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Sechstes Kapitel

Er atmete tief: hier draußen schien die Sonne so goldig, und drinnen im Hause huschten so viele nächtige Gespenster! – Großer Gott, sprach er bei sich, gibt es denn ein schrecklicheres Los, als so durchs Leben schleichen und tasten, mit verfinsterter Seele, wie diese arme Tante? immer und überall Verrat und Tücke, Schlechtigkeit und Unglück fürchten? von dem hellen Sonnenschein, von all der Pracht und Schönheit der Welt nicht mehr sehen, als ob man blind wäre, wie – das arme Mädchen!

An dem Eisengitter, das den etwas höher gelegenen Garten von dem Hofe trennte, tastete sich ein junges Mädchen hin. Sie ging langsamen, gleichmäßigen Schrittes, in der erhobenen Linken einen Teller tragend, auf dem Butterbrote zu liegen schienen, und mit der Rechten im Weiterschreiten jeden dritten Stab des Gitters leicht berührend – und an dieser gleichmäßigen Bewegung hatte Reinhold bereits die Blinde erkannt, bevor sie stehen blieb und, den Kopf ein wenig erhebend, das Gesicht der Sonne zuwandte. Die Sonne schien machtvoll; aber das Mädchen blinzelte nicht mit den Wimpern. Sie hatte die Augenlider weit geöffnet, wie eine Blume ihre weit geöffneten Kelche der Sonne zuwendet, und blumenhaft-lieblich war der Ausdruck der süßen, kindlich reinen Züge.

Arme, arme Cilli! murmelte Reinhold.

Der Name war ihm von der Unterhaltung gestern abend in Erinnerung geblieben, und daß die Blinde Herrn Kreisels, Onkel Ernsts Buchhalters, Tochter sei. Und da drüben, der Herr, der jetzt in die Tür des niedrigen Gebäudes trat, das, nach den Pulten an den Fenstern zu schließen, die Kontors enthielt und nun über das dazwischen liegende Stück des Hofes auf das junge Mädchen zukam, mußte der Vater sein: ein kleiner alter Herr mit einem gänzlich kahlen Schädel, der in dem hellen Sonnenschein wie eine weiße Marmorkugel leuchtete.

Die Blinde hatte die Schritte sofort erkannt. Sie wandte den Kopf und zeigte Reinhold den Rücken, über den ein Paar dicker aschblonder Flechten so tief hinablief, daß die Enden hinter der Fundamentmauer des Gitters verschwanden. Sie nickte wiederholt dem Kommenden entgegen; jetzt war er bei ihr; sie neigte das Haupt, daß er sie auf die Stirn küssen konnte, und hielt ihm mit beiden Händen den Teller hin, von dem er eines der Butterbrote nahm und alsbald zu essen begann, zwischendurch einige Worte sprechend, die Reinhold aus der Ferne nicht verstehen konnte, so wenig, wie des Mädchens Antworten. Aber er hätte darauf schwören mögen, daß es Liebesworte waren, die da gewechselt wurden, denn von Zeit zu Zeit strich der Alte mit der Linken – in der Rechten hielt er das Butterbrot – über das aschblonde Haar, während auf des Mädchens lieblichem Gesicht, das er jetzt im Profil sah, fortwährend ein glückseliges Lächeln spielte. Und nun hatte der Alte auch sein zweites Butterbrot verzehrt, er zog ein weißes Tuch aus der Tasche, das er aus den Falten schlug, um sich damit über den Mund zu streichen, dann wieder in dieselben Falten legte und in dieselbe Tasche steckte, während das Mädchen, wie im Anfang, ihm ihre Stirne zum Kuß entgegenneigte. Der Alte trippelte davon und stand jetzt in der Tür, mit der Hand winkend; die Blinde winkte und nickte zurück, bis er verschwand, gerade, als ob sie alles gesehen, was sie doch nur mit den leisen Ohren hörte oder nach den Sekunden abmaß, die wahrscheinlich immer genau dieselben waren. Wieder hob sie, mit demselben blumenhaft-lieblichen Ausdruck des holden Gesichtes, die Augen zur Sonne, nahm den Teller, den sie vorhin in der Linken getragen, in die Rechte und schritt den Weg, den sie gekommen, zurück, mit den Fingerspitzen jeden dritten Stab des Gitters leicht berührend.

Reinhold hatte die ganze Szene beobachtet, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Die arme Blinde konnte ihn ja nicht sehen, und der Alte hatte nicht ein einziges Mal herübergeblickt.

Daran dachte er selbst aber jetzt erst. Das rührende Bild hatte seine Seele wie mit einem Zauber gefangen gehalten, und der Zauber hatte ihn noch nicht losgelassen, denn noch immer verfolgte er die Bewegungen des Mädchens mit atemloser Aufmerksamkeit: jede dritte Stange mit ihr berührend, als ob er sich selber an dem Gitter hintaste, im Geist die Füße leicht und gleichmäßig aufsetzend, wie sie es nach dem leichten und gleichmäßig schwebenden Gang tun mußte; ihres Wiedererscheinens hinter einem Weißdornbusch, der an dem Gitter wuchs und sie jetzt seinen Blicken entzog, harrend, wie der Schiffer des Wiederaufleuchtens eines Sternes harrt, den er beobachtet und den auf Sekunden, die er zählt, eine vorüberziehende Wolke verbirgt. Aber sie kam in der Zeit, die verfließen konnte, nicht zum Vorschein; dafür bewegte sich der Busch. Vielleicht wollte sie ein Zweiglein abpflücken und konnte nicht damit zurecht kommen; im Nu war er durch das Gartenpförtchen an ihrer Seite.

Ein Dorn des Busches hatte, aus dem Gitter hervorragend, den im Winde wehenden Zipfel ihres weißen Schürzchens erfaßt und wollte nicht loslassen, wie geduldig sie sich auch bemühte, die Störung zu beseitigen.

Verstatten Sie mir! sagte Reinhold.

Sie hatte, noch bevor er bis zu ihr gekommen, sich aus ihrer gebückten Stellung aufgerichtet und ihm ihr Gesicht zugewandt, das jetzt, als er sprach, von dem lieblichsten Rot übergossen wurde. Sonst war keine Spur von Verlegenheit oder gar Schrecken in den reinen Zügen.

Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, sagte sie.

Der süße, melodische Klang ihrer Stimme harmonierte wundersam mit dem kindlich-heitern Lächeln, das die Worte begleitete.

Woher wissen Sie, Fräulein Cilli, daß ich es bin, der mit Ihnen spricht? sagte Reinhold, indem er sich niederbeugte und den leichten Stoff aus dem Dorn löste.

Von ihm, von dem Sie wissen, daß ich Cilli heiße und blind bin: von Justus.

Wollen Sie meinen Arm nehmen, Fräulein Cilli, und mir erlauben, daß ich Sie bis an Ihre Wohnung geleite – ich vermute in dem Hause, da gerade vor uns.

Ich gehe sicherer allein; aber Ihre Hand – wenn Sie mir die einmal reichen wollten!

Sie streckte ihm eine kleine zarte weiße Hand entgegen, die Reinhold mit einem Gefühl der Ehrfurcht berührte.

Ganz wie er gesagt hat, flüsterte sie, wie mit sich selbst sprechend: fest und männlich – eine gute, eine treue Hand.

Sie hatte seine Hand losgelassen, und so gingen sie nebeneinander, sie am Gitter, die Stäbe wieder streifend, er, dicht an ihrer Seite, ohne einen Blick von ihr zu verwenden.

Hat Herr Anders das letztere auch gesagt? fragte er.

Ja, sonst hätte es mir die Hand gesagt, ich verstehe mich auf Hände. Justus' Hand ist nicht so fest, obgleich er sehr viel arbeitet; aber sie ist auch so gut.

Und so treu, sagte Reinhold.

Cilli schüttelte den Kopf mit einem Lachen, das, wie Schwalbengezwitscher, süß und leise ertönte.

Nicht so, sagte sie, nicht so treu! Er kann es nicht sein, kein Künstler kann es. Der darf nur einen Stern haben, sein Ideal; zu dem muß er fortwährend aufschauen, dem muß er folgen, wie die Könige aus dem Morgenlande dem Stern, der vor ihnen hinzog und zu Bethlehem über der Hütte stehen blieb, drin die Krippe war mit dem Heiland. Aber sonst – sonst muß er frei sein, wie die Vögel dort oben in den Zweigen, – frei, zu kommen und zu gehen, und zu flattern und zu fliegen und zu singen, wie ihm ums Herz ist.

Sie hatten das Ende des Gitters erreicht; vor ihnen lag das Haus, in dem Cilli wohnte. Sie hatte die Fingerspitzen an die eiserne Säule gelegt, in der das Gitter abschloß, und hatte das Gesicht etwas nach oben gerichtet mit einem seltsam träumerischen Ausdruck.

Ich wünsche oft, ich wäre ein Künstler, sagte sie; aber ein Seemann – das möchte ich doch noch lieber sein. Wenn ich recht wundersam träume, dann fliege ich über die Lande auf weit ausgespannten Flügeln. Unter mir grüne Wiesen und dunkle Wälder und Ackerland, das in goldenen Saaten wogt; Silberbäche schlängeln sich von den Bergen und rauschen zusammen zu großen Strömen, die im Glanz der Sonne blinken, die immer tiefer nach dem Horizonte sich neigt. Und je tiefer sie sich neigt, und je rosiger die Ströme aufflammen und die Kuppeln der Dome, die sich in ihnen widerspiegeln, um so mehr ergreift mich eine große Angst, sie könnte sinken, ehe ich es sehe, was ich nicht kenne, wovon ich nur weiß, daß es ganz überaus herrlich und groß und majestätisch ist. Und in dem Augenblicke, wo die Sonne so tief, so tief sinkt, daß sie alsbald verschwinden müßte – da liegt es vor mir, – unermeßlich, grenzenlos – das heilige Meer! Was ich da empfinde, das kann ich nicht beschreiben; aber ich meine, so muß den Gestorbenen sein, wenn sie in die ewige Seligkeit einziehen, oder den guten großen Menschen, wenn sie die Tat ihres Lebens getan haben, die sie unsterblich macht.

Ein paar Schwalben schossen zirpend durch die Luft; die Blinde hob die lichtlosen Augen. Die kommen übers Meer, ich nicht; ich komme nur immer bis ans Ufer – nur immer bis ans Ufer!

Zum erstenmal zog es wie ein Schatten über das liebliche Gesicht, das zu Reinhold emporschaute. Aber im nächsten Moment glänzte es wieder von dem kindlich-heitern Lächeln.

Ich bin recht undankbar, sagte sie, nicht wahr? Wie viele Menschen sehen nie das Meer, nicht einmal im Traume, wie ich – noch heute nacht. Justus kam an unserem Fenster vorüber; wir haben immer sehr spät Licht. Da rief er hinauf, daß Sie angekommen und ein so guter lieber Mensch seien und so viel Wunderbares erzählt hätten von Ihren großen, großen Reisen. Sie müssen mir auch davon erzählen – wollen Sie?

Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Gewiß will ich es! rief Reinhold; ich fürchte nur, daß Ihre Träume viel, unendlich viel schöner sind, als alles, was ich Ihnen erzählen könnte.

Die Blinde schüttelte den Kopf.

Sonderbar! so sagt der Papa auch immer, und selbst Justus, der doch ein Künstler ist und vor dem die Welt daliegt – herrlich, wie am ersten Schöpfungstage. Und nun auch Sie, der die ganze Welt gesehen hat! Ich kann in die Sonne blicken, ohne zu blinzeln; Ihr müßt die Augen vor ihrer Herrlichkeit verschließen; ich – ich kann das liebe Lächeln auf meines guten Vaters Gesicht nicht sehen – die Gesichter der Menschen nicht sehen, die ich liebe; – wie kann meine Welt so schön und herrlich sein, wie die Eure? Aber das sagt Ihr gewiß auch nur, um mich nicht zu betrüben. Das braucht Ihr gar nicht zu fürchten. Ich beneide ja niemand; ich gönne ja jedem sein Glück von ganzem Herzen, jedem! und nun gar den Menschen, die so gut, ach! so himmlisch gut zu mir sind, wie der Vater, und der liebe Justus!

Das Gesichtchen, das zu ihm aufschaute, erglänzte wieder in sonnigster Heiterkeit.

Ich kann kein Ende finden, wenn ich ins Schwatzen komme, nicht wahr? Und nun halte ich Sie so lange auf, und Sie haben so viel Wichtigeres zu tun! Auf Wiedersehen!

Sie zog mit einem leichten Druck die Hand, die sie ihm bis jetzt gelassen hatte, zurück und tat einen Schritt nach der Tür, die, durch die Breite des Weges, der sich auf dieser Seite zwischen dem Garten und dem Hause hinzog, getrennt, vor ihnen sich befand. Dann blieb sie abermals stehen und sagte, halb über die Schulter gewandt:

Hat nun Justus nicht recht, daß Sie gut sind? Sie haben nicht gelächelt, als ich sagte: auf Wiedersehen!

Sie tat die Paar Schritte nach der Tür, deren Pfosten sie mit den Fingerspitzen berührte, wandte sich, auf der Schwelle stehend, noch einmal, nickte und trat in den Hausflur.


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