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Drittes Kapitel

Philipp hatte Reinhold zugeraunt, daß er ihn hernach aufsuchen werde; Reinhold war mit banger Sorge erfüllt über den Ausgang einer Begegnung zwischen Vater und Sohn, die zu keiner ungelegeneren Zeit stattfinden konnte; aber er mußte geschehen lassen, was er zu verhindern keine Macht hatte, und wollte die Zwischenzeit benutzen, dem alten Buchhalter, den er im Laufe der letzten Tage wiederholt gesprochen und als einen zwar wunderlichen, aber trefflichen und rechtschaffenen Menschen kennen gelernt, nach der soeben erlebten Szene ein beruhigendes Wort zu sagen. Er traf den Alten in der kleinen Laube am Ende des schmalen Ganges zwischen dem Garten und dem Gebäude, in dessen oberem Gestock seine und Anders' Wohnung sich befanden. Cilli war bei dem Vater und trocknete ihm, der ganz gebrochen auf der Bank vor ihr saß, den Schweiß von der Stirn. Sie hatte Reinholds Schritt sofort erkannt und sagte, als er in die Laube trat:

Gott sei Dank, daß Sie kommen, Herr Kapitän! Sie sind ja zugegen gewesen! wie hat Herr Schmidt denn nur Papas Bekenntnis entgegengenommen? – ich muß aus Papas Worten schließen: sehr schlimm.

Im Gegenteil, Fräulein Cilli, der Onkel ist der Meinung, daß zwischen zwei so alten Freunden, wie er und Ihr Vater, eine theoretische Differenz sehr gleichgültig ist.

Aber wenn es nun nicht bei der Theorie bleibt, rief der alte Herr – wenn nun die praktischen Konsequenzen gezogen werden, – von aller Welt –

Nur nicht von Ihnen, lieber Herr Kreisel! Beantworten Sie mir die eine Frage: würden Sie irgend eine geschäftliche Konjunktur benutzen, von Ihrem Chef eine Erhöhung Ihres Gehaltes zu erpressen?

Niemals! rief der alte Herr, – niemals!

Da sehen Sie selbst. Trotzdem Sie vielleicht in der Theorie ganz recht haben. Aber zwischen dieser und der Praxis liegt bei gebildeten Leuten, wie Sie, ein weiter, weiter und sehr rauher Weg, den Sie eben niemals einschlagen, oder auf dem Sie nach den ersten Schritten schaudernd Halt machen würden.

Ja, ja, die Nerven! murmelte der alte Herr, – ich habe die Nerven nicht dazu. Ich bin wie zerschlagen; ich glaube wirklich, er hat recht – eine Stunde Schlaf würde mir gut tun.

Er ging auf Reinholds und Cillis Zureden in das Haus; Reinhold hatte ihn die wenigen Schritte zur Tür begleitet; als er wieder in die Laube trat, saß Cilli, die Hände im Schoß gefaltet, das liebe, freundliche Gesichtchen erfüllt von tiefster Sorge und Bekümmernis, daß es Reinhold in die Seele schnitt.

Liebe, arme Cilli, sagte Reinhold, sich zu ihr setzend und ihre Hände in die seinen nehmend, – ängstigen Sie sich nicht; ich gebe Ihnen mein Wort: der Onkel denkt nicht daran, mit Ihrem Vater zu brechen; es bleibt zwischen ihnen alles, wie es gewesen.

Nicht, wie es gewesen, erwiderte Cilli, den Kopf schüttelnd, – der Vater ist seit Donnerstag wie verwandelt. Er hat kaum einen Bissen gegessen, kaum eine Minute geschlafen, und heute morgen in aller Frühe kam er an mein Bett und sagte: er habe jetzt keinen Zweifel mehr, daß auch er Sozialist sei, und er müsse es dem Herrn Schmidt sagen. Das war ja denn auch in der Ordnung, da man doch immer die Wahrheit sagen muß, und nun gar in diesem Falle, wo Ihr Herr Onkel keine Sozialisten in seinem Geschäfte duldet. Und wenn auch Ihr Herr Onkel mit dem Vater, weil er ein alter, schwacher Mann ist, eine Ausnahme machen will, wie Sie versichern und wie ich von vornherein geglaubt habe – der Vater ist stolz und wird den Gedanken, nur geduldet zu sein, nicht ertragen, um so mehr, als er unzweifelhaft recht hat.

Wie? liebe Cilli? fragte Reinhold erstaunt, – Ihr Vater hätte recht?

Gewiß hat er das, erwiderte Cilli eifrig; – oder wäre es denn kein Unrecht, daß auch nur einer leidet, wenn die andern es verhindern könnten? Hat nicht Christus geheißen, die Hungrigen zu speisen, die Durstigen zu tränken, die Nackten zu kleiden, die Mühseligen und Beladenen zu erquicken? Und wenn es nicht Christus befohlen hätte, befiehlt es nicht jedem guten Menschen das eigene Herz?

Dann, liebe Cilli, wären alle guten Menschen Sozialisten; dann möchte auch ich selbst Anspruch auf diesen Titel machen; aber zwischen der Nächstenliebe, wie Sie sie schildern, und dem Sozialismus, den die Leute wollen, ist doch ein gewaltiger Unterschied.

Ich sehe keinen, sagte Cilli.

Reinhold schaute in die mit dem Ausdrucke süßer Schwärmerei nach oben gerichteten lichtlosen Augen.

Ich glaube wohl, daß du keinen siehst, armes Kind, sprach er bei sich.

Und nach dieser Seite bin ich auch ganz ruhig, fuhr die Blinde fort; – der Mensch muß seiner Überzeugung leben und die Folgen ruhig tragen. Und der Vater und ich – wir können's ja um so eher, als wir beide im schlimmsten Falle nicht lange daran zu tragen haben.

Wie meinen Sie das, liebe Cilli?

Ich weiß, daß der Vater nicht lange mehr lebt; der Doktor hat schon immer gefürchtet, er werde seinen Nervenzufällen unterliegen, und einmal, als es sehr schlimm stand, hat er mir das gesagt, um mich vorzubereiten; ich bin vorbereitet. Und wenn nun der Vater nur glauben wollte, daß ich ihn sicher nicht lange überlebe, so würde er auch verhältnismäßig ruhig sein. Auf Sie hält er sehr große Stücke; Ihnen glaubt er vielleicht, wenn Sie es ihm versichern.

Aber wie kann ich das, liebe Cilli?

Weil es die lautere Wahrheit ist; ich bin krank, todkrank an meinen Nerven. Daß ich blind bin – seit meinem dritten Jahre – ist nur eine Folge dieser Krankheit, die ich wohl von dem Vater geerbt habe. Als ich acht Jahre alt war und es wieder einmal sehr schlimm um mich stand, hatten die Eltern zwei Ärzte gerufen, und der eine sagte zum andern, als sie hinausgingen – sie sagten es leise, und ich sollte es gewiß nicht hören, aber sie bedachten nicht, wie scharf ich höre – es wäre ein Wunder, wenn das Kind sechzehn Jahre alt würde. – Ich werde im nächsten Frühjahr sechzehn und – ich glaube nicht an Wunder.

Die Ärzte irren sich so oft; ich hoffe zu Gott, daß sie es hier getan haben.

Ich hoffe es nicht – ich wünsche es auch nicht.

Aber Sie lieben ja das Leben so?

Gewiß nur deshalb, weil ich weiß, daß ich so bald sterben muß, wie ihr alle ja auch sagt, ich fände die Welt nur so schön, weil ich blind bin. Und wenn der liebe Vater tot ist, für wen sollte ich wohl noch leben?

Für Ihre Freunde, – gleich für mich zum Beispiel – für Justus, den Sie so lieb haben und der auch Sie so lieb hat.

Der mich so lieb hat?

Um den reizenden Mund der Blinden zuckte es; sie atmete ein paarmal tief auf; aber die Tränen wollten sich nicht zurückhalten lassen; stromweis brachen sie aus den armen, blinden Augen und rieselten durch die schlanken, weißen Finger, mit denen sie die Tränenflut verdecken wollte.

Um Gott, Cilli, was ist dies? rief Reinhold, von einer schmerzlichen Ahnung ergriffen.

Nichts! nichts! murmelte die Blinde; – Sie sehen ja jetzt selbst, daß ich krank – wie krank ich bin! Horch! was war das für ein fremder Schritt über den Hof?

Reinhold schaute auf und erkannte Philipp, der, jedenfalls, um ihn zu suchen, eiligst an dem Gange vorüberkam, ohne nach der Laube in der Tiefe zu blicken. Der Gedanke, hier von Philipp gerade jetzt aufgefunden zu werden, war ihm sehr peinlich. Er mußte sich entschließen, Cilli zu verlassen, die ihn nun selbst wegdrängte: gehen Sie! gehen Sie! vor Ihnen schäme ich mich meiner Tränen nicht; Sie sind der einzige Mensch, der mich weinen sehen darf!

Es war die höchste Zeit gewesen; Philipp hatte bereits wieder kehrt gemacht und kam ihm jetzt entgegen.

Wo zum Teufel steckst du? ich habe dich schon auf deinem Zimmer und auf dem ganzen Hof gesucht!

Die Unterredung mit deinem Vater kann nicht lange gedauert haben.

Philipp lachte bitter: Als ob sich mit dem überhaupt reden ließe; aber diesmal ist es bei Gott das letzte Mal gewesen! Kein Mensch auf der Welt ließe sich das gefallen! und wenn er hundertmal mein Vater wäre!

Philipp war außer sich; er schalt in der heftigsten Weise auf die Verblendung, auf die Verstocktheit seines Vaters; Reinhold konnte nach allem, was er über den Verlauf der Unterredung hörte, dem Onkel nicht unbedingt Recht geben, aber er mochte auch die ungebührlichen Ausdrücke, in denen der Zornige sich erging, nicht dulden.

Fange du nur auch noch an! rief Philipp – du bist mit daran schuld! Ich habe aus des Alten Reden herausgehört, was du mir gestern gesagt hast. Was um alles in der Welt hast du davon, ihn noch mehr gegen unser Projekt einzunehmen, von dem ihr alle beide nicht einen Pfifferling versteht: er, trotz seiner geschäftlichen Allweisheit; du, trotz deiner Schiffahrtskunde! Was geht es dich an, ob der Hafen nach Osten oder nach Norden kommt? ob er da versandet oder ihn dort der Teufel holt? Willst du denn dein Vermögen hineinstecken? und wenn es andere wollen, so lasse sie doch! es kann ja jeder die Augen aufmachen, und wenn einer hineinfällt, so fällt er hinein. Das beste ist: ihr und alle, die ihr dagegen seid, könnt ja doch nicht verhindern, daß die Sache zustande kommt, ja daß sie jetzt, nachdem Graf Golm in das Gründungskomitee getreten, so gut wie ausgemacht ist; und ein Hauptspaß wärs, wenn es schließlich nun doch auf einen Osthafen hinausliefe und Golm das Fräulein Tochter von unserm Hauptgegner, dem General Werben, der ebenso verstockt ist, wie der Alte – Herr des Himmels, da ist der junge Werben! er kann doch nichts gehört haben?

Die Unterredung hatte stattgefunden, während sie zwischen den Marmorblöcken auf dem Hofe hin und her schritten. Ottomar hatte im Hause von Grollmann erfahren, daß Reinhold auf dem Hofe sei, und trat nun plötzlich um einen der Blöcke ihnen entgegen. Er hatte nichts gehört, obgleich seine düstere und verlegene Miene Reinhold selbst dies im ersten Augenblick fürchten ließ. Aber sein hübsches junges Gesicht hatte sich bereits im nächsten wieder erhellt; er streckte ihm mit bezaubernder Freundlichkeit die Hand entgegen, die er dann auch Philipp, allerdings nicht ganz so freundlich – reichte: hätte schon alle diese Tage kommen sollen, aber die dienstlichen Scherereien! – ich sage Ihnen, Herr Kamerad, unerträglich! Sie haben keine Ahnung davon! Sie nun erst recht nicht, lieber Schmidt! Sie sind nie Soldat gewesen – warum? das mögen unsere weisen Herren Ärzte wissen; wenn es nach mir ginge, müßten Sie noch jetzt im ersten Garderegiment nachdienen. – Aber, was ich sagen wollte, und weshalb ich so Hals über Kopf hergestürzt bin: ich soll Ihnen eine Einladung von meinem Papa und meinen Damen bringen und tausend Entschuldigungen, daß die betreffende Karte gestern, der Himmel weiß, wie? vertrödelt ist: zu heute abend – kleiner Zirkel – viel Militärs, – bei uns selbstverständlich – einige Damen – ebenfalls selbstverständlich – soll auch ein wenig gehüpft werden, sagt meine Schwester, die stark auf Sie rechnet – Sie schwingen doch gelegentlich ein Tanzbein? versteht sich! – auch mein Vater hat, wie er mir bereits gestern sagte, mit Ihnen zu sprechen – wichtige, mir problematische Dinge: Hafenfrage – Gott weiß was – Sie sehen, es ist schlechterdings notwendig, daß Sie ja sagen. Sie sagen doch ja?

Und mit vielem Dank.

Das ist prächtig!

Ottomar hatte während der letzten Worte Philipp vollständig den Rücken gewandt; er drehte sich jetzt auf den Hacken um.

Es wird nicht ganz so lustig zugehen, wie neulich bei Ihnen, lieber Schmidt – war ja ganz entzückend – höre von Golm, daß ihr hernach noch den Teufel ausgetrieben und die Mädchen wie toll gewesen sind; tut mir leid; aber hatte so riesige Kopfschmerzen; und Kopfschmerzen und Champagner und schöne Mädchen – das habe ich bis auf den heutigen Tag in der Reihenfolge noch nicht fertig gebracht – in der umgekehrten freilich nur zu oft.

Bertalde war in Verzweiflung, sagte Philipp, der sich über die Leichtfertigkeit, mit der er sich von dem Gardeoffizier behandelt sah, gründlich ärgerte.

Die guten Dinger! sagte Ottomar, mit den Achseln zuckend; – das redet, was ihnen in den Mund kommt – die Kleine ist übrigens eine von den besten – hoffe, Golm wird sie gut behandeln. – Aber ist hier auf dem Hofe nicht das Atelier von Herrn Anders? sein Satyr mit dem Bacchusknaben – oder ist es ein Amor? – macht ja ein enormes Aufsehen – ich bin noch nie in einem Bildhaueratelier gewesen – wäre es wohl zu unbescheiden, Herr Kamerad, wenn ich mich Ihrer freundschaftlichen Protektion bediente, um bei dem Herrn Zutritt zu erlangen?

Reinhold war gern dazu bereit; Philipp bemerkte in gleichgültigem Tone, er wolle, wenn die Herren nichts dagegen hätten, die Gelegenheit benutzen, um nach den vier Marmorstatuen zu sehen, die er für sein Treppenhaus bei Anders bestellt habe und von denen zwei jetzt wohl beinahe fertig sein müßten. Er hatte im stillen gehofft, daß Ottomar »die vier Marmorstatuen« imponieren würden; aber Ottomar schien es nicht einmal gehört zu haben. Er ging mit Reinhold, den er unter den Arm gefaßt, vorauf, so leise mit ihm sprechend, daß Philipp es nicht hören konnte, freilich auch nicht hören sollte:

Großartig, mich daran zu erinnern: ein petit souper – zu Ehren Golms, der, wie es scheint, für dergleichen Ovationen nicht unempfindlich ist – für mein Teil zufällig hineingeschneit – mich gleich wieder eklipsiert – sprechen Sie nicht darüber –

Aber ich bitte Sie!

Man läßt ein Wort fallen, ohne sich etwas dabei zu denken, – und wird doch dem Betreffenden hernach sehr verdacht – unsere Damen und – ces dames! – das ist freilich, Gott sei Dank, ein Unterschied! Meine Schwester – Ihr Fräulein Cousine – habe freilich neulich nur so flüchtig die Ehre gehabt – aber wäre in Verzweiflung, wenn je ein Wort – das Fräulein ist auch Künstlerin, wie meine Schwester mir sagt – unser einer kann sich kaum von einem Künstler eine Vorstellung machen – und nun gar von einer Künstlerin – nach Ihnen, wenn ich bitten darf!

Reinhold hatte, da er aus Erfahrung wußte, daß das Klopfen in Justus' Atelier vor dem Geräusch der Schlägel und Meißel selten gehört wurde, vorangehend, die Tür ohne weiteres geöffnet und war nun einigermaßen betreten, als er in einer Ecke vor einem Tonmodell, an dem Justus arbeitete, diesen mit Ferdinande stehen sah. Ottomar und Philipp waren so schnell hinter ihm hergekommen, daß sie alle bereits mitten in dem großen Räume sich befanden, bevor jene, in eifrigem Gespräch, wie sie waren, und umschwirrt von dem Lärmen ringsumher, ihr Kommen gehört hatten, bis Justus' Lesto – ein zottelhaariges kleines Ungetüm, bei dem man nie genau wußte, wo der Kopf und wo der Schweif sich befand – mit lautem Gekläff auf Philipp losstürzte, dessen Lackstiefel seinen Zorn zu reizen schienen. In dem Wirrwarr, der durch diesen mit großer Bravour ausgeführten Angriff entstand, – indem Philipp, für seine Beinkleider fürchtend, sich auf einen Schemel flüchtete, Justus sich totlachen wollte und zwischendurch vergebens: Lesto! Lesto! rief; die vier oder fünf Hilfsarbeiter, unter ihnen auch Antonio, einige Hindernisse aus dem Wege räumten und Stühle herbeitrugen, – war Reinhold die tiefe Röte entgangen, die Ferdinandes schönes Gesicht bei Ottomars Anblick bedeckt hatte, und der scheuverlegene Gruß, mit dem dieser ihr entgegengetreten war. Als die Verwirrung sich einigermaßen gelegt und selbst Lesto sich beruhigt, hatten die beiden ihre Fassung wiedergewonnen, um so leichter, als der erste Blick, den sie hinüber und herüber ausgetauscht, ein Versöhnungsfest gewesen. Er war zu ihr zurückgekommen nach drei langen, bangen Tagen, die sie in Sehnsucht und Verzweiflung durchhärmt hatte – nun war alles wieder gut, vergessen und vergeben! Sie hatte nach dem ersten, von freudigem Schreck durchzitterten Blick ihn nicht wieder angesehen und plauderte jetzt mit Reinhold und Philipp; aber für Ottomar war der Umstand, daß sie blieb, daß sie sich nicht gleich nach der ersten Begrüßung in ihr Atelier zurückzog, dessen Tür weit offen stand, ein untrügliches Zeichen ihrer Reue vielleicht, ganz sicher ihrer Liebe. Und dann der volle, ein wenig tiefe Klang ihrer Stimme! – er glaubte ihn zum ersten Male zu hören, ja er hörte ihn zum ersten Male: hatten sie bis heute doch nur flüchtige, geflüsterte Worte ausgetauscht! ihr Lachen! – er hatte nie daran gedacht, daß sie lachen könne: es kam ihm wie ein holdes Wunder vor! – ihre Gestalt, deren klassisch-schöne Formen das schlichte enganliegende graue Arbeitskleid herrlicher hervortreten ließ, als es die koketteste Gesellschaftsrobe vermocht hätte; – das reiche braune, einfach über der Stirn gescheitelte und in dem schlanken Nacken leicht zusammengeknotete Haar – er hatte gar nicht gewußt, wie schön sie war! Er ging und stand vor halbfertigen, fertigen Marmorwerken – es hätten ebensowohl Schatten einer laterna magica sein können – er sprach mit diesem, jenem, plauderte, scherzte – er hatte keine Ahnung, was er sagte, was die anderen sagten – es war ein Traum, ein holder, köstlicher Traum – ein paar Minuten freilich nur, bis er zum Bewußtsein der Lage erwachte, in der er sich befand, einer Lage, so günstig, daß er sie günstiger kaum wünschen konnte, und deren Gunst auszubeuten er mit raschem, soldatischem Mut und Übermut entschlossen war.

Und so träumte auch Ferdinande den süßen, köstlichen Traum beglückter Liebe, während sie mit dem Herrn plauderte und lachte, nur daß sie keinen Augenblick die Gefahr der Situation verkannte oder vergaß. Von Reinhold, Justus, selbst von Philipp fürchtete sie nichts – ein wenig Vorsicht, ein kluges Spiel mochten ihnen gegenüber genügen, sie selbst vor dem Schatten eines Verdachtes zu schützen. Was aber – welche klügste Vorsicht, welches feinste Spiel schützte sie vor den brennenden schwarzen Augen Antonios! Er hatte sich freilich wieder in eine fernste Ecke des Saales an seine Arbeit gestellt und klopfte und meißelte, scheinbar um alles, was um ihn vorging, unbekümmert, weiter. Aber gerade diese Ruhe, die ja eben nur ein Schein war, ängstigte sie tausendmal mehr, als wenn die brennenden Augen fortwährend auf sie gerichtet gewesen wären. Was er nicht sah, das hörte er – sie kannte die unglaubliche Schärfe seiner Sinne – und sie wußte es: wenn er sich während der ganzen Zeit nicht umwandte, er würde es genau in dem Momente tun, den sie kommen sah, der kommen mußte. Und da war der Moment. Ottomar, sich sicher glaubend, trat an sie heran und flüsterte ihr ein Wort zu, das sie nicht verstand – so leise war es gehaucht – aber weshalb auch! Las sie es doch in seinen Augen, von seinen Lippen: ich muß dich allein sprechen – in deinem Atelier!

Aber wie es ausführen! – Die Zeit verrann; es gab in Justus' Atelier so viel zu sehen! und der Gesprächige konnte kein Ende finden. Da waren die vier lebensgroßen allegorischen Figuren für Philipps Treppenhaus: der Handel – ein bärtiger Mann von orientalischer Physiognomie und Gewandung, ein wenig an den Nathan anklingend, der von der Reise heimkehrt; – die Industrie: eine, wie Sie sehen, etwas unbestimmt gehaltene, stark moderne weibliche Figur mit einem halben Dutzend Emblemen, aus der man machen kann, was man will – alles Mögliche – genau so, wie die Industrie auch alles Mögliche aus allem Möglichen macht. – Dafür erkennt man diesen griechischen Jüngling, meine Herren, an seinen beschwingten Sohlen und dem geflügelten Reisehut auf hundert Schritte als den Genius der Eisenbahnen, wie ja denn Hermes, wenn er es nur erlebt hätte, ganz unzweifelhaft zum olympischen Generalpostmeister ernannt worden wäre. – Die schöne, hochgewachsene, stolze Dame in Tracht einer Nürnberger Patrizierin des fünfzehnten Jahrhunderts kündigt sich mit ihrer Mauerkrone auf dem Kopfe und dem Winkelmaße und Richtscheite in der Hand als Städtebauerin an – eine feine Anspielung auf die Vorstadtstraßen, die der würdige Besitzer niederreißen mußte, um sich mitten in der Stadt das Haus zu gründen, dessen Vestibül alle diese Meisterwerke schmücken sollen.

Eine halbe Straße kommt wenigstens auf Ihre Rechnung, Anders, rief Philipp lachend.

Herr Gott, sagte Justus, – das ist also der Grund, weshalb die Dame so düster und melancholisch unter ihrer Mauerkrone hervorblickt! Ich wußte gar nicht, was der Zug, der ohne mein Zutun, ja gegen meinen Willen immer deutlicher heraustrat, eigentlich wollte und bedeutete: die Gute hat die Gewissensbisse, die ich haben sollte! und nun darf mal einer sagen, daß wir unseren Gestalten nicht unser bestes Herzblut geben!

Ich finde gerade diese letzte Figur ganz besonders schön, wenn ich mir in meiner gänzlichen Laienschaft überhaupt eine Äußerung erlauben darf, sagte Ottomar mit einem Blick auf Ferdinande, der die Städtegründerin in der hohen Gestalt, ja in dem Ausdruck der stolzen Züge auffallend ähnelte.

Justus, der den Blick aufgefangen, lachte: Sie sind kein solcher Laie, wie Sie meinen, Herr von Werben! Sie scheinen ganz gut zu wissen, wo wir unsere Weisheit herholen. Aber damit Sie sehen, daß man nicht bloß zu Gestalten begeistern, sondern selber welche, und dazu sehr schöne schaffen kann, – wir dürfen doch, Fräulein Ferdinande? – und Justus deutete auf die Tür zu ihrem Atelier.

Sehr gern, sagte Ferdinande, während ihr Herz gewaltsam schlug. Jetzt oder nie konnte es geschehen. Antonio hatte sich nicht umgeblickt, vielleicht hatte er es doch nicht gehört; vielleicht gelang es, mit Ottomar allein hinüberzugehen, während die andern blieben. Und es gelang. Philipp und Reinhold disputierten über irgend eines der dem Handel zugeteilten Symbole: Philipp, verstimmt und gereizt durch den Widerspruch, den er heute von allen Seiten erfuhr, in einer heftigen überlauten Weise! Justus dagegen folgte ihr und Ottomar auf dem Fuße. Da – auf der Schwelle bereits – wandte sie sich und flüsterte ihm zu: Philipp ist heute unausstehlich; machen Sie erst einmal zwischen den beiden Frieden! – Justus antwortete: I, das wird so bös nicht gemeint sein, kehrte aber doch wieder um; Ferdinande trat eilends ein, hinter ihr Ottomar; sie machte ein paar Schritte nach links, bis sie sich vor den Blicken derer im andern Atelier vollkommen sicher wußte. Ihre Arme umschlangen ihn, wie sie sich von ihm umschlungen fühlte; seine Lippen brannten auf ihren Lippen, wie er die Süßigkeit ihres ersten Kusses trank: heute abend? – Was du willst – acht Uhr, im Bellevuegarten! – Wie du willst! Geliebte! – Geliebter!

Sie wagten keinen zweiten Kuß – zu ihrem Glück, denn Justus erschien und hatte zu größerer Sicherheit die Friedensstörer mitgebracht.

Man stand vor der Schnitterin, und Justus erzählte, wie das Bild – im Frühjahr angefangen – zuerst ein Pendant zu dem betenden römischen Hirtenknaben auf der Ausstellung hatte werden sollen: ein Mädchen, zu dem in die Einsamkeit ihres Maisfeldes tief in der Kampagna der Ton der Glocke, die zum Ave Maria läutet, aus dem benachbarten Kloster herüberklingt und das nun, Sichel und Ähren verschränkend, die Hände auf einen Moment übereinander legt. Wie die Figur beinahe fertig gewesen, – Stellung, Gebärde, Ausdruck – alles ganz wundervoll, daß es dem größten Künstler zur Ehre gereicht haben würde, daß die größten Künstler Berlins ihre Bewunderung ausgesprochen hätten, der Mailänder Enrico Braga, der im Sommer zum Besuch kam, ganz außer sich gewesen sei – und nun, meine Herrschaften, sehen Sie, ob es einer Frau, selbst der begabtesten, gegeben ist, konsequent nach einem klar erkannten Ziele zu streben! Die Statue ist beinahe fertig, es fehlen nur noch ein paar letzte Drucker – die Drucker bleiben aus: man fühlt sich nicht aufgelegt, man will einen günstigen Tag abwarten – ein, zwei Monate vergehen, der Tag kommt nicht, der Ton trocknet auf die gräßlichste Weise zusammen, bricht und reißt überall – man hat alle Lust an der Arbeit verloren. Schon bin ich entschlossen – auf die Gefahr allertiefster Ungnade – die Schnitterin, ehe sie ganz zerfällt, über Nacht heimlich abgießen zu lassen; da trete ich vor ungefähr vier Wochen eines schönen Morgens hier ins Atelier: aus dem süßen träumerischen Gesicht ist ein Medusenantlitz geworden, dessen grausame Augen unter der Hand, die sich mittlerweile an die Stirn gelegt hat, in die Ferne starren, ich vermute, nach demjenigen welcher; aber ich möchte derjenige welcher nicht sein. Möchten Sie es sein, Herr Kapitän?

Reinhold nickte dem Bildhauer zu; er hatte genau denselben seltsam gemischten Eindruck von dem Bilde gehabt und fast in dieselben Worte gekleidet. Er sagte lächelnd: Nein, wahrhaftig nicht!

Stimmen wir ab! rief Justus eifrig: möchten Sie es sein, Herr von Werben?

Ottomar antwortete nicht: im Frühjahr war das Werk angefangen, im Frühjahr hatte er die ersten holden Liebeszeichen mit Ferdinande gewechselt; dann war eine lange, lange Pause gewesen, in der sie ihn durchaus gemieden, und als sie vor vier Wochen dem Flehen seiner Blicke nachgegeben und sie ihr heimliches Liebesspiel wieder begonnen, da hatte es in der Zwischenzeit einen ganz anderen Charakter angenommen: einen düstern, leidenschaftlichen Charakter, daß er manchmal selbst davor erschrak. War dies ein Bild ihrer Liebe? war er es, der hier erwartet wurde?

Das alles schoß mit der Schnelligkeit des Blitzes durch seinen Kopf; aber sein starrer Blick hatte etwas von dem verraten, was in seiner Seele vorging.

Was soll das Reden? rief Ferdinande, – ein Werk, über das man abstimmen muß, ist nicht wert, daß es existiert.

Sie hatte den schweren Schlägel ergriffen, der neben ihr auf dem Tischchen zwischen den andern Werkzeugen lag, und schwang ihn gegen die Figur. Justus fiel ihr in den Arm.

Sind Sie rasend, Fräulein Ferdinande? Verstehen Sie denn keinen Scherz? Ich schwöre Ihnen, daß es ein Scherz war! Daß ich dies hier noch mehr bewundere, als das Frühere! Daß Sie sich selbst und mich dazu übertroffen haben!

Justus war vor Erregung ganz blaß geworden; die andern Herren beeilten sich zu versichern, daß sie des Meisters Meinung teilten, daß sie die Figur vollkommen schön fänden, daß sie keinen Zug geändert wünschten; Ottomar vor allem war eifrig im Loben, und seine schönen Augen flehten um Vergebung; aber Ferdinande blieb verstimmt.

Es hilft Ihnen nun nichts mehr, meine Herren, sagte sie, – das Urteil ist gesprochen, und eine nachträgliche Begnadigung anzunehmen – dazu, ich gestehe es, bin ich zu stolz. Beruhigen Sie sich, Anders: ich werde die Figur nicht zerstören; aber vollenden, das schwöre ich Ihnen, werde ich sie nie.

Und dabei soll ich mich beruhigen? rief Justus; – ich will Steinklopfer werden, wenn ich das tue! wenn ich – was gibt's, Antonio?

Antonio war hereingekommen, sagte Anders ein paar leise Worte und entfernte sich sogleich wieder; im Hinausgehen streifte sein düsterer Blick nur eben die Gruppe vor der Schnitterin.

Ein Herr von der Kommission! sagte Anders, – jede Stunde ist einer da; die Menschen werden mich noch rasend machen. Ich bin gleich wieder hier.

Er eilte in sein Atelier; Ottomar meinte, daß sie das gnädige Fräulein bereits zu lange belästigt hätten; er erwartete, daß Ferdinande zum Bleiben auffordern würde, sie tat es nicht; er machte seine Verbeugung. – Ich hoffe, Ferdinande, sagte Reinhold, du wirst uns – ich meine uns allen – nicht das Leid antun, deine Drohung auszuführen, und die Figur unvollendet lassen.

Wenn du mich länger kenntest, erwiderte Ferdinande, würdest du wissen, daß ich stets halte, was ich versprochen, mir selbst oder anderen.

Sie hatte die letzten Worte, wie zufällig, an Ottomar gerichtet und mit einem Blick in seine Augen begleitet, den Ottomar verstand und erwiderte. – Was auch aus der Schnitterin werden mochte – sie würde heute abend kommen!

Die Tür hatte sich hinter den Fortgehenden geschlossen; Ferdinande schob den Riegel vor und wandte sich dann langsam um. Ihre starren Blicke hefteten sich auf die Stelle, wo sie Ottomar zum ersten Male geküßt, und glitten dann hinüber zur Schnitterin. War es die Beleuchtung? war es, daß die Reden der andern ihr selbst erst klar gemacht, was sie geschaffen? Ein Schauder durchrieselte sie.

Ich halte, was ich versprochen – aber ich wollte, ich hätte es nicht versprochen!


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