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Einleitung.


I.
Das Kaffeehaus Lebœuf

Gegen Ende des Monats December 1838 sah man (und wahrscheinlich sieht man noch jetzt) in der Straße St. Louis im Marais ein bescheidenes Kaffeehaus, Café Lebœuf genannt, dem alten Hôtel Orbesson gegenüber, einem weitläufigen und düstern Gebäude, das zum Vermiethen ausgestellt, nachdem es mehrere Generationen hindurch von einer alten richterlichen Familie bewohnt gewesen war.

Sein letzter Eigenthümer, der Präsident d'Orbesson, war wenige Monate nach der Restauration gestorben.

Im Monat October 1838 verschwanden die Anschlagzettel. Ein alter Portier, der Hüter des Hôtels, verließ es und ein Miethsmann nahm von dem finstern Gebäude Besitz, das zwei Etagen hoch zwischen Garten und Hofraum lag. Eine große von Würmern zerfressene Thüre, an deren Seiten zwei zu Gesindewohnungen dienende Pavillons sich anschlossen, ging nach der Straße heraus.

Obgleich bewohnt, schien das Hôtel Orbesson doch ebenso verödet, ebenso einsam wie zuvor.

Dichtes Gras wuchs noch immer auf der Schwelle der Eingangsthüre, welche sich seit dem Einzuge des gegenwärtigen Miethmannes, des Obersten Ulrich, noch nie geöffnet hatte.

In den volkreichen oder vornehmen Stadtvierteln von Paris ist man gegen die Klatschereien oder die Neugier der Nachbarn so ziemlich geschützt. Jedermann ist viel zu sehr mit seinen Arbeiten oder seinen Vergnügungen beschäftigt, um eine kostbare Zeit über jene fabelhaften Auslegungen, über jene hämische und unablässige Spionerie zu verlieren, welche das Entzücken der Provinz ausmacht.

So ist es aber nicht in gewissen abgelegenen Quartieren, welche meistens von kleinen Rentiers oder pensionirten Beamten bewohnt werden, Leute, die gewaltig müßig und für das Wunderbare leidenschaftlich eingenommen sind, und nur das unüberwindliche Bedürfniß fühlen, zu wissen, was auf der Straße oder bei Andern vorgeht.

Man muß zum Lobe dieser ehrlichen Bürger, welche so eifrig sind, ihre Einbildungskraft zu üben, sagen, daß sie nicht große Anforderungen an die Thatsachen machen, die sie so gern auf ihre Weise poetisiren. Der geringste Umstand genügt ihnen, die fürchterlichsten Geschichten zusammenzusetzen, von denen sie dann mehrere Monate zufrieden und glücklich leben.

Wenn aber die Person, die sie bespioniren, hartnäckig darauf beharrt, ihnen nicht den geringsten Anhalt zu einer Fabel zu geben; wenn sie sich mit einem undurchdringlichen Geheimnisse umhüllt, dann wächst die zurückgestoßene und unterdrückte Neugier der Müßiggänger, da sie keinen Ausweg finden kann, bis zur Raserei! Um ihre Lieblingsleidenschaft zu befriedigen, schrecken sie vor keinem äußersten Schritte zurück.

Seit drei Monaten, wo der Oberst Ulrich das Hôtel Orbesson bewohnte, war es ihm gelungen, diese alle Schranken übersteigende Neugier bei seinen Nachbarn zu erwecken, die fast sämmtlich die gewöhnlichen Gaste des Café Lebœuf waren, welches, wie bereits erwähnt, dem Hotel Orbesson gerade gegenüber lag.

Nichts schien außerordentlicher zu sein, als das Leben des Obersten. Seine Fenster waren beständig geschlossen, nie ging er aus, es mußte denn heimlich geschehen, ohne Zweifel durch eine kleine Hinterthür, die aus dem Garten in ein Seitengäßchen führte. Sein Bedienter war ein langer Mensch von abschreckendem Wesen.

Jeden Morgen wurde durch eine Nebenthür ein Korb mit Lebensmitteln hineingeschoben, die ein Restaurateur der Nachbarschaft zu liefern beauftragt war; und dicht hinter dem Korbe schloß sich die Thür wieder.

Für die Forschungen auf diesen einzigen Umstand beschränkt, gewannen die Neugierigen den Restaurateur und versuchten, die Sitten und den Charakter des Obersten aus den Lebensmitteln zu errathen, die man ihm brachte.

Ihrer Erfindungsgabe ungeachtet, konnten die Stammgäste des Café Lebœuf auf diese Kenntniß keine ernste Hypothese stützen.

Der Oberst schien sich auf eine sehr einfache, sehr frugale Weise zu nähren. Indeß gaben einige Leute von größerer Einbildungskraft zu verstehen, der Oberst könne das Geflügel, welches man ihm brachte, wohl roh essen. Man gab, für den Augenblick wenigstens, diesen Andeutungen keine weitere Folge, obgleich es ihnen an Tiefe nicht zu fehlen schien.

Letzte und wichtige Bemerkung! Nie hatte der Briefträger in das Hôtel Orbesson einen einzigen Brief gebracht. Seit drei Monaten hatte Niemand die Schwelle dieser Wohnung überschritten.

Man kann sich denken, daß manche List ersonnen worden war, um dem Diener des Obersten einige Worte zu entreißen, oder einen Blick in das Innere des Hôtels werfen zu können.

Alle diese Unternehmungen waren vergeblich. Die Nachbarn, zu einer Art bewaffneter Beobachtung, fortwährender Bewachung gezwungen, schlugen das Centrum ihrer Operationen in dem Café Lebœuf auf.

An der Spitze der Neugierigen standen die beiden Brüder Godet, Hagestolze, Ex-Beamte der Lotterie. Seit der Ankunft des Obersten in dem Hôtel Orbesson hatten diese beiden alten Junggesellen für ihr bisher ziemlich farbloses Leben einen Zweck, ein Ziel gefunden. Ordentlich darauf erbittert, zu erkunden, wer der geheimnißvolle Unbekannte sei, entwarfen sie jeden Tag neue Pläne, machten sie jeden Tag neue Anstrengungen, um dieses sie marternde lebende Räthsel zu lösen.

Die Wittwe Lebœuf, die Besitzerin des Kaffeehauses, diente den beiden Brüdern als Bundesgenossin. Verschanzt hinter den Kirschkübeln und silbernen Gefäßen, welche ihr Comtoir schmückten, hatte sie ihre großen Augen ohne Unterlaß auf die Thüren des Hôtels gerichtet.

Wer sich über diese Ausdauer, ins Blaue hinein zu spioniren, wundert, vergißt, daß selbst die Eitelkeit unserer Müßiggänger ihrer Neugier als mächtige Triebfeder dienen mußte. Jeden Tag erwarten sie, irgend ein wichtiges Geheimniß entschleiern zu können.

Wir sagten bereits, daß es zu Ende des Monats December war.

An der Stutzuhr des Café hatte es eben 12 Uhr geschlagen, und die Nase an die Fensterscheiben gedrückt, theilte Madame ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Schnee, der in großen Flocken fiel, und der Thür des Hôtel Orbesson.

Die Wittwe wunderte sich, die beiden Brüder Godet, ihre treuen Gaste, die jeden Morgen regelmäßig bei ihr frühstückten, noch nicht gesehen zu haben.

Endlich sah sie sie vor ihren Fenstern vorübergehen; sie traten ein und entledigten sich ihrer mit Schnee bedeckten Mäntel.

– Guter Gott, Herr Godet der ältere, was haben Sie denn an der Stirn? rief die Wittwe, als sie die Binde sah, welche den Kopf ihres Gastes umhüllte.

Herr Godet der ältere war ein dicker, kahlköpfiger Mensch, von rother Gesichtsfarbe, mit vorspringendem Bauche und wichtigem, dogmatischem Gesichte. Er erhob ein wenig die schwarzseidene Binde, die sein linkes Auge bedeckte, und antwortete mit unwilligem Tone und einer Baßstimme, die einem Kirchensänger Ehre gemacht haben würde:

– Das ist die Art dieses Ungeheuers, dieses Robin des Bois.

(So hatten die Neugierigen des Café Lebœuf den Bewohner des Hotel Orbesson sehr sinnreich getauft.)

– Das ist die Art dieses Ungeheuers, dieses Robin des Bois! wiederholte Herr Godet der jüngere, das wahre Echo seines Bruders.

– Guter Gott des Himmels, erzählen Sie mir doch schnell, wie das zugegangen ist? rief Madame Lebœuf, bebend vor Ungeduld.

– Sehr einfach, meine liebe Madame Lebœuf, sagte der Lotterie-Ex-Beamte. Man mußte mit diesem Abenteurer, diesem Vagabunden, diesem Landläufer zu Ende kommen, der sich in seine Höhle verkriecht, wie ein wildes Thier. – Wenn ich ihn ein wildes Thier nenne, so taste ich weder seine Ehre noch seine Moralität an; nur werfe ich die einfache Frage auf: Wenn er nichts Böses thäte oder niemals gethan hätte, weshalb versteckt er sich denn so, wie ein wahres wildes Thier?

Nach dieser triumphirenden Parenthese erhob Herr Godet der ältere nochmals die Binde seines linken Auges.

– Ja, weshalb versteckt er sich so? wiederholten die aufmerksamen Gäste.

– Aber so ist die Regierung, fuhr Herr Godet mit Bitterkeit fort; sie weiß den Verschwörer aufzuspüren, zu hetzen, zu verhaften; aber wenn es sich um das Heil, die Ruhe friedlicher Bürger handelt, – o, gehorsamer Diener, – dann giebt es Stadtknechte und Polizeidiener nur bei den Wilden!

– Nur bei den Wilden! wiederholte Herr Godet der jüngere.

– Bei den gefährlichen Conjuncturen, in denen wir uns befinden, auf meine eigenen Kräfte verwiesen, meine gute Madame Lebœuf, fuhr Herr Godet der ältere fort, was habe ich gethan, was habe ich thun müssen? Sehen Sie, ich sagte zu mir selbst: Godet, du bist ein ehrlicher Mann; du hast eine Pflicht zu erfüllen, eine große Pflicht; thu', was du mußt, entstehe auch daraus, was will, Godet. – In deiner Nachbarschaft lebt ein Vagabund, ein Abenteurer, ein Landläufer, der sich im Angesicht einer ganzen Straße, eines ganzen Stadtviertels, seit Wochen, seit Monaten, schamlos zu verbergen wagt, ohne daß die Regierung etwas thäte, diesem öffentlichen Aergerniß ein Ziel zu setzen!!!

– Es ist wirklich ein Skandal, sagte Madame Lebœuf. Es ist unmöglich, zu wissen, was Nachbarn machen, die sich nie sehen lassen. Dann ist man ja gezwungen, Böses von ihnen zu sagen.

– Es ist ein abscheulicher Skandal, fuhr Herr Godet der ältere fort; das sage ich nicht nur, ich beweise es auch; es ist augenscheinlich, es ist handgreiflich, daß dieser Abenteurer sich nicht um das kümmert, was seine Mitbürger von ihm denken, indem er hartnäckig dabei beharrt, sich ihrer strengen, aber gerechten Beurtheilung zu entziehen. Der Mensch denkt, aber Gott lenkt ...

Madame Lebœuf begriff die Anwendbarkeit dieses philosophischen Citats nicht, und voll Ungeduld, zur Thatsache zu kommen, rief sie:

– Das ist wohl wahr, Herr Godet, aber weshalb tragen Sie denn die Binde über dem Auge?

– Ich bin schon dabei, meine theure Madame Lebœuf. Gestern rief ich meinen Bruder, meinen würdigen Bruder und sagte zu ihm: Dieudonné, dieser unleidliche Mißbrauch muß ein Ende nehmen! wir müssen, – und sollten wir auch unser Leben dabei lassen, wir müssen wissen, wer dieser Abenteurer ist. Ich verhehle Dir nicht, mein Bruder, sagte ich zu Dieudonné, daß es für mich eine Gesundheitsfrage ist. Seit den drei Monaten, daß der Landläufer dies Stadtviertel bewohnt, seitdem ich vergebens zu erfahren trachte, was er ist, was er treibt, lebe ich nicht mehr, werde ich von Unruhe verzehrt; ich habe gräßliche Träume, entsetzliches Alpdrücken. Ich denke nur an diesen geheimnißvollen Unbekannten. Das geht so weit, daß mein ganzer physischer Organismus in Unordnung geräth. Ja, meine gute Madame Lebœuf, es ist, wie ich Ihnen die Ehre hatte zu sagen; mein physischer Organismus geräth in Unordnung. Deshalb sprach ich auch zu mir: Godet, du wirst dir selbst nicht so feind sein, um dein Grab nur zum Vergnügen dieses Abenteurers zu graben! Dieses Geheimniß regt dich übermäßig auf, Godet! Wohlan, enthülle dies Geheimniß, und du wirst würdig sein, die Ruhe wiederzugewinnen, die dieser Abenteurer böslich getrübt hat. Gesagt, gethan, meine theure Madame Lebœuf. Gestern, mit Anbruch der Nacht borge ich eine Leiter von unserem Nachbar, dem Tischler; ich gehe mit Dieudonné über die Straße; wir betreten das Gäßchen, auf welches die Thür von dem Garten dieses Robin des Bois geht; ich setze die Leiter an die Mauer; ich steige hinauf; es war noch hell genug, um zu sehen, was in dem Garten und in dem Innern des Hauses vorging.

– Nun, und? rief Madame Lebœuf.

– Nun, Madame, in dem Augenblicke, als ich den Kopf vorstreckte, um über den Rand der Mauer zu sehen, fällt ein Schuß –

– Gott des Himmels, ein Schuß! rief die Wittwe.

– Ein wirklicher Schuß, Madame; ein wahrhaftiges Attentat auf meine besondere Existenz; mein Hut fällt, ich fühle mich an der Stirn und am Auge getroffen, als würde ich mit tausend Nadeln geprickelt, und ich höre die Stimme (die ich unter tausenden wiedererkennen würde), ich höre die Stimme des Janitscharen, des Seïden dieses Abenteurers, welche mit dem Tone grausamen Spottes ruft: Ein ander Mal kommt statt Dunst grobes Schrot; ein ander Mal schießt man statt nach dem Hut, nach dem Gesicht ... Dahin, meine gute Madame Lebœuf, sind wir mit unserer Regierung gekommen. Sie sehen, man mordet die friedlichen Bürger sogar auf der Spitze der Mauern ... der höchsten!

– Aber das ist ein Mordanfall! riefen die Gäste.

– Ha, das Ungeheuer von einem Menschen! sagte Madame Lebœuf. Sie müssen zu dem Commissair gehen, Herr Godet, Sie müssen Zeugen aufstellen.

– Das war es gerade, was ich zu mir selbst sagte, als ich hastig von meiner Leiter herabstieg, meine liebe Madame Lebœuf. Ja ... sagte ich zu mir – Godet, du mußt augenblicklich deine Klage bei der Behörde anbringen. Aber Sie werden gleich sehen, wie wir regiert werden. Eine Viertelstunde darauf trat ich bei dem Commissair ein, wo eben die Laterne angezündet wurde, – die Laterne! Ein Sinnbild des Spottes, als wenn sie den hellen Blick dieses Beamten bedeuten sollte. Ich hatte die Beweisstücke bei mir: meinen durchlöcherten Hut und meine blaue Stirn.

– Nun?

– Nun, Madame Lebœuf, der Commissair sagte mir, er hatte die Unverschämtheit, mir zu sagen, ich hätte nur erhalten, was ich verdiente, und ohne die Achtung, in der ich seit zweiundzwanzig Jahren und einigen Monaten in dem Quartiere stände, würde er gezwungen sein, mich wegen nächtlichen Einbruchs in ein bewohntes Haus zu bestrafen.

– Welch ein Gräuel! rief Madame Lebœuf.

– Also, fuhr Herr Godet der ältere mit bitterer Ironie und ciceronischer Beredsamkeit fort, also darf ein Abenteurer frech die öffentliche Neugier erwecken, indem er seine Person verbirgt, und ein rechtschaffener Bürger von gutem Rufe wird erschossen, ungestraft erschossen, weil er den Versuch gemacht, dem qualvollen Zustande der Angst, der Besorgniß zu entrinnen, in welchen ihn die Unkenntniß eines Geheimnisses stürzt, welches vielleicht für das öffentliche Wohl von Wichtigkeit ist ... Hören Sie, Madame Lebœuf, fügte Herr Godet mit dem Tone eines Orakels hinzu, indem er sich in seiner ganzen Länge emporrichtete, ein großer Mann hat gesagt, – ich weiß nicht, welcher, aber das gilt gleich – ein großer Mann hat gesagt: Das Haus jedes Bürgers muß von Glas sein. Ich gebe das Beispiel; man ahme mir nach; mein Haus ist von Glas, ein wahrer Pokal; man werfe den Blick hinein, und man wird mich der Ruhe meiner Mitbürger gewidmet sehen; man –

Herr Godet konnte seine Philippica nicht beendigen. Ein gewaltiges Ereigniß schnitt ihm das Wort ab. Eine sehr schöne, mit großen Wappen geschmückte und mit zwei herrlichen Pferden bespannte Equipage hielt vor dem Thorwege des Hôtel Orbesson.

Der Wagen war im Schritt herangekommen, und die aufgezogenen Jalousien zeigten, daß er leer war. Ein reich betreßter Jäger stieg von seinem Sitze neben dem Kutscher herab, der einen amaranthfarbigen Pelz anhatte. Kaum hatte der Jäger den Hammer des Thorweges berührt, als dieser sich zum ersten Male seit drei Monaten öffnete, um den Wagen einzulassen, hinter dem er sich dann sogleich wieder schloß. Die Müßiggänger im Café Lebœuf sahen einander ganz verdutzt an. Sie wollten sich ohne Zweifel so eben den tollsten Auslegungen überlassen, als der Thorweg sich abermals öffnete.

Der Wagen fuhr schnell heraus; man konnte darin einen noch jungen Mann mit sonnenverbranntem Gesichte nachlässig sitzen sehen. Er trug eine ungarische Husarenuniform, weiß, mit blauem Kragen und goldenen Schnüren. An seinem Halse und auf seiner Brust funkelten die Sterne und Kreuze ausländischer Orden.

– Aha, dieser Robin des Bois ist also ein vornehmer Herr aus fernen Ländern? rief Herr Godet der ältere.

– Er hat ein ziemlich hübsches Gesicht, aber ein sehr unverschämtes Wesen, sagte Madame Lebœuf.

– Haben Sie seine beiden Ordenssterne gesehen, den einen von Silber, den andern von Gold? sagte Herr Godet der jüngere.

– Sieh – sieh – sieh! – Ich glaubte im Grunde meiner Gedanken, daß der Abenteurer, der Landstreicher, der Vagabund, trotz seines Oberstentitels so etwas von einem zur Ruhe gesetzten Bankerottirer sei, fügte Herr Godet der ältere hinzu, indem er zwischen die Zähne griff.

– Ein Gedanke, meine Herren! rief Madame Lebœuf. Es ist vielleicht ein Schauspieler. Ich habe im Cirque-Olympique Kunstreiter gesehen, die so gekleidet waren.

– Und diese prachtvolle Equipage, sagte Herr Godet, sollte also der Truppe gehören? Ueberdies spielt man ja nicht am hellen Tage Comödie.

– Aber mir fällt ein, sagte Madame Lebœuf, daß der häßliche Mensch, der bei dem Robin des Bois wohnt, Sie jetzt, da sein Herr ausgefahren ist, vielleicht in das Haus ließe.

– Sie haben Recht, meine liebe Madame Lebœuf, sagte Herr Godet, Sie haben Recht; aber unter welchem Vorwande soll ich Einlaß begehren?

– Du brauchtest ja nur zu sagen, Du wolltest Dich über den Vorfall am gestrigen Abend entschuldigen, sagte schüchtern Herr Godet der jüngere.

– Was! Entschuldigungen, daß er mir beinahe ein Auge ausgeschossen hätte? Du bist verrückt, Dieudonné. Ich will mich im Gegentheil über seine gestrige Unhöflichkeit beklagen; das wird ein Mittel sein, ein Gespräch anzuknüpfen. Ihr sollt sehen.

Mit diesen Worten ging Herr Godet und klopfte an der kleinen Thür.

Das finstere Gesicht von dem Bedienten des Obersten Ulrich erschien am Gitter.

– Was wollen Sie? fragte er.

– Ich war es, der gestern –

– Sie werden noch ganz Anderes erhalten, wenn Sie wiederkommen, antwortete der Diener und schlug die Klappe zu.

Herr Godet kehrte mißmuthig zu seinen Mitverschworenen zurück: man fuhr fort, in dem Café Lebœuf die unerhörtesten Vermuthungen über den Oberst Ulrich aufzustellen, als dieser interessante Gegenstand der Unterhaltung durch das Rollen eines Wagens unterbrochen wurde, welcher vor dem Hôtel Orbesson hielt.

Der Oberst kehrte zurück; einen Augenblick darauf fuhr die Equipage, welche ihn gebracht hatte, im Schritt wieder heraus.

Herr Godet folgte ihr; er versuchte, ein Gespräch mit dem Kutscher und dem Jäger anzuknüpfen; er konnte kein einziges Wort aus ihnen herausbringen, sei es, daß diese Leute kein Französisch verstanden, oder dem Fragenden nicht antworten wollten.

Herr Godet und dessen Freunde schlossen aus diesem hartnäckigen Schweigen, daß der Oberst Ulrich durch Stumme bedient würde, und das vermehrte den Schrecken, den er einflößte, noch unendlich.

Gehörte ihm dieser Wagen? Es war unmöglich, diese Frage zu lösen.

Am folgenden, am nächstfolgenden und den andern Tagen erwarteten die Gäste des Café Lebœuf die Equipage vergeblich; sie zeigte sich nicht wieder.

Nichts schien sich in den einförmigen Gewohnheiten des Robin des Bois verändert zu haben. Die Neugier der Brüder Godet war noch heftiger erregt, seitdem sie wußten, daß der Oberst jung und schön war, und ohne Zweifel einem höhern Range der Gesellschaft angehörte.

Man legte ihm nicht mehr die Ehrennamen Vagabund und Abenteurer bei, man begnügte sich damit, ihn Robin des Bois zu nennen, da dieser Beiname ohne Widerrede zu seiner geheimnißvollen Existenz sehr gut paßte.

Ein neuer Einfall marterte die beiden Brüder Godet: Sie wollten entdecken, ob der Oberst, den man nie hatte über die Straße gehen sehen, vielleicht durch die Thür nach dem Gäßchen zu ausging.

Zwei Straßenjungen wurden an die beiden Enden des Gäßchens gestellt und erhielten den geheimen Auftrag, unter dem scheinbaren Vorwande, Ball zu spielen, aufzupassen, ob sich Jemand an der kleinen Hinterthür zeigte.

Drei Tage blieben die Buben treulich auf ihrem Posten, und sahen Niemand.

Die Brüder Godet, verlockt durch den Dämon der Neugier, der sie zu noch viel verwegneren Unternehmungen anspornen sollte, hatten die Geduld, sich auch ihrerseits zwei ganze Tage an dem Eingange des Gäßchens in Hinterhalt zu legen, um den Bericht der Kinder zu controliren; sie sahen ebenso wenig Jemand ein- oder ausgehen.

An die Stelle des Schnees war ein starker Frost getreten, und man konnte daher auf der Straße keine Spur eines Fußtrittes erkennen.

Die Gäste des Café Lebœuf machten den herrlichen Schluß, wenn Robin des Bois am Tage nicht ausginge, so müßte er des Nachts ausgehen.

Um sich davon zu überzeugen, griff Herr Godet der ältere zu einem Mittel, dessen sich gewiß auch der letzte der Mohikaner bedient haben würde, um die Spur von dem Fußtritte eines Tewton-Kriegers zu entdecken.

Eines Abends, bei großer Dunkelheit, streuten die beiden Brüder vor der kleinen Gartenthür, und in der ganzen Breite des Gäßchens, eine dichte und gleichmäßige Lage von Asche, und entfernten sich dann, entzückt über ihre Erfindung.

Man kann nicht beschreiben, mit welcher Unruhe, mit welcher Angst sie am nächsten Morgen mit Tagesanbruch nach dem Gäßchen eilten ... Kein Zweifel mehr ... Robin des Bois ging während der Nacht aus! Seine in der Asche abgedrückten Fußtritte hatten ihn verrathen.

Dieser Thatsache gewiß, brauchten die beiden Brüder nur ihre List zu wiederholen, um zu erfahren, ob die nächtlichen Spaziergänge des Obersten häufig oder selten wären.

So gewannen sie bald die Ueberzeugung, daß der Oberst jeden Abend ausging, die Nächte mochten schön oder regnerisch sein.

Wohin ging er?

Die wenigst neugierigen Menschen müßten es nach solchen Anzeichen geworden sein.

Die Gäste des Café Lebœuf versammelten sich zu einer außerordentlichen Berathung: es wurde beschlossen, daß die stets unerschrockenen Brüder Godet die erste dunkle Nacht abwarten sollten, um sich an den beiden Enden des Gäßchens in Hinterhalt zu legen.

So belauert mußte der Oberst nothwendigerweise vor einem oder dem andern der beiden Neugierigen vorbeikommen, und dieser sollte ihm dann mit der größten Vorsicht nachschleichen, denn nach der Art und Weise zu urtheilen, wie er die Mauerersteigung aufnahm, liebte Robin des Bois es nicht, Fremde in die Gewohnheiten seines geheimnißvollen Lebens einzuweihen.



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