch kritisch genug –«

»Die Krisis haben wir ja glücklich überstanden.«

»Ja – wenn man immer eine Maria hätte –«

»Die war gar nicht so nötig. Ich wäre dir auch ohne Maria nicht weggelaufen. Du mußtest nur deine Strafe haben.«

Das hatte sie noch niemals gesagt. War das nun Wahrheit oder war das auch nur wieder so eine kokette Komödie, die einer guten Laune entsprang? Er wurde ihrer niemals in Ruhe sicher. Vielleicht lag es gerade daran, daß sie immer wieder begehrenswert erschien. Vielleicht wußte sie das und hielt ihn darum absichtlich dauernd in einer gewissen Erregung. Aber wenn dem so war – dann mußte ihr doch daran gelegen sein, von ihm begehrt zu werden.

Er wußte eigentlich nie so recht, woran er war mit ihr. Er hätte ihr wohl etwas von Marias Ruhe und von Antjes Klarheit gewünscht und dazu noch etwas von Marens solider Mütterlichkeit. Schließlich waren sie immer ganz gut miteinander fertig geworden und würden es auch weiter werden. Sie brauchten beide ihre kleinen Erregungen. Die Liebe war dann wieder um so frischer und genußreicher.

»Mach nicht solch philosophisches Gesicht,« sagte Hille von ihrer Bettkante her. »Das steht dir gar nicht.« Er reckte sich und lachte.

»Nein, man muß nicht versuchen wollen, dich zu ergründen. Man muß dich nehmen, wie du bist.«

Und dabei nahm er sie und küßte sie ab und hatte keine neidischen Gelüste mehr auf das Brautglück, das wie ein Sommernachtsfieber unter diesem Dache war.

Inzwischen standen Harald und Antje auf dem dunkeln Gange zwischen den offenen Türen ihrer erleuchteten Zimmer und nahmen Abschied von diesem beispiellos schönen Brautglück. – Dem Mädchen war wehmütig zu Sinn – wie immer, wenn irgend etwas Schönes und Herrliches zu Ende geht. Selbst, wenn das Neue nur eine Steigerung des Alten ist – das Alte hat man gekannt und besessen, das Neue soll man sich erst aneignen.

»Mir ist so bange, Harald,« sagte sie in seiner Umarmung.

»Wovor, mein Schatz?«

»Ich soll doch nun beweisen, daß ich halten kann, was du dir von mir versprichst!«

»Die völlige Liebe treibt die Furcht aus,« erwiderte er. »Auch solche Furcht. Die richtige Liebe gibt Selbstvertrauen, aber sie nimmt es nicht.«

»Ich weiß nicht – ich bin schon ganz dumm vor lauter Liebe!« klagte sie.

»Dumme Antje!« flüsterte er zärtlich. »Liebe, dumme Antje!«

Die Kerzen in den Leuchtern wurden knisternd immer kürzer – und sie hatten immer noch etwas zu flüstern, als wären sie heute zum erstenmal miteinander allein. Sie hörten nicht das lebhafte Sprechen von drüben, wo Hille und Axel wohnten; nicht das gedämpfte Reden von unten, wo Arne und Maria geschäftlich über den morgenden Tag berieten. Sie hatten und wußten nichts anders als sich selber; sie waren ganz einsam mit ihrer großen Liebe.

Endlich schob Harald Overberg das Mädchen von sich.

»Geh jetzt,« bat er. »Morgen bist du mein.«

Und er küßte sie, mit einem letzten, scheuen, bräutlichen Kuß.


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