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Achtes Kapitel

Ottomar hatte so viel zu tun gehabt, die versäumte halbe Stunde wieder einzubringen! Er war von einer Dame zur andern, von einem der Herren zum andern geeilt, hier ein verbindliches Wort flüsternd, dort einen Händedruck mit einem Scherz begleitend, heute mehr als je der gewandte, anmutige, von Leben und Munterkeit überfließende, von heitrer Laune beschwingte Liebling der Grazien und souveräne König der Salons. – So sagte die Baronin Kniebreche zu Carla, die eben mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin im Salon erschienen und von der alten Dame, zu deren » mignons« sie gehörte, sogleich in Beschlag genommen war. – Sehen Sie nur, liebe Carla, – er spricht da eben mit Helene Leisewitz – wie sich das arme Ding freut! – es passiert ihr nicht oft, so ausgezeichnet zu werden! Mon Dieu! er macht ihr ja förmlich den Hof – sehen Sie doch nur!

Carla war in Verzweiflung. Sie konnte ohne Lorgnette nichts sehen, mochte aber neben der Baronin, die ihr Pincenez mit den talergroßen Gläsern beständig vor den halb erloschenen Augen hatte, keinen Gebrauch davon machen. Dabei schrie die alte Dame so laut, daß man es über den halben Salon hören mußte, und erwartete, daß ihr nicht minder laut geantwortet würde, weil sie auf dem rechten Ohr ganz und auf dem linken halb taub war.

Na, endlich! da flattert er zu Emilie Fischbach – à la bonne heure! Sie hat schon lange schmachtende Augen nach ihm gemacht, die reizende kleine Person! Sie wird wirklich mit jedem Tage reizender. Und wie das zu plappern und sich zu drehen weiß! Noch ein bißchen zu viel des Guten; aber das lernt sich – in der nächsten Saison haben Sie eine Rivalin mehr, liebe Carla. Sie wollen schon fort! – nein, meine Liebe, so schnell geht das nicht. Ich habe Sie seit einer halben Ewigkeit nicht gesprochen: Sie sind mir noch eine Welt von Konfidenzen schuldig. Denken Sie, daß ich alte Person wie ein neugeborenes baby unwissend durch die Gesellschaft laufen soll, während alle Welt au courant ist? Heraus mit der Sprache! wann ist denn nun die Verlobung? – ich soll nicht so laut sprechen? ich lisple ja wie ein Pappelblatt – auf diesem Ohr, wenn ich bitten darf! Es ist noch nicht festgesetzt? na, aber das nehmen Sie mir nicht übel, liebe Carla! woran denken Sie denn eigentlich? Denken Sie, daß ein Ottomar von Werben ewig zu haben ist?

Sie befehlen, gnädige Frau? sagte Ottomar, der seinen Namen gehört hatte.

Ich befehle, daß Sie sich hier zu mir setzen, auf diese meine linke Seite, Sie treuloser Schmetterling, Sie!

Gibt es auch treue Schmetterlinge, gnädige Frau?

Ach was! ich will keine Witze; ich bin eine ernsthafte positive alte Frau und will euch beiden – ja, wo ist denn Carla geblieben?

Carla hatte den Moment benutzt, sich zu erheben und mit dem Ausdruck angenehmster Überraschung auf dem lebhaften Gesicht Graf Golm entgegenzurauschen, den sie mit einem schnellen Blick durch ihre Lorgnette an der andern Seite des Salons in einer Unterredung mit der Gräfin Fischbach entdeckt hatte und der sich jetzt zu ihr wandte. Sie wollte Ottomar die Vernachlässigung entgelten lassen, deren sich dieser allerdings in auffallender Weise gegen sie schuldig gemacht hatte. Ottomar schaute ihr mit düstern Augen nach, und sein Blick erhellte sich auch nicht, während ihn die alte Baronin ein wenig ins Gebet nahm, wie sie sich ausdrückte: Ja, ja, mein lieber Ottomar, es ist die reine Wahrheit, und von wem sollen Sie die hören, als von einer alten Person, die die Welt aus- und inwendig und Sie in den Kauf von Ihren Kindesbeinen an kennt? Ich habe schon andere Verhältnisse in Nichts verduften sehen, die mindestens ebenso fest schienen, wie das eure. Alles hat seine Grenzen, auch die Geduld der Gesellschaft. Wenn man diese Geduld zu lange auf die Probe stellt, sagt die Gesellschaft: es wird nichts daraus, und wenn die Gesellschaft das eine Zeitlang gesagt hat, so wird auch nichts daraus, einfach, weil sie es gesagt hat. Man tut alles, was die Gesellschaft sagt: verlobt sich, heiratet sich, trennt sich, nimmt einen Liebhaber, läßt ihn wieder laufen, fängt mit einem zweiten an, geht mit einem dritten durch, duelliert sich, schießt seinen Freund tot, schießt sich tot – die Gesellschaft hat immer recht.

Und wenn sie nun in unserm Falle recht hätte?

Die alte Dame ließ vor Schreck das Pincenez fallen: Mais, vous êtes fou, monsieur, positivement fou!

Sie hatte ihren großen schwarzen Fächer ergriffen und bewegte ihn mit lautem Gerassel auf und nieder; setzte dann das Pincenez wieder auf, warf einen prüfenden Blick auf Ottomar, der noch immer verdrossen vor sich hinstarrte, und sagte, indem sie ihm winkte, sein Ohr nahe an ihren Mund zu bringen: Nun, hören Sie einmal ordentlich zu, liebes Kind! denn Kinder seid ihr, alle beide: Sie, der Sie hier sitzen und Augen machen, wie ein Fähnrich, der zwanzig Sterne im Leutnantsexamen zu wenig hat, und Carla, die da drüben, um Sie zu ärgern, mit Graf Golm kokettiert. Spielt nicht mit dem Feuer! Ihr könntet euch häßlich daran verbrennen. Wenn aus der Sache nichts wird, so ist es der größte Skandal der Saison. Ich werde dabei nicht assistieren, aus dem einfachen Grunde, weil ihr mich in euern respektiven Zirkeln nicht wieder sehen würdet. Und nun gehen Sie hin und bitten Sie Carla Ihren Trotz ab und sagen Sie ihr in meinem Namen, ich kennte die Grafen Golm durch drei Geschlechter, und für den jetzigen – na, das will ich ihr doch lieber selbst sagen.

Sie schlug Ottomar mit dem Fächer auf die Finger; Ottomar erhob sich eilends und machte wirklich ein paar Schritte auf Carla zu, in der sichern Erwartung, daß es nur dieser Annäherung seinerseits bedürfe, um sie zu versöhnen, die seine Unterredung mit der alten Dame fortwährend beobachtet hatte und auch jetzt die Lorgnette auf ihn gerichtet hielt. Aber Carla ließ ihn noch einen Schritt näher kommen und wandte sich dann vollständig zu dem Grafen mit der herausfordernden Bewegung einer Schauspielerin, die dem Publikum das Vergnügen bereiten will, auch die Rückseite ihrer Toilette zu bewundern. Ottomar prallte zurück und machte auf dem Hacken kehrt, zwischen den Zähnen murmelnd: sie provoziert es ja förmlich! Gott sei Dank!

Dennoch, als er sich jetzt wieder in die Gesellschaft mischte, noch munterer lachend und scherzend, als zuvor, war es in seinem Herzen finstre Nacht. Was die Baronin ihm ins Ohr gemurmelt, das hatte er sich oft und oft, und eben noch selbst gesagt, während er durch den Tiergarten heimwärts eilte; und die ehrwürdigen Bäume über ihm hatten mit ihrem Rauschen und Brausen die mahnende Stimme seines Innern so wenig übertäuben können, wie jetzt das Summen und Schwirren der Gesellschaft die blecherne Stimme der alten zahnlosen Dame. War sie doch die Stimme der Gesellschaft selbst! So, genau so würde die Gesellschaft sprechen, mußte die Gesellschaft sprechen! sprach sie vielleicht jetzt schon, ohne daß er's hörte! Mochte sie! Was wußte die Gesellschaft von der hohen, schmiegsamen Gestalt, die er eben noch in seinen Armen gehalten? von dem klopfenden Busen, der eben noch an seiner Brust geruht? von der Glut der Küsse, die noch auf seinen Lippen brannten? Wenn die vier reizenden Mädchen, mit denen er da scherzte, ihre Reize zusammentaten, wurde noch keine Ferdinande daraus. Und nun gar Carla da drüben! – er hatte sie nie so schön finden können, wie sie von allen sonst gefunden wurde; jetzt erschien sie ihm häßlich mit ihrem koketten Mienenspiel, ihrem ewigen Lachen, ihrer ewigen Lorgnette. Mochte sie den Grafen heiraten! mochten sie sagen und tun, was sie wollten! Und was konnten sie tun? ein Renkontre mit Wallbach? pah! es wäre das vierte innerhalb vier Jahren! und wenn er totgeschossen würde, desto besser! so war die ganze Geschichte auf einmal vorbei! so brauchte er sich nicht weiter den Kopf zu zerbrechen über seine Schulden! das Herz schwer zu machen mit den Weibern! – Schulden, Weiber – alles vorbei!

Gott, Herr von Werben, Sie sind heut unbeschreiblich drollig!

Mir ist auch unbeschreiblich drollig zu Mut, meine Gnädigste!

Wenn man so viel Grund hat!

Nicht wahr?

Dann tun Sie uns auch einen Gefallen!

Tausend für einen.

Holen Sie uns einmal den Kameraden von der Reserve – wie heißt er doch gleich?

Schmidt.

Schlechtweg?

Schlechtweg!

Wie drollig!

Weshalb?

Gott, wie böse Sie gleich aussehen! Wir können doch nichts dafür! Emilie Fischbach sagt, er sei unbeschreiblich liebenswürdig; wir wollen den liebenswürdigen Herrn Schmidt auch kennen lernen. Bitte, bitte, bringen Sie uns Herrn Schmidt.

Bitte, bitte! riefen die andern jungen Damen; bringen Sie uns Herrn Schmidt!

Ich fliege.

Das Kichern der jungen Mädchen, das übrigens gar nicht bös gemeint war, tönte hinter ihm her, wie ein ausgesuchter Hohn. Seine Wangen brannten vor Zorn und Scham: der Name – es war ja auch der ihre! –

Auf ein Wort, Werben!

Es war Clemda, der ihm die Achsel berührt hatte.

Was gibt's?

Ich hatte vorhin einen Brief von dem Herzog aus Brüssel. Auch von Antonie. Der Herzog kann sich jetzt freimachen; unsre Hochzeit soll in vier Wochen sein. Antonie wünscht dringend, daß deine Braut eine der Damen ist. Du mußt selbstverständlich mich unter deine Fittiche nehmen; ich wage ihr, bei Gott, nicht zu schreiben, daß ihr noch immer nicht verlobt seid. Du nimmst mir doch das kameradschaftliche avis à l'amateur nicht übel?

Wie sollte ich?

Weil du ein so bedenkliches Gesicht machtest. Wohin eilst du?

Ich soll den Damen da den Leutnant Schmidt holen.

Ah! der! ganz passabler Mensch, – so weit.

Clemda hatte das »so weit« gleichgültig-nachlässig hinterherschleppen lassen, – als ob er eine Tür, die er eben schließen wollte, wieder ein wenig auftat, um den Hund noch hereinzulassen – dachte Ottomar.

Und, was ich noch sagen wollte, Werben – man hat ja, als Wirt, Rücksichten zu nehmen – allerdings! aber man muß auch welche auf den Wirt nehmen, und –  entre nous – ich finde Golms Kurmacherei ein wenig rücksichtslos gegen dich, da er doch dein Verhältnis zu Wallbach ebensogut kennt, wie wir alle.

Er ist ganz fremd in unserm Zirkel.

Dann solltest du ihm die Situation klar machen; und Golm –

Lieber Werben! haben Sie einen Augenblick für mich?

Zu Befehl, Herr Oberst!

Ah, sagte Clemda, mit einer Verbeugung vor dem Regimentschef zurücktretend.

Nur einen Augenblick, wiederholte der Oberst von Bohl, Ottomar ein wenig auf die Seite ziehend; ich habe eben mit Wallbach gesprochen; er war sehr dringend; aber ich kann Ihnen beim besten Willen nicht vor dem Frühjahr Urlaub geben; Clemda wird einen längeren Urlaub haben wollen; Rossow muß mindestens für ein Vierteljahr ausspannen, da seine Wunde wieder aufzubrechen droht – ich kann meine besten Offiziere nicht alle auf einmal entbehren; Se. Exzellenz muß das einsehen.

Aber es pressiert ja gar nicht, Herr Oberst.

Sie wollen heiraten, und eben verheiratete junge Offiziere sind gar nicht meine Passion. Ich gönne Ihnen das diplomatische Flitterjahr in Petersburg von Herzen. Und dann, lieber Werben –

Der Oberst warf einen Blick hinter sich und sagte in leiserem Ton:

Ich hätte es auch sonst nicht ungern gesehen, wenn Sie auf eine gute Manier für eine Zeitlang – der Oberst machte eine bezeichnende Handbewegung – das arrangiert sich von Petersburg aus besser und leichter, als hier, – glauben Sie mir, lieber Werben!

Aber, Herr Oberst, es ist alles arrangiert – seit heute morgen.

Alles?

Der Oberst sah Ottomar gerade in die Augen.

Bis auf eine Kleinigkeit –

Ich hätte auch diese Kleinigkeit gern aus der Welt. Majestät ist gerade jetzt in diesem Punkte sehr empfindlich – und mit vollem Recht. Nun, nun, lieber Werben – unsereiner ist auch einmal jung gewesen, und Sie wissen, wie große Stücke ich auf Sie halte. Deshalb spreche ich so mit Ihnen und will Ihnen auch noch in aller Diskretion sagen, daß Wallbach – nicht zu jedem Opfer bereit ist – der Ausdruck würde ganz unpassend sein; aber Ihnen mit dem größten Vergnügen zu jedem Arrangement behilflich sein würde. Also: abgemacht!

Der Oberst reichte Ottomar die Hand und wandte sich dann schnell, wie um die Unterredung abzubrechen. Er hatte in der kameradschaftlichsten, freundschaftlichsten Form sein letztes Wort gesagt – sein Ultimatum. Ottomar hatte es durchaus verstanden. Es rieselte ihm heiß und kalt durch die Adern; seine Schläfen hämmerten.

Er hielt einen Diener, der mit einem Präsentierbrett an ihm vorüberkam, an, goß ein paar Gläser Wein hinunter und lachte dann, als ein Kamerad ihm zurief: Lassen Sie mir noch eins!

Finden Sie es auch so heiß?

Passabel! aber ich denke, Werben, es soll noch gehüpft werden?

Nach dem Souper; ich weiß nicht, weshalb das so lange dauert; will meine Schwester einmal interpellieren.

Sie ist dort im Kabinett.

Ottomar stürzte in das Kabinett mitten hinein in einen Kreis, der sich hier um Carla gruppiert hatte. Ein sonderbar widerwärtiges Gefühl überkam ihn. In diesem Kabinett hatten sich fast alle Szenen, die in seinem Verhältnis mit Carla entscheidend gewesen waren, abgespielt; in dieses Kabinett pflegte man sich, wenn die Gesellschaft kleiner war, zurückzuziehen, um vertraulicher plaudern zu können; und auch jetzt waren es wiederum die vertrautesten Freunde, die, einander suchend, sich zusammengefunden: ein paar der ihm liebsten Kameraden: Wartenberg, Tettritz – nur Schönau fehlte – einige besondere Freundinnen von Else, Else selbst; auch die alte Baronin Kniebreche hatte sich eingestellt, wie überall, wo sie ein interessantes Gespräch vermutete, und nicht erlaubt, daß Carla von dem kleinen, blauseidenen Sofa sich erhob, sondern sich einen Fauteuil heranrücken lassen, auf dem sie jetzt, vornübergebeugt, die Hand am linken Ohr, Carlas Worten eifrigst lauschte. Der einzige, ganz fremd in diesem Zirkel – wie Ottomar selbst wenige Minuten vorher zu Clemda gesagt – war Graf Golm; und dieser ganz Fremde stand, die eine Hand auf der Lehne des kleinen Sofas, in unmittelbarer Nähe Carlas, wo er selbst hätte stehen sollen, anstatt hier in der Tür, ohne einen Schritt weiter in das Kabinett tun zu können, da der kleine Raum gänzlich angefüllt war, und auch nicht wagend, zurückzutreten, nachdem die Baronin Kniebreche, das Pincenez zornig auf ihn richtend, gerufen hatte: Jetzt kommen Sie – endlich! nachdem unsere Carla uns alle durch ihre geistreichen Aperçus entzückt hat – ja, ja, liebe Carla, positiv entzückt! lassen Sie Ihren Herrn Bruder nur stehen, Else! – er hat es reichlich verdient – um Himmels willen weiter, liebe Carla!

Carla hatte nur ganz flüchtig ihre Lorgnette nach der Tür erhoben: Ich wüßte kein Wort hinzuzufügen, ohne mich zu wiederholen, sagte sie.

So wiederholen Sie's! rief die Baronin; man kann es nicht oft genug hören, daß Wagner der Meister aller Meister ist, die je gelebt haben oder leben werden.

Das habe ich nun nicht gesagt, Frau Baronin, – sagte Carla, ihre Hand auf die der alten Dame legend, – nur derer, die gelebt haben! Der Meister nennt seine Musik nicht umsonst die der Zukunft. Und die Zukunft heißt so, weil sie noch kommen wird; wer aber möchte sich vermessen, zu sagen, was kommen wird?

Ist es nicht stupend? rief die alte Dame, – positiv stupend?

Denn, fuhr Carla fort, – so tief meine Bewunderung vor dem Meister ist, ich kann mir doch, wenn auch nicht ohne einiges Zagen, – nur zu erklärlich einer solchen inkommensurablen Größe gegenüber! – nicht verhehlen, daß die mystische Verbindung zwischen Wort und Ton, die ja das eleusinische Geheimnis ist, welches der Meister verkündet – freilich nur den Eingeweihten – doch noch eine innigere, tiefere Sättigung zuläßt, um mich so auszudrücken, in der die letzten Reste jener barbarischen Trennung, die man bis jetzt für Poesie und Musik ausgab, völlig und für immer überwunden sind.

Positiv stupend! rief die Baronin.

Magnifique! schnarrte der Leutnant von Tettritz.

Aber das gibt doch auch Wagner selbst zu, meine Gnädigste, sagte von Wartenberg.

Und das spricht eben für mich, erwiderte Carla, wenn wir sehen, wie dieses grandiose Genie sich mit jedem Werke erweitert und vertieft, wie es mit Gigantenschritt von Rienzi und dem fliegenden Holländer zu Tannhäuser und Lohengrin, von diesen zu den Meistersingern, von den Meistersingern zu Tristan und Isolde schreitet, die ich freilich nur fragmentarisch aus der Partitur kenne, und nun gar zu dem, was uns der Ring des Nibelungen bringen wird – sollen wir, dürfen wir da sagen – gegen den Sinn des bescheidensten aller Menschen, der jedes Höchste, was er errungen, nur immer wieder als Vorstufe zu einem noch Höheren bezeichnet – mit dem Ringe ist der Ring geschlossen? Unmöglich! Die Kunst – sagte Goethe, der, wenn er auch von Musik nichts verstand, doch in dergleichen allgemeinen Sätzen der Ästhetik immerhin gehört zu werden verdient – die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen – und, göttlich, wie er ist, zu den Menschen müssen wir doch auch den Meister rechnen.

Ich muß Sie küssen, positiv küssen! rief die Baronin; – was sagen Sie dazu, Graf Golm, was sagen Sie dazu?

Ich hülle mich in Bewunderung und – Schweigen, erwiderte der Graf, die Hand aufs Herz legend.

Und Sie, Ottomar? rief die Baronin, sich mit fast jugendlicher Lebhaftigkeit in ihrem Fauteuil umdrehend und ihre Pincenezgläser, wie ein doppelläufiges Terzerol, auf den Angerufenen richtend.

Ich halte die ganze Wagnerei von Anfang bis zu Ende für den abscheulichsten Humbug, erwiderte Ottomar trotzig.

Die Gesellschaft geriet in die größte Bewegung: Um Himmels willen! – unerhört! abscheulich! – eine Blasphemie! – schwirrten die Ausrufe durcheinander.

Was hat er gesagt? fragte die alte Dame, die Hand am Ohr, sich zu Carla hinüberbeugend.

Carla zuckte die Achseln: Sie können wirklich von mir nicht verlangen, Frau Baronin, daß ich Herrn von Werbens Worte wiederhole.

Die Ottomar sowieso nicht ernstlich gemeint hat, sagte Else, ihrem Bruder einen bittenden Blick zuwerfend, den Ottomar mit einer abwehrenden Bewegung beantwortete.

Ich glaubte, sagte er, da mir die Frau Baronin die Ehre antat, sich direkt an mich zu wenden, mit meiner Meinung um so weniger zurückhalten zu sollen, als sie in diesem »edlen Kreise« – Ottomar hob die letzten Worte spöttisch hervor – doch ganz gewiß von keinem Belang ist.

Humbug! rief die alte Dame, die sich unterdessen, während jetzt alles durcheinander sprach, von Herrn von Tettritz das entsetzliche Wort hatte in die Ohren rufen lassen; – das ist zu arg! das muß er zurücknehmen! Positiv zurücknehmen! Haben Sie gehört, Ottomar?

Gewiß, gnädige Frau, erwiderte Ottomar, – sehe mich aber leider nicht in der Lage, Ihrem Befehle nachkommen zu können.

Das ist eine Beleidigung, eine positive Beleidigung! rief die Baronin, den ungeheuren Fächer krampfhaft auf und nieder schwingend; – gegen uns alle – gegen Carla insbesondere – auf Ehre, liebe Carla!

Carla schien nichts gehört zu haben; sie lachte, sich in den Sofa zurückbiegend, zu dem Grafen hinauf, der, jetzt den Ellenbogen aufstützend, sich tief zu ihr hinabneigte. Else war in der tödlichsten Verlegenheit. Sie wußte, daß ihrem Bruder die Musik sehr gleichgültig war und er in jedem andern Falle der fatalen Szene mit einem anmutigen Scherze, der ihm so leicht zu Gebote stand, ein Ende gemacht haben würde, und daß, wenn er es jetzt nicht tat, wenn er, wie seine finstere Miene nur zu deutlich verriet, noch weiter zu gehen entschlossen war, es nur einen Grund haben konnte: einen Eklat herbeizuführen, mit Carla zu brechen, in Gegenwart der Freunde – unwiderruflich, unwiederbringlich! Sie wollte ja die Verbindung nicht; sie hatte ja noch heute morgen so eifrig dagegen gesprochen, dem Bruder ihr sorgenvolles Herz ausgeschüttet – aber das hatte Carla doch nicht verdient, die heute sich nicht anders gegeben, als alle Tage, und deren Lachen in diesem Augenblick sicher nur gemacht war. Was sollte sie sagen? was tun?

Werden Sie mich wenigstens der Ehre einer Antwort würdigen? rief die alte erzürnte Dame, sich halb aus ihrem Fauteuil erhebend.

Lassen Sie mich für ihn antworten, gnädige Frau! sagte eine Stimme.

Else hätte fast vor freudiger Überraschung aufgeschrien: es war Schönau, der, die Hand auf Ottomars Achsel legend, jetzt in die Tür trat; hinter beiden sah sie ein anderes bärtiges Gesicht, dessen große, treue Augen die Gruppe im Kabinett rasch überflogen, um auf ihr haften zu bleiben. Er konnte hier nicht helfen, aber schon seine Gegenwart war für sie ein Trost, für Hilfe würde schon der kluge Schönau sorgen.

Sechs Stimmen auf einmal hatten ihn mit dem Frevel, dessen sich Ottomar unterfangen, bekannt gemacht.

Aber Werben, Werben! sagte Schönau, mit dem Finger drohend, – muß Sie denn Ihre waghalsige Kühnheit in jede Todesgefahr reißen? Und wenn Sie wenigstens so fest in der Logik säßen, wie im Sattel! Aber die Ursache mit der Wirkung zu verwechseln, Chinarinde, weil sie Ohrensausen, Kopfschmerzen und Schwindel hervorbringt, Schwindel zu nennen – das ist doch wirklich unerlaubt.

Da hören Sie's! rief die alte Dame, die nur das letzte Wort verstanden hatte, triumphierend: unerlaubt – Positiv unerlaubt! Stehen Sie auf, Tettritz, lassen Sie mal Schönau hierher! weiter, Schönau! Wagner ist der größte Musiker – nicht?

Und der größte Dramatiker dazu! sagte Schönau, den ihm bereitwillig frei gemachten Platz an der Seite der Baronin einnehmend.

Weiter! weiter! rief die Baronin, Schönau mit ihrem Fächer auf die Hand schlagend.

Freilich, fuhr Schönau lächelnd fort, – ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, jedes Dichters Aufgabe; aber doch mit Unterschied. – J'ai vu les mœurs de mon tempts et j'ai publié ces lettres, schrieb Rousseau in der Vorrede seiner Nouvelle Héloise – das mag auch für den Romanschriftsteller genügen – den Halbbruder des Dichters, wie Schiller ihn nennt. – Wir müssen zufrieden sein, wenn er uns gute Photographien der Wirklichkeit liefert – Augenblicksbilder; und sehr zufrieden, wenn diese Augenblicksbilder stereoskopisch herauskommen, beinahe körperlich wirken. Beinahe! denn mit der Aufgabe macht doch nur Ernst, und kann auch nur Ernst machen, der Dramatiker, dessen Zweck, sowohl anfangs, als jetzt, bekanntlich war und ist, dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. Dazu gehört aber in erster Linie, daß er Shakespeares goldener Regel eingedenk bleibt: Seid auch nicht allzu zahm! und eben, daß Wagner gar nicht zahm ist, daß er die Kühnheit hat, die seine Feinde Frechheit nennen, die springenden Punkte in dem Charakter seines Jahrhunderts auch wirklich hervorspringen, aus dem Körper seiner Zeit auch die Auswüchse herauswachsen zu lassen – das ist es, was ihn in den Augen aller, die Ohren zum Hören und Augen zum Sehen haben, so himmelhoch über seine Konkurrenten emporhebt.

Ich möchte Sie küssen! rief die Baronin, – weiter, lieber Schönau, weiter!

Schönau verbeugte sich.

Welches aber sind die springenden Punkte unseres Jahrhunderts? Fragen Sie unsere Philosophen: Schopenhauer, Hartmann –

Das ist was für Sie, Carla! rief die Baronin.

– sie werden Ihnen antworten: die tiefe Überzeugung von der Unzulänglichkeit, Jämmerlichkeit, Erbärmlichkeit – sprechen wir das Wort aus: Nichtsnutzigkeit dieses unsres Erdenlebens; und als Korrelat dazu: das bewußt-unbewußte Sich-Sehnen nach der Nirwana, dem süßen Nichts, dem Ab- und Urgrund der Dinge, in den wiederum zu versinken der geängsteten Natur mit Recht als einzige Rettung und letzter Zufluchtshafen aus dieses Lebens Wüste und Irrsal erscheint und in den sie auch zweifellos flüchten würde, wenn der Wille nicht wäre, der riesenstarke, unüberwindliche, unausrottbare Wille, der nichts weiter will, als leben, genießen, den schäumenden Kelch des Lebens, Liebens ausschwelgen und ausschlürfen bis auf den letzten bittern Tropfen. Entsagung dort – Genuß hier – beide im Übermaß, weil eines von dem andern weiß, eines das andre haßt, wie die feindlichen Geschwister. Und nun, dieser Streit und Widerstreit ewig unvereinbarer Gegensätze, dies Sich-Hinüber- und Herübergerissen-Fühlen in tollstem Durcheinander, wahnsinnigsten Taumel, wirrsten Schwindel, dieser Hexensabbat, dieser Irrlichtertanz und diese Sternschnuppenglorie der modernen Menschheit, von der Hölle in den Himmel, vom Himmel zur Hölle hastend, rasend, verschwebelnd und vernebelnd – dies alles und noch ein wenig mehr übersetzt in endlosen Singsang und unendlichen Klingklang: graueste Vergangenheit zu einer rosenroten Fratze der Gegenwart umgeschminkt, während aus den leeren Augenhöhlen eine gespenstische Zukunft starrt – die Schmeichelflöten süßester Lust, hinsterbende Geigenklänge verhauchender Wonne, übertäubt von den schmetternden Trompeten und dröhnenden Posaunen der Vernichtung – da haben Sie den Venusberg und den Büßer, die Brautnacht und Monsalvat, den chronischen Liebesjammer und die Zaubertränke nach Vorschrift; da haben Sie, nehmen Sie alles nur in allem, ihn, dessen Gleichen man nimmer sah und wieder sehen wird – da haben Sie Richard Wagner! Und nun, meine gnädigste Frau, meine Damen, erlauben Sie mir, mich zurückzuziehen, bevor das entzückte Schweigen, in das ich Sie versetzt habe, sich in Worten Luft macht, die gewiß nicht die Bescheidenheit der Natur, aber doch meine Bescheidenheit verletzen würden.

Schönau hatte der Baronin Kniebreche die Hand geküßt und war, Ottomar mit sich fortziehend, davongeeilt. Einige lachten hinter ihm her, andere schrien über Verrat; die Baronin rief einmal über das andere: ich weiß nicht, was ihr wollt! er hat ja vollkommen recht! – Der Leutnant von Tettritz, der, als enragierter Wagnerianer, sich ernstlich beleidigt fühlte und bei sich überlegte, ob er nicht Schönau wegen dieser Insulte fordern müsse, suchte ihr zu beweisen, daß der Hauptmann sie auf das Abscheulichste mystifiziert und ironisiert habe. – Ohne daß ich es gemerkt hätte? rief die alte Dame, – so was müssen Sie mir nicht sagen, liebes Kind! was Ironisieren heißt, das versteht die alte Kniebreche besser – positiv besser!


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