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XV.
Die Oper

Was mir Ursula über die Möglichkeit meiner Verheirathung mit Herrn von Lancry gesagt hatte, versetzte mich in tiefes Sinnen, als ich allein war. Ohne die Bemerkungen meiner Cousine würde ich mir vielleicht noch lange keine Rechenschaft von dem Eindrucke gegeben haben, welchen der Neffe des Herzogs von Versac auf mich gemacht hatte. Ich befragte mich aufrichtig, indem ich das günstige Vorurtheil außer dem Spiel ließ, welches stets ein ausgezeichnetes Benehmen, ein schöner Name und ein sehr hübsches Aeußere für einen Mann erwecken.

Ich fragte mich, ob die Erinnerung an Herrn von Lancry mich verwirrte; ob ich für ihn irgend ein Interesse fühlte? Es schien mir, als ob er mir durchaus gleichgültig sei; ich wundere mich nur, daß ich unangenehm davon berührt worden war, ihn mit der Herzogin von Richeville tanzen zu sehen.

Dadurch eben, daß die letzte Ursache dieses Eindrucks mir unerklärlich schien, wollte ich sie entdecken; es gelang mir. – Ursula's Bemerkung hatte mich auf den Weg gebracht.

Ich habe immer geglaubt, die Frauen hätten oft erst, nachdem sie liebten, einen bestimmten Charakter. Wenn die ersten Eindrücke, oder wenn man so sagen kann, die ersten Interessen der Liebe erst in das Spiel kommen und geweckt werden, erwecken, entwickeln und steigern sie gewisse edle oder gefährliche Fähigkeiten der Seele, die allmälig alle andern verschlingen.

So hatte ich mit siebzehn Jahren keine vorherrschende gute oder schlechte Eigenschaft; es würde, glaube ich, schwer gewesen sein, meinen Charakter auseinander zu setzen oder zu bestimmen.

Ich war wechselsweise stolz und demüthig bis zum Uebermaß, weil man mir in meiner Jugend wechselsweise bis zur Lächerlichkeit geschmeichelt oder mich bis zur Beschimpfung herabgesetzt hatte; ich war fromm aus Ueberzeugung und von Natur; ich empfand das gebieterische Bedürfniß, Gott für Alles, was mir Glückliches begegnete, zu danken. Zuerst trieb ich dies gleichwohl lobenswerthe Gefühl bis zu einer tadelnswerthen Kinderei, und später bis zu einer gottlosen Dankbarkeit. Ich war großmüthig, so viel ich es vermochte; aber ich gestehe zu meiner Schande, daß ich mich nie mitleidiger gegen Unglückliche gestimmt fühlte, als wenn ich selbst litt; ich ging dann mit Eifer den Schmerzen Anderer entgegen, um sie zu lindern. Ohne mich egoistisch zu machen, nahm das Glück mich doch ganz ein; man mußte mein Mitleid erwecken, sollte ich meine Theilnahme äußern. Zärtlich oder grausam, waren meine Gefühle mehr dauernd als heftig; ich verzieh ein Unrecht, eine Beleidigung, aber ich vergaß es nicht, obgleich ich denen, die mich verletzt hatten, nie zu schaden suchte; aber ich rächte mich für mich durch eine verhaltene Verachtung. Sie sehen, mein Freund, daß mein Charakter nichts Bestimmtes, nichts Hervortretendes hatte.

Mit dem Tage aber, an welchem ich Herrn von Lancry zum ersten Male sah, erwachte in mir eine Leidenschaft, die ich bisher durchaus noch nicht gekannt hatte, anfangs unbemerkbar, da sie sich durch einen unbestimmten Verdruß offenbarte, einen Menschen, den ich kaum kannte, mit einer Frau, die ich gar nicht kannte, tanzen zu sehen.

Ach, ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, mein Freund, daß diese Leidenschaft, welche eines Tages alle andern entfesseln und beinahe die Triebfeder meines Charakters werden sollte, die Eifersucht war, die Eifersucht, bald aus Stolz bezwungen, verborgen, geläugnet, bald eingestanden, trostlos, demüthig und flehend bis zur Gemeinheit.


Seit meiner Kindheit daran gewöhnt, viel nachzudenken und mich in mich selbst zu versenken, mit einer ziemlich lebhaften Einbildungskraft, einem ziemlich durchdringenden Geiste begabt, brauchte ich nicht lange Zeit dazu, die Frage zu lösen, welche meine Cousine mir vorgelegt hatte.

Weshalb war es mir unangenehmer gewesen, Herrn von Lancry mit der Herzogin von Recheville tanzen zu sehen, als mit jeder Andern?

Dennoch, ich wiederhole es Ihnen, mein Freund, fühlte ich, während ich Herrn von Lancry sehr angenehm fand, nichts von dem, was mir der Liebe zu gleichen schien, nichts von jenen ersten Eindrücken, die man stets so heiter und so freundlich träumt.

Und dann glaubte ich auch, daß ich mit allen Kräften gegen dieses Gefühl kämpfen müßte, wenn es in mir entstehen sollte; es konnte mich zu der unglücklichsten Frau von der Welt machen, denn Herr von Lancry theilte es vielleicht nicht, oder wenn er es theilte, so konnten seine Absichten meiner oder seiner Familie mißfällig sein.

Mitten unter diesen für einen siebzehnjährigen Kopf so ernsten Betrachtungen bedauerte ich besonders die Abwesenheit meines einzigen Freundes, des Herrn von Mortagne, zu dem ich ein instiktmäßiges Vertrauen hegte. Unglücklicherweise verbannten die letzten Worte des Fräulein von Maran die Hoffnung, welche die Herzogin von Richeville in mir erweckt hatte, als sie die nahe Rückkehr meines früheren Beschützers verkündete.

Sie sehen wohl ein, mein Freund, daß ich, einmal dem Strome dieser Betrachtungen hingegeben, einmal fest entschlossen, die geringsten Regungen meines Herzens zu erforschen, mit einer wahren Angst diesen Abend erwartete, während dessen ich ohne Zweifel Herrn von Lancry ohne Zweifel zum zweiten Male wiedersehen sollte.

Wir kamen ziemlich spät in die Oper; der Saal war sehr zahlreich und sehr glänzend gefüllt. Die Herzogin von Berry wohnte dieser Vorstellung bei.

Man gab die Belagerung von Corinth.

Als ich in unsere Loge trat, war die erste Person, die ich uns beinahe gegenüber erblickte, die Herzogin von Richeville; Frau von Mirecourt, eine Freundin meiner Tante, und Herr von Mirecourt waren bei ihr.

Man konnte nichts Hübscheres, nichts Eleganteres sehen, als die Herzogin von Richeville. Ihr Turban von weißer, mit Silber durchzogener Gaze paßte vortrefflich zu ihrem etwas braunen Teint und zu ihren Haaren, die schwarz waren, wie Schmelz; sie trug eine Robe von kirschrothem Sammet mit kurzen Aermeln, und ungeachtet ihrer langen Handschuhe konnte man die Schönheit ihres Armes erkennen. – In der Hand hielt sie ein großes Bouquet von weißen Rosen, eine der größten Seltenheiten, die man sich im Winter verschaffen kann. Ich that Alles auf der Welt, um wenigstens gleichgültig gegen die Schönheit zu sein; ich konnte mich des Trübsinnes nicht erwehren und die melancholische Melodie des Weber'schen Walzers, den sie mit Herrn von Lancry getanzt hatte, begleitete so zu sagen, diese trüben Gedanken.

Frau von Mirecourt neigte sich zur Herzogin von Richeville, die sehr kurzsichtig war, und machte sie wahrscheinlich auf unsere Ankunft aufmerksam.

Die Herzogin ergriff lebhaft ihre Lorgnette und betrachtete mich mit vieler Aufmerksamkeit, doch nicht mehr mit der hochmüthigen, übelwollenden Affectation, welche mir den Tag zuvor aufgefallen war.

Der Vorhang ging auf. Ich liebte die Musik so sehr und die Oper schien mir so schön zu sein, daß ich Alles mit der Gier einer Pensionärin auffaßte.

Während des Zwischenactes sah ich Herrn von Lancry sich der Herzogin von Berry in ihrer Loge vorstellen, welche die Prinzessin nicht verlassen hatte, um ihren Salon zu betreten.

Madame schien Herrn von Lancry mit vielem Wohlwollen zu empfangen, sprach ziemlich lange mit ihm, und als er sich bescheiden beurlauben wollte, hielt Madame ihn noch einige Augenblicke zurück.

Als er die königliche Loge verließ, war ich neugierig, zu wissen, ob er uns einen Besuch machen würde, ehe er die Herzogin von Richeville begrüßte.

Während einiger Minuten war diese Neugier für mich beinahe eine Marter; mein Herz pochte, als ich die Thür der Loge öffnen hörte; ich zweifelte nicht, daß es Herr von Lancry sei.

Er war es.

Ich fühlte mich beunruhigt und wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Er wünschte Fräulein von Maran und Ursula guten Abend.

Meine Tante berührte leise meinen Arm und sagte: Mathilde, Herr von Lancry!

Ich wendete mich um und verbeugte mich erröthend.

Allmählig fühlte ich meine Verlegenheit schwinden und nahm Theil an der Unterhaltung.

Herr von Lancry war sehr liebenswürdig, sehr geistreich. Er kannte ganz Paris und ganz Paris wohnte dieser Vorstellung bei. Ich erinnere mich dieser Unterredung noch vollkommen, denn Herr von Lancry erschien mir dabei in einem ganz neuen Lichte und wahrlich in keinem unvortheilhaften.

– Hören Sie, Gontran, sagte Fräulein von Maran zu ihm, Sie kommen ja überall hin; machen Sie mich doch ein wenig bekannt mit all den schönen Leuten, die mir fremd sind. Ich bin eben so fremd hier, wie diese jungen Mädchen. Seit fünfzehn Jahren habe ich keinen Fuß in die Oper gesetzt. Die ganze Blüthe der Bank muß hier versammelt sein. Sie müssen das von Namen oder Angesicht kennen. Das ist so reich, daß es den ehrlichen Leuten Furcht einflößen könnte. Diese Bankleute haben stets eine Loge in der Oper, während wir Andern nur bescheiden die Hoflogen benutzen, die aber Gott sei Dank die besten sind.

– Ich wäre in großer Verlegenheit, sagte Herr von Lancry, denn wahrend der vier Monate, die ich in England zugebracht, haben viele Logen der Bank, wie Sie sie nennen, ihre Herren gewechselt. Ich erkenne fast Niemand mehr; die Börse hat so viele Launen; sie macht und zerstört so manches plötzliche Glück.

– Es fehlte uns weiter nichts, als diese Menschen für ewige Zeiten reich zu sehen! Das wäre ein hübsches Beispiel für die andern Missethäter, sagte Fräulein von Maran. Aber wer ist denn die kleine Frau im zweiten Rang, in dem rothen Barett? Sie ist hübsch, nicht wahr?

– Sehr hübsch, sagte Herr von Lancry. Sie und ihr Mann sind die Helden einer sehr einfachen und sehr rührenden Geschichte, fügte er mit einem Tone der Melancholie hinzu, der mich in Staunen setzte und seinem Gesichte viel Reiz verlieh.

– Ach mein Gott, erzählen Sie uns doch das, Gontran! Wie heißt sie, diese schöne Heldin? sagte meine Tante.

– Der Name meiner Helden ist sehr unbedeutend; sie heißen Herr und Madame Dupré, erwiederte Herr von Lancry lächelnd.

– Dupré! Ei, das ist ein sehr schöner Name. Ist er nicht eben so viel werth als die Duparc, Dupont, Dumont und Dubois? Nun, Gontran, lassen Sie hören den Roman des Herrn und der Madame Dupré.

– Denken Sie sich, mein Fräulein, daß vor zwei Jahren – aber plötzlich unterbrach sich Herr von Lancry, indem er zu meiner Tante sagte: Hören Sie, gnädiges Fräulein, Ihr spöttisches Lächeln erschreckt mich! Erlauben Sie, mich an Fräulein Mathilde und Fräulein Ursula zu wenden; sie werden mich nicht erschrecken und gewiß für diese einfache Geschichte Theilnahme empfinden.

Ich erhob die Augen und begegnete dem Blicke des Herrn von Lancry; ich konnte mich nicht enthalten, zu erröthen.

– Nun, nun, sagte Fräulein von Maran, erzählen Sie nur Ihre Geschichte diesen jungen Mädchen. Ich werde sie nicht ansehen, und wenn ich lache, so soll es nur bei Seite und für mich geschehen.

– Nun wohl denn, mein Fräulein, sagte Herr von Lancry zu mir; Herr und Madame Dupré waren sehr glücklich verheirathet –

– Ei, das ist sehr schön! rief Fräulein von Maran; das fängt gerade so an, wie ein Geschichtchen aus dem Kinderfreund oder von Berquin. Ich aber frage Sie, ob man wohl glauben sollte, daß ein ehemaliger Gardehusarenrittmeister solche Dinge erzählen könnte! Fahren Sie fort, fahren Sie fort! Da tritt eben die schöne Prinzessin Ksernika mit ihrem Gefolge in die Loge. Sie werden Ihr Geschichtchen beendigt haben, ehe der Flaconträger, der Lorgnettenträger, der Fächerträger, der Bouquetträger, der Textbuchträger ihre Functionen erfüllt haben. Das ist eine schöne Prinzessin, welche die Erzählungen von Berquin nicht sehr liebt!

– Mein Fräulein, sagte Herr von Lancry mit einem boshaften Lächeln, ich kenne den ganzen Unterschied zwischen einer Erzählung Berquin's und der Prinzessin Ksernika; aber ich wende mich an diese Damen und habe deshalb nicht nöthig, um Verzeihung wegen der unbefangenen Einfachheit meiner Geschichte zu bitten, sondern fahre fort:

Herr und Madame Dupré waren vollkommen glücklich und genossen eines anständigen Vermögens. Ich weiß nicht, welcher Banquerott oder welcher Mißbrauch des Vertrauens sie gänzlich zu Grunde richtete. Herr Dupré hatte eine alte Mutter, die er anbetete und die blind war; sie hatte ihm Alles, was sie besaß, unter der Bedingung überlassen, bei ihm und ihrer Schwiegertochter, die sie herzlich liebte, zu leben. Als Herr und Madame Dupré ihr Unglück erfuhren, war ihr erster, ihr größter Kummer, die Armuth für ihre Mutter fürchten zu müssen, die seit langer Zeit an ein für ihr Alter beinahe unerläßliches Wohlbehagen gewöhnt war. Sie beschlossen daher, ihr dieses Mißgeschick zu verbergen. Ihr Leiden unterstützte sie vortrefflich in der Ausführung ihres Planes. Einige Trümmer des Vermögens erlaubten ihnen die Ausgaben für die erste Zeit zu bestreiten. Herr Dupré war vertraut mit dem Englischen und Deutschen, und übersetzte aus diesen Sprachen; seine Gattin malte zum Entzücken und machte Album-Blätter und selbst Fächer. Durch Arbeit und Entbehrungen, besonders aber durch Geistesgegenwart und Gewandtheit gelang es ihnen, beinahe zwei Jahre lang auf diese Weise ihre Mutter zu täuschen, die keine wesentliche Veränderung in ihren Gewohnheiten fand und so nichts von dem Unglück ahnete, das ihre Kinder getroffen hatte, ein Unglück, welches ihr doppelt drückend gewesen sein würde, theils durch den Kummer darüber, theils wegen der Entbehrungen, die sie sich hätte auferlegen wollen. Vor einigen Tagen endlich empfing Herr Dupré Hunderttausend Francs in einem Briefe, welcher ihm anzeigte, daß diese Summe ein Wiederersatz von Seiten des Banquerottirers sei, der ihn zu Grunde gerichtet hatte. Andere schreiben diese Gabe einem geheimen Wohlthäter zu.

– Und das ist viel wahrscheinlicher, als die Reue eines Banquerottirers, sagte meine Tante.

– Durch diese Summe haben diese guten und braven jungen Leute, jetzt an die Arbeit gewöhnt, den verlorenen Wohlstand beinahe wiedergewonnen, und ihre alte Mutter hat es nicht bemerkt, daß sie dem gänzlichen Elend so nahe stand.

– Das endigt, wie es angefangen hatte, sagte Fräulein von Maran, und beweist, daß eine gute Aufführung stets belohnt wird. Deshalb wird auch die schöne Prinzessin Ksernika, wenn sie vor Gott erscheint, nicht lange in seiner Nähe bleiben.

– Sie lachen, mein Fräulein, entgegnete Herr von Lancry, ich aber werde den Muth haben, zu behaupten, daß diese Anekdote eine von den Thatsachen ist, welche unsere Zeit am meisten ehren. Dann fuhr er zu mir gewendet fort: Finden Sie nicht, mein Fräulein, daß ein sehr seltenes Zartgefühl in diesem Benehmen liegt? Genug Herrschaft über sich selbst zu besitzen, um jede Klage, jede unwillkürliche Anspielung auf das Unglück, durch das man leidet und das man mit solcher Aengstlichkeit verbirgt, zu ersticken? Mitten unter den nagenden Besorgnissen der Armuth genug Geistesgegenwart, genug Seelenkraft zu besitzen, um stets die gleichmäßige Heiterkeit zu bewahren, welche die Gewohnheit des Reichthums verleiht? Ist es nicht endlich ein edles und rührendes Bild, diese beiden jungen Leute zu sehen, .wie sie so religiös ihre alte Mutter täuschen, indem sie ihr durch angestrengte Arbeit in ihrem kalten Elend ein kleines Winkelchen des Wohlstandes schaffen?

– Ach, gewiß! das ist schön! das ist bewundernswerth! sagte Ursula mit bebender Stimme und indem sie die Hand zu den Augen führte. Wenn man einen solchen Zug erzählen hört, bedauert man es nicht mehr, arm zu sein, da die Armuth solche Gesinnungen einflößen kann.

Ich war so ergriffen, daß ich kein Wort zu sprechen vermochte und ich fand Ursula sehr glücklich, etwas sagen zu können.

Herr von Lancry hatte mit der größten Anmuth diese Geschichte erzählt, die ohne Zweifel kindisch war, eben deshalb aber voll Reiz in dem Munde eines Mannes wie er.

Ich hatte während dieser Schilderung Herrn von Lancry mehrmals angesehen; der rührende Ausdruck seines Gesichtes verlieh seinen Worten einen neuen Reiz; man konnte meiner Meinung nach eine solche Handlung nicht so großmüthig würdigen, ohne fähig zu sein, sie selbst nachzuahmen.

Ich war stumm vor Staunen; ich erwartete es nicht, so viel Gefühl unter dem glänzenden Aeußern eines Weltmannes zu finden. Mein Herz zog sich daher auch schmerzlich zusammen, als ich meine Tante zu Herrn von Lancry sagen hörte:

– Meine Nichte Mathilde ist so boshaft bei ihrem Ansehen einer Schwester Angelika, daß sie wohl fähig ist, sich über Ihre Geschichte lustig zu machen, lieber Gontran.

Ich erhob rasch die Augen zu Herrn von Lancry, wie um ihn zu beruhigen. Ich begegnete seinem Blicke, aber er war so traurig, so entmuthigt, daß ich auf dem Punkte stand, vor Kummer und Unwillen zu weinen.

Ich weiß nicht, wie dieser Auftritt sich geendigt haben würde, wäre nicht der Herzog von Versac zu uns eingetreten und gleich darauf der Vorhang in die Höhe gegangen.

Ich empfand eine tiefe Verwirrung, eine Art von Schwindel, den der Eindruck der Musik noch erhöhte; jeder der Gedanken, die mich erregten, wurde, so zu sagen, von einer wechselsweise bald träumerischen, bald zärtlichen oder leidenschaftlichen Harmonie begleitet, die nur zu sehr mit dem Zustande meines Herzens übereinstimmte.

Unter gewissen Umständen übt die Musik eine ungeheure Verführungskraft aus. Sie scheint unsere geheimsten, unsere verworrensten und zuweilen sogar unsere strafbarsten Gedanken in eine so berauschende Sprache zu übersetzen, daß wir uns ihren gefährlichen Verlockungen hingeben.

Ohne einen Augenblick an die Hindernisse zu denken auf welche das Gefühl, das so köstlich in mir erwachte, stoßen könnte, fand ich, eingewiegt durch die herrlichen Melodien, eine innige Freude daran, mir die rührenden Worte des Herrn von Lancry in das Gedächtniß zurückzurufen; ich überließ mich all der Bewunderung, welche mir der Charakter einflößte, den ich bei ihm vermuthete. Gedanken der Eifersucht bestürmten mich ebenfalls, indem ich in diesem wachen Traum unbestimmt das braune Gesicht der Herzogin von Richeville vor mir erblickte.

Als der Akt zu Ende war, lauschte ich noch; ich war so in meine Träumereien versunken, daß meine Tante mich mehrmals rufen mußte, um mich daraus zu erwecken.

Man verließ das Haus; ich gab dem Herzog von Versac den Arm; Herr von Lancry führte Ursula.

Ich stieg fast maschinenmäßig die Treppe hinab, kaum sehend, kaum hörend, was rings um mich her vorging.

In dem Augenblicke, als man uns unsern Wagen meldete, fühlte ich einen sehr angenehmen und sehr starken Geruch; ein Kleid streifte das meinige und eine bewegte theilnahmvolle Stimme flüsterte mir in das Ohr:

– Sehen Sie sich vor, armes Kind – man will Sie verheirathen – erwarten Sie Herrn von Mortagne.

Ich wendete rasch den Kopf, um zu sehen, wer zu mir sprach. Ich bemerkte nur noch den kirschrothen Atlasmantel und den silberdurchzogenen Turban der Herzogin von Richeville, welche vor mir mit Herrn und Frau von Mirecourt die Treppe hinabstieg.



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