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II.
Der Brief

Am Tage nach der von den beiden Brüdern beabsichtigten Expedition war Madame Lebœuf in ihrer Ungeduld früher als gewöhnlich aufgestanden; sie ging mit unbeschreiblicher Unruhe von ihrem Comptoir zu der Thür zu ihrem Comptoir.

War den Brüdern Godet ihre Unternehmung geglückt? Waren sie Gefahren ausgesetzt gewesen?

In dem Maße, als die Stammgäste ankamen, stieg auch die allgemeine Neugier.

Einer der Müßiggänger, welcher die ganze Nacht über das, was man früher von dem Obersten erfahren, nachgedacht und es zusammengestellt hatte, erklärte, er könne nichts Anderes sein, als ein vornehmer Spion.

Dieser geistreiche Gedanke wurde siegreich durch einen Auditeur verworfen, welcher die Bemerkung machte, daß, da Robin des Bois, allem Anscheine nach, nur des Nachts ausginge, es ihm schwer fallen dürfte, dieses ehrenwerthe Handwerk zu treiben.

Der starrköpfige Bürger antwortete auf diesen Einwurf, der Oberst handle nur so, um jeden Verdacht abzuwenden, und dies mache sein Spioniren noch gefährlicher.

Ungeachtet des Interesses, welches dies Gespräch erweckte, war man doch weit entfernt, die beiden Brüder zu vergessen, und wunderte sich über ihr langes Ausbleiben; es war Mittag, und noch hatte sich weder der eine noch der andere gezeigt.

Madame Lebœuf erinnerte sich an die Geschichte mit dem Schusse; irgend eine tragische Entwickelung fürchtend, wollte sie eben ihren Marqueur auf Erkundigung nach den Herren Godet ausschicken, als diese erschienen.

Sie wurden mit einem allgemeinen Schrei der Neugierde begrüßt. – Nun? Wie steht's?

– Nun, wir haben schöne Geschichten erfahren, antwortete Herr Godet der ältere mit finsterem Wesen.

Jetzt erst bemerkte man, daß die beiden Brüder blaß waren, wie Gespenster. Mußte man diese Blässe den Anstrengungen der Nacht zuschreiben, oder der Wirkung irgend einer großen Gefahr? Die Erzählung Godet's des ältern wird uns dies lehren.

Die Gäste des Café bildeten einen Kreis um ihn, und er begann:

– Ich habe nicht nöthig, Ihnen zu sagen, meine Herren, daß ich muthig mein Leben der Entdeckung dieses finstern Geheimnisses gewidmet habe, welches, wie ich zu behaupten wage, für alle rechtschaffenen Leute von Wichtigkeit ist, und –

– Nun, so sagen Sie es nicht! bemerkte sehr weise einer der Zuhörer.

– Wie? fragte Herr Godet.

– Ohne Zweifel, erwiederte der Gast. Sie rufen aus: Ich habe nicht nöthig, Ihnen zu sagen! – und Sie sagen es dennoch, – also –

– Schon gut! schon gut! rief man wie mit Einer Stimme. Sie sagen nichts als Albernheiten, Herr Dumont; fahren Sie fort, Herr Godet; fahren Sie fort; wir hören Ihnen aus allen Kräften zu.

– Gestern also, nahm Herr Godet wieder das Wort, bei Anbruch der Nacht, legten Dieudonné und ich uns an den beiden Enden des Gäßchens in Hinterhalt, fest entschlossen, das eben erwähnte finstere Geheimniß zu erforschen. Die Uhr des Kirchspiels schlug Sieben ... nichts! ... Acht! ... nichts! ... Neun! ... nichts ... Zehn ... nichts! Elf ... nichts!

– Welche Aufopferung bei dieser Kälte so lange zu warten! riefen die Zuhörer.

– Wie sehr hätten Sie eine Bowle guten Glühwein gebraucht! seufzte Madame Lebœuf.

– Ich wunderte mich darüber nicht, fuhr Herr Godet in belehrendem Tone fort. Nein, meine Herren, ich, ich wunderte mich über diese Zögerung nicht; ich war darauf gefaßt. Ich hatte zu mir selbst gesagt: Godet, wenn etwas passiren soll, so muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß es um Mitternacht passirt; das ist gewöhnlich die strafbare Stunde gewisser Unternehmungen, die, – indeß, bleiben wir in der Reihenfolge. Die Mitternachtstunde hatte also kaum geschlagen, als ich deutlich hörte, wie man – krick – krack – das Schloß der kleinen Thür aufschloß.

– Endlich! riefen die Zuhörer.

– Wie Ihnen das Herz geklopft haben muß, Herr Godet, sagte die Wirthin. Mir würde unwohl geworden sein.

Die Natur hat mir die Gabe des Muthes verliehen, den jeder Franzose in sich tragt, meine liebe Madame Lebœuf. Ich knöpfte meinen Ueberrock zu, und machte mich gefaßt, unserm Mann zu folgen; nur fühlte ich, wie ein kalter Schweiß meine Stirn überzog, was ich der äußern Atmosphäre zuschrieb. Ich hörte Robin des Bois – oder vielmehr, nein. Er ist nicht einmal mehr dieses Beinamens würdig; er muß einen andern tragen, der diesmal wohl verdient und tausendmal fürchterlicher ist. Aber eilen wir nicht voraus. Ich höre also Robin des Bois nach meiner Seite zu kommen; er hatte einen sonderbaren, fürchterlichen Tritt, einen Tritt, den ich beinahe durch Reue gemartert nennen möchte. Ich hielt den Athem an, und stahl mich längs der Mauer hin; es war so dunkel, daß er mich nicht sah. Er ging vorüber, und ich fing an, seine Schritte zu verfolgen, mit einer Ausdauer, wie der Hund seine Beute, wenn ich mich so ausdrücken darf. Dieudonné, der ihn gehört hatte, eilte herbei, und wir folgten unserm Manne, oder vielmehr unserm – doch, eilen wir nicht voraus; wir gehen, wir gehen, wir gehen. – Gott, mußte der Unglückliche in Gedanken vertieft sein, daß er nicht bemerkte, wie wir ihm auf den Fersen waren!

– Die Haare sträuben sich einem dabei auf dem Kopfe, sagte die Wittwe, wenn man daran denkt, daß er Sie bemerken konnte!

– In diesem Falle, Madame, hielt ich eine Antwort bereit, eine Antwort, die ich in der Voraussicht eines Conflicts sorgfältig ausgearbeitet hatte.

– Und die Antwort?

– Diese Antwort war sehr einfach: die Straße gehört Jedermann! antwortete Herr Godet mit heldenmüthigem Tone.

– Wie war er denn gekleidet? fragte Madame Lebœuf.

– Er schien mir mit einem schwarzen Mantel und einem großen Hute bekleidet zu sein. Endlich nach zahllosen Umwegen kamen wir – errathen Sie wohin? – Ich gebe Ihnen hundert Mal – ich gebe Ihnen tausend – ich gebe Ihnen zehntausend Mal zu rathen.

– Wir wollen uns den Kopf darüber nicht zerbrechen! riefen die Gäste wie aus einem Munde.

– Herr Godet, haben Sie Mitleid mit uns! bat Madame Lebœuf.

Nachdem der Redner sich einen Augenblick an der allgemeinen Ungeduld geweidet hatte, sagte er endlich mit einer Grabesstimme: – Wir kommen ... ach, meine Herren!

– Aber so sprechen Sie doch!

– Wir kommen auf den Kirchhof Lachaise!

– Auf den Kirchhof Lachaise! wiederholte die Versammlung mit dem Ausdrucke des Schreckens und Entsetzens.

Madame Lebœuf war so ergriffen, daß sie sich ein Glas Rum eingoß, um sich zu erholen.

– Aber was konnte er um diese Stunde auf dem Kirchhof machen? Gott des Himmels! rief die Wittwe, nachdem sie getrunken hatte.

– Das sollen Sie sehen, meine Herren; das werden Sie nur zu sehr sehen. Wir kommen zu der Thür des Kirchhofes. Sie war verschlossen, wohlverstanden, wie dies auf dem Felde der Ruhe sein muß, damit nichts den Frieden des Grabes stört. Unser Mann, das heißt, der Mann, denn ich werfe jede Theilnahme der Schuld, jede Gemeinschaft mit einem solchen Ungeheuer zurück, – der Mann also, ohne Zweifel bewaffnet mit einem Nachschlüssel, einem Dietrich, oder einem ähnlichen schändlichen Instrumente,– der Mensch also, sage ich, öffnet die Thür und verschließt sie hinter sich wieder.

– Was thaten Sie denn nun? fragte Madame Lebœuf.

– Ich und Dieudonné hatten den Muth, den Gotteslästerer bis um vier Uhr Morgens zu erwarten ... Wahrend dieser Zeit hat er seine Zeit ohne allen Zweifel zu abscheulichen Profanationen angewendet, nach dem Beispiel des berühmten Melodrama: der Vampyr.

– Ein Vampyr! schrie Madame Lebœuf. Glauben Sie, daß es noch Vampyre giebt? Wie, der Nachbar von gegenüber sollte ein Vampyr sein? Ein Vampyr! ... Ha, welch ein gräßlicher Genuß!

– Gott sei Dank! meine liebe Madame Lebœuf, ich bin nicht abergläubisch genug, um an die übertriebenen Vampyre zu glauben, welche das Melodrama uns zeigt; aber ich glaube, daß man sich Nachts auf den Gottesacker nur aus Gründen schleicht, die nichts Natürliches, nichts Menschliches haben, und das bestimmt mich, bis ich es besser weiß, Robin des Bois den Vampyr zu nennen, und bei dieser Gelegenheit fühle ich das Bedürfniß, laut zu erklären, daß der, welcher das Asyl der Gräber nicht ehrt, früher oder später selbst in das Grab sinkt: denn die Vorsehung erreicht den Strafbaren stets, fugte Herr Godet philosophisch hinzu.

– Das ist freilich ganz einfach, weil man früher oder später stirbt, sagte halblaut der unerbittliche Tadler des Herrn Godet.

Dieser warf ihm einen zornigen Blick zu, und schloß dann mit folgenden Worten:

– Als der Mensch, den ich einen Vampyr zu nennen mich nicht scheue, den Kirchhof Lachaise verließ, folgten wir seinen Schritten wieder, zuerst, weil es unser Weg war, und dann, weil es auf den Fall irgend eines Unfalles besser ist, zu Dreien als zu Zweien zu sein. Endlich kehrte der Vampyr dahin zurück, von wo er ausgegangen war, und trat durch das Gäßchen in das, was ich kaum seine Wohnung zu nennen wage; – und von wo er ohne Zweifel diese Nacht wieder ausgehen wird, um sein Gewerbe finsterer Greuel fortzusetzen.

Die Erzählung, des Herrn Godet befriedigte seine Zuhörer nicht vollkommen.

Dieser Besuch auf dem Gottesacker, im Verein mit der glänzenden Erscheinung des Obersten in einer prachtvollen Equipage, diente als neuer Text zu unerschöpflichen Commentaren der Gäste des Café Lebœuf, und erregte die allgemeine Neugier noch lebhafter.

Mit Ausnahme der Wittwe glaubte freilich Niemand wirklich an Vampyre; aber das sonderbare Benehmen des Obersten gab dennoch Veranlassung zu den verschrobensten Auslegungen.

In dem Augenblicke, als der Streit am heftigsten, war, trat ein Postbote ein, und übergab der Madame Lebœuf einen Brief; in Erwägung der Kälte goß die Wirthin ihm ein Gläschen als Botenlohn ein.

Diese gute Handlung empfing augenblicklich ihren Lohn.

Der Postbote zog aus seinem Briefkasten ein großes, mit einem schwarzen Siegel gesiegeltes Schreiben, und sagte zu der Wittwe:

– Der Nachbar von gegenüber ist kein guter Kunde, denn seit drei Monaten habe ich ihm keinen einzigen Brief gebracht; aber hier ist einer, der mehrere werth ist. He, he, es scheint, als liebte der Herr Oberst Ulrich die fetten Bissen mehr, als die schmalen, fügte der Briefträger mit pfiffigem Wesen hinzu.

– Meine Herren, meine Herren, ein Brief für den Vampyr! rief Madame Lebœuf, indem sie das Couvert ergriff und es triumphirend über den Kopf hob.

Die Gaste eilten herbei und umgaben den Schenktisch.

– Madame! Madame! rief der Postbote, und streckte, einen Mißbrauch seines Vertrauens fürchtend, die Hand aus, seinen Brief wieder zu ergreifen.

– Beruhigen Sie sich, Freund; wir werden dem Couverte nichts Böses zufügen. Lassen Sie uns nur einen Blick auf die Adresse werfen.

– Einen einzigen Blick, fügte Herr Godet hinzu. Und den Brief mit seinen vor Aufregung zitternden Händen ergreifend, legte er ihn behutsam auf den Marmor des Comptoirtisches.

– Noch ein Gläschen, mein Junge? fragte die Wittwe den Briefträger. Was thut's, wenn Sie den Brief auch fünf Minuten später an seine Adresse übergeben?

Der Postbote trank sein zweites Schnäpschen, ohne seinen Brief aus den Augen zu verlieren.

– Laßt sehen, sagte die Wittwe, wie die Adresse lautet? Sie las: »An den Herrn Oberst Ulrich, 38, Rue Saint-Louis, in Paris.«

– Und das Siegel? Ein Wappen?

– Nein; ein einfaches Schild.

– Und der Poststempel? fragte ein anderer Neugieriger.

– Von Paris, aufgegeben um 12 Uhr, und ein Franc Porto in Erwägung seines Gewichts, antwortete der Briefträger. Nun, jetzt haben Sie den Brief hoffentlich lange genug gesehen, Madame Lebœuf.

– Noch einen Augenblick, mein Junge; Ihre Nase sieht sehr roth aus, also werden Sie wohl noch ein Schnäpschen trinken können. Es ist heute gewaltig kalt.

– Danke, danke, Madame Lebœuf, sagte der Briefträger. Schnell, schnell; meinen Brief!

Herr Godet und die übrigen Gäste betrachteten das Couvert mit einer beinahe wilden Gier; sie prüften aufmerksam das starke, bläuliche, atlasglatte Papier, die feine, flüchtige Schrift.

Plötzlich drückte die Wittwe ihre Stumpfnase auf den Brief, und rief: »Oh, das riecht nach Moschus! Was für ein abscheulicher Geruch!«

Wir sind der Wahrheit die Erklärung schuldig, daß das Couvert sehr stark nach Vétivert Vétivert ist eine Wurzel, deren Geruch dem des Cedernholzes zu den Bleistiften sehr nahe kommt. roch, aber für gewisse Leute ist jeder Wohlgeruch Moschus. Und der Moschus ist, der Tradition nach, ein abscheulicher Geruch.

Alle Nasen der Gäste des Café Lebœuf wurden nach einander auf das Couvert gedrückt.

Es ertönte nur ein Schrei: »Das riecht nach Moschus!«

– Das ist ein Brief von einer Frau! rief Herr Godet mit dem Tone eines Sehers, und zwar einer Frau, die sich parfümirt.

– Puh! sagte die Wittwe Lebœuf mit einer gewaltig geringschätzenden Miene.

– Und die noch überdies einen Brief von solcher Wichtigkeit nicht frei macht! Ein Brief, für einen Franc Porto! sagte ein anderer Gast.

– Das heißt, es kann doch wohl nicht so viel dahinter sein, gar nichts, bemerkte von neuem Madame Lebœuf achselzuckend. Eine Creatur, die Wohlgerüche trägt, und nicht einmal so viel hat, Briefe frei machen zu können!

– Warten Sie! warten Sie! sagte Herr Godet mit nachdenkendem Wesen; die kleine, feine und liegende Schrift, die Nummer vor dem Namen der Straße, ja, ja, kein Zweifel mehr, der Brief ist von einer Engländerin! Was konnte eine Frau, die sich parfümirte, eine Engländerin, mit einem schönen ausländischen Obersten zu schaffen haben, der am Tage nie ausging, und während der Nacht den Gottesacker besuchte?

Darauf kamen am Ende alle Fragen, welche die Kaffeehausgäste sich stellten. Ueber das Couvert gebeugt, flammten ihre Augen vor Verlangen. Gewiß, ohne das Menschengeschlecht zu sehr zu verleumden, kann man wohl behaupten, wenn es von den Gästen des Café Lebœuf abgehangen hätte, den unglücklichen Briefträger mit einem bloßen Blicke zu ertränken, um diesen kostbaren Brief zu besitzen, so wäre der Bote mit dem rothen Kragen in großer Gefahr gewesen.

Die Wittwe blieb dabei nicht stehen; sie hatte die Verwegenheit, eine Ecke des Couverts zu lüften, um etwas von seinem Inhalte zu entdecken.

Der Briefträger stürzte auf seinen Brief zu, und rief, bei einem solchen Mißbrauche des Vertrauens könnte er um seinen Posten und in das Gefängniß kommen.

Von dem Dämon der Neugier über alle Schranken fortgerissen, hielt die Wittwe tapfer Stand; und das Couvert war nahe daran, in diesem Kampfe zu zerreißen, als einer der Gäste ausrief: Meine Herren, meine Herren, da giebt es wieder etwas Anderes! Ein Frauenzimmer, ein Frauenzimmer, das nach der Hausnummer von der Höhle des Vampyrs zu suchen scheint! ...

Diese Worte brachten eine zauberhafte Wirkung hervor.

Die Wittwe ließ den schon ganz zerknitterten Brief los, und legte ihr dickes Gesicht an die vom Frost marmorirten Scheiben. Der Briefträger eilte in aller Hast hinaus, froh, dieser Räuberhöhle entlaufen zu sein.

Madame Lebœuf kratzte behende mit dem Nagel das Eis von einer der Scheiben, bildete sich so ein Guckloch und blickte aufmerksam auf die Straße hinaus.

– Meine Herren, zeigen wir uns nicht! sagte Herr Godet; wir würden sonst die Frau einschüchtern. Ahmen wir der theuren Madame Lebœuf nach, legen wir uns Jeder an ein Loch, und – motus

Als die Neugierigen so auf der Lauer lagen, wurden sie reichlich für ihr dreimonatliches Warten entschädigt, denn die Ereignisse schienen sich diesen Tag zu häufen.

Der Briefträger pochte an, und übergab seinen Brief an des Obersten Bedienten, der die Adresse mit argwöhnischem Blicke besah, und ärgerlich zu werden schien. Kaum war der Briefträger verschwunden, als das Frauenzimmer, welches die Müßiggänger bereits erspäht hatten, sich dem Thore des Hôtels nahete; als sie hier keinen Hammer fand, ging sie auf die kleine Thür des linken Pavillons zu. Diese schon ziemlich bejahrte Frau schien ängstlich, aufgeregt zu sein; sie trug einen schwarzen Hut und einen braunen Mantel, unter welchem sie etwas zu verbergen schien. Nachdem sie an der kleinen Thür geklingelt hatte, wartete sie nicht, bis man ihr öffnete, sondern ging ohne Zweifel, um weniger bemerkt zu werden, auf und nieder. Der Bediente des Obersten erschien, die bejahrte Frau sagte ihm hastig einige Worte, übergab ihm ein kleines Kästchen von Schildpatt, mit Gold ausgelegt, und verschwand, nachdem sie einer Person, welche die Gäste des Café Lebœuf noch nicht sehen konnten, ein Zeichen des Einverständnisses gemacht hatte. Der Bediente sah das Kästchen einen Augenblick staunend an, und schloß dann die Thüre wieder zu.

Herr Godet, die Wittwe und deren Theilnehmer an Spionerie athmeten kaum hinter ihren Scheiben; sie warteten mit unbeschreiblicher Ungeduld auf die noch unsichtbare Person. Endlich zeigte sie sich ihnen.

Es war eine junge Frau von ungefähr fünf und zwanzig Jahren. Ihre Kleidung war sehr einfach: ein kleiner schwarzer Sammethut, ein Ueberrock von sehr dunkelbraunem Gros de Naples und ein großer schwarzer Kaschemir-Shawl, der bis auf die Volants ihres Kleides herabfiel; sie verbarg die Hände in einem Muff von Marder, aus dem der Zipfel eines mit reichen Valencienner Spitzen besetzten Taschentuches hervorsah. Die niedlichsten kleinen Füßchen von der Welt endlich schienen in den schwarzen Atlasschuhen vor Frost zu zittern.

Was an dem Gesichte dieser jungen Frau von ausgezeichneter Schönheit zuerst am meisten auffiel, das war der Contrast zwischen ihren Haaren von dem schönsten Blond und ihren großen schwarzen Augen mit den scharf gezeichneten Augenbrauen von derselben Farbe.

Lange und starke Locken, durch den Rand ihres Hutes zusammengedrückt, verbargen zur Hälfte ihr Gesicht; der Kälte ungeachtet, welche die Farbe der jungen Frau hätte beleben sollen, waren ihre Wangen sehr blaß; ihre Züge schienen durch Angst und Schrecken entstellt.

Zwei Mal erhob sie ihre thränenfeuchten Augen zum Himmel, und als sie die Person, die ihrer wartete, erreichte, ließen ihre Lippen, von einem schmerzlichen Lächeln verzogen, Zähne von dem blendendsten Schmelz sehen.

Als sie vor dem Café Lebœuf vorüberging, beschleunigte sie ihre Schritte. .

Herr Godet hielt es nicht langer aus; er öffnete die Hausthür zur Hälfte, und sah, wie die beiden Frauenzimmer einen kleinen blauen Miethwagen mit rothen Fenstervorhängen erreichten, den sie an der Ecke der Rue Saint-Louis hatten stehen lassen.

Sie stiegen hinein, und fuhren ab, indem sie die Vorhänge zugezogen behielten.

– Ich hoffe, – ich hoffe, das ist etwas Neues sagte Herr Godet, indem er die Arme kreuzte und den Kopf mit triumphirendem Wesen hin- und herwiegte.

Und die Stammgäste zählten die Ereignisse wieder her, die sich seit diesem Morgen häuften:

– Ein Brief, der nach Moschus' riecht. – Eine alte Frau, die mit ganz verstörtem Wesen ein mit Gold eingelegtes Schildpattkästchen überbringt. – Und endlich eine junge Frau, die weint, indem sie an der Thür des Robin des Bois, des Vampyrs, vorübergeht! fügte die Wittwe Lebœuf hinzu.

– Sapperlot, das hübsche Geschöpf! rief Herr Godet.

– Das – eine schöne Frau? – Das hat nicht mehr stattliches Aussehen, als gar nicht! sagte Madame Lebœuf, indem sie sich in die Brust warf.

– Ich wette, daß sie die Frau ist, welche sich parfümirt und ihre Briefe nicht frankirt! rief Herr Godet nach wenigen Augenblicken des Besinnens.

– Die Engländerin? – So haben Sie also nicht gesehen, wie sie gekleidet war, Herr Godet? erwiederte die Wittwe, indem sie mit einer Miene niederschmetternder Ueberlegenheit die Achseln zuckte. Das eine Engländerin! – Es ist nichts leichter zu erkennen, als eine Engländerin. Man braucht nur auf die Art und Weise zu sehen, wie sie sich kleidet. Das ist ganz einfach zu jeder Jahreszeit: Ein Bibi von Stroh, ein rosa Spenzer, ein schottischer Rock, hellgrüne oder citronengelbe Halbstiefel, und dazu beinahe immer rothe Haare, – wie die lächerlichen Engländerinnen in den Varietes beweisen. Das ist ein Stück nicht von gestern, und hat Autorität erlangt, denn es wird öffentlich gespielt. Noch einmal, seitdem die Welt ist, haben sich die Engländerinnen, d. h. die ächten Engländerinnen nie anders gekleidet.

Unglücklicherweise unterbrach die Ankunft von zwei Personen, welche rasch in das Kaffeehaus hereintraten, die Bemerkungen und Nachweisungen der Madame Lebœuf über die Monographie der Engländerinnen.

Die Stammgäste betrachteten mit verdoppelter Neugier diese beiden neuen Personen, welche in dem Stadtviertel des Marais augenscheinlich eben so fremd waren, wie die junge, reizende Frau, deren Bild wir so eben entwarfen.



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