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Zweites Kapitel

Alle Anstrengungen, das Schiff abzubringen, hatten sich als vergeblich erwiesen; ja, man durfte von Glück sagen, daß bei der gefährlichen Arbeit, die man ihr zumutete, die Schraube nicht gebrochen war. Auch war die Senkung des Rumpfes nach der Seite nicht weiter gegangen; und wenn die Nacht nicht stürmisch wurde, mochte man ruhig so liegen bleiben bis zum nächsten Morgen, wo ja dann ein vorübersegelndes Fahrzeug die Passagiere aufnehmen und weiter befördern werde, falls man wirklich bis dahin nicht wieder flott geworden sein sollte, was übrigens jeden Augenblick geschehen könne.

So sagte der Kapitän, den das Unglück, das er durch seinen Eigensinn herbeigeführt, nicht aus seiner Ruhe zu bringen vermochte. – Das stehe eben fest, daß auf den Karten, nach denen er, wie jeder andere Kapitän, sich zu richten habe, fünfzehn Fuß auf dieser Stelle verzeichnet wären; und da sollten die Herren von der Regierung sich erst einmal an die eigene Nase fassen und für bessere Karten, oder dann wenigstens für gehörige Seezeichen sorgen. Und wenn, wie er sehr wohl wisse, andere Kapitäne seit einigen Jahren die Bank vermieden und lieber einen Umweg von einer Stunde machten, so sei er seitdem hundertmal und noch vorgestern hier über diese selbe Stelle gefahren. Übrigens habe er nichts dagegen, das große Boot aussetzen zu lassen und die Passagiere ans Land zu bringen, wo dann allerdings Gott wissen möge, wie sie weiter kommen wollten.

Der Mann ist betrunken oder verrückt, sagte der Präsident, als der Kapitän seinen breiten Rücken gewandt hatte und wieder auf seinen Posten gegangen war. – Es ist eine Sünde und Schande, daß ein solcher Mann ein Schiff, und wenn es auch nur ein Schlepper ist, kommandieren darf; aber ich werde die strengste Untersuchung einleiten, und er soll exemplarisch bestraft werden.

Der Präsident bebte vor Zorn und Angst und Kälte an dem langen hagern Leibe; der General zuckte die Achseln. – Das ist alles ganz schön und gut, lieber Herr Präsident, sagte er; nur daß es ein wenig zu spät kommt und uns nicht aus der üblen Lage hilft. Ich mische mich grundsätzlich nicht in Dinge, die ich nicht verstehe; aber ich wollte, wir hätten jemand an Bord, der einen Rat geben könnte. An die Schiffsleute darf man sich nicht wenden, – das hieße die Subordination untergraben – was willst du, Else?

Else hatte ihm mit den Augen gewinkt; er trat zu ihr heran und wiederholte seine Frage.

Wende dich doch einmal an den Herrn! sagte Else.

An welchen Herrn?

Der dort; er ist Seemann; er kann dir sicher den besten Rat geben.

Des Generals scharfes Auge heftete sich auf die ihm bezeichnete Person. Ah! der! sagte er; – sieht wirklich danach aus –

Nicht wahr? sagte Else; und er hatte mir schon vorher gesagt, daß wir auflaufen würden.

Gehört natürlich nicht zum Schiff?

Bewahre! das heißt: ich glaube – sprich doch einmal mit ihm!

Der General ging auf den »Unermüdlichen« zu.

Mein Herr; ich höre: Sie sind Seemann?

Zu dienen.

Steuermann?

Kauffahrerkapitän – Reinhold Schmidt.

Mein Name ist General von Werben. – Sie würden mich verbinden, Herr Kapitän, wenn Sie mir über unsere Situation eine technisch-sachgemäße Aufklärung geben wollten – natürlich privatim und in aller Diskretion. Ich möchte Sie nicht veranlassen, gegen einen Kameraden auszusagen, oder gar dazu beizutragen, seine Autorität zu erschüttern, die wir möglicherweise noch sehr nötig brauchen werden. Ist der Kapitän nach Ihrer Ansicht an unserem Unfalle schuld?

Ja und nein, Herr General. Nein, denn die Seekarten, nach denen wir uns vorschriftsmäßig richten müssen, rechnen diese Stelle zum Fahrwasser. Die Karten hatten auch recht, bis vor wenigen Jahren. Seitdem haben hier starke Versandungen stattgefunden; überdies ist der Wasserstand infolge des seit Wochen herrschenden Westwindes fortwährend gesunken; Vorsichtigere vermeiden deshalb diese Stelle. Ich für mein Teil würde sie vermieden haben.

Gut! und was halten Sie von der Situation? Sind wir in Gefahr? oder können wir in Gefahr kommen?

Ich glaube: nein. Das Schiff liegt fast gleichmäßig auf, und auf schierem glatten Sand. Es kann, wenn sonst nichts dazwischen kommt, sehr lange so liegen.

Der Kapitän hat also recht, uns an Bord zu behalten?

Ich glaube, ja; um so mehr, als der Wind – seit Tagen zum ersten Male – nach Osten umspringen zu wollen scheint und wir, wenn dies geschieht, die gegründete Aussicht haben, in ein paar Stunden wieder flott zu sein. Indessen –

Indessen?

Irren ist menschlich, Herr General. Wenn der Wind – wir haben jetzt Südsüdost – es ist nicht wahrscheinlich, aber doch möglich – wieder nach Westen gehen und stärker, vielleicht sehr stark werden sollte, kann allerdings eine ernstliche Gefahr eintreten.

Wir sollten also von der Erlaubnis des Kapitäns, das Schiff zu verlassen, Gebrauch machen?

Da die Überfahrt leicht und vollkommen gefahrlos, so kann ich zum mindesten nicht abraten. Dann aber müßte es geschehen, solange es noch hinreichend hell ist; am besten sofort.

Und Sie? Sie würden bleiben – selbstverständlich?

Selbstverständlich, Herr General.

Ich danke Ihnen.

Der General griff mit einer leichten Neigung des Kopfes an seine Mütze; Reinhold nahm mit einem kurzen Griff die seine ab, die Neigung durch eine straffe Verbeugung erwidernd.

Nun? fragte Else, als der Vater wieder zu ihr trat.

Der Mann muß Soldat gewesen sein, erwiderte der General.

Das heißt? fragte der Präsident.

Das heißt: ich wünschte von meinen Offizieren immer so klare, sachgemäße Rapporte zu bekommen. Die Sache ist also die –

Er wiederholte, was er soeben von Reinhold in Erfahrung gebracht, und schloß damit, daß er beim Kapitän die sofortige Ausschiffung der Passagiere, die dazu geneigt seien, befürworten werde. – Ich für mein Teil gedenke mich dieser Unbequemlichkeit, die noch dazu unnötig sein dürfte, nicht zu unterziehen; es wäre denn, daß Else –

Ich, Papa! rief Else; ich denke nicht daran!

Der Präsident war in großer Verlegenheit. Er hatte freilich erst heute morgen bei der Abfahrt von Stettin eine sehr oberflächliche frühere persönliche Bekanntschaft mit dem General von Werben erneuert; aber jetzt, nachdem er den ganzen Tag mit ihm verplaudert und sich als Ritter der jungen Dame bei zahllosen Gelegenheiten bewährt, konnte er doch wohl nicht anders, als mit einem Zucken der Lippen, das ein Lächeln sein sollte, erklären: er wolle, wie bisher die Annehmlichkeiten, so nun auch die Unannehmlichkeiten der Reise mit den Herrschaften teilen; das preußische Ministerium werde sich schlimmsten Falls über den Verlust eines Regierungspräsidenten zu trösten wissen, der überdies, als Vater von sechs hoffnungsvollen Kindern, die Nachwelt für sich, und folglich auf die Sympathie der Mitwelt weder Anspruch habe, noch Anspruch mache.

Trotz der resignierten Worte war dem würdigen Beamten sehr beklommen ums Herz. Heimlich verwünschte er den eignen grenzenlosen Leichtsinn, sich, um einen Tag früher nach Hause zu kommen, einem »Schlepper« anvertraut zu haben, anstatt auf den morgen fälligen Postdampfer zu warten, die »stupide Vertrauensseligkeit« des Generals, die »koketten Fanfaronnaden« der jungen Dame; und als wenige Minuten später das große Boot nun wirklich flott gemacht wurde und in unglaublich kurzer Zeit, wie ihm vorkam, mit den glücklicherweise wenig zahlreichen Passagieren des Vorderdecks und einigen Damen und Herren der ersten Kajüte angefüllt war und jetzt, von kräftigen Ruderschlägen getrieben, und bald darauf unter den aufgehißten Segeln in fliegender Eile der Küste zustrebte – da seufzte er tief, und sein Entschluß stand fest: um jeden Preis – selbst den eines höhnischen Lächelns von den Lippen der jungen Dame – ebenfalls das Schiff noch vor Einbruch der Nacht zu verlassen.

Und die Nacht brach dem Ängstlichen nur allzuschnell herein. – Die Abendhelle am westlichen Horizont nahm mit jeder Minute ab; dagegen zog es von Osten – vom offenen Meer – dunkler und dunkler herauf. Wie lange würde es noch dauern, und das Land, das dem Kurzsichtigen so nur noch als ein undeutlicher Streifen durch den Abenddunst erschien, mußte den Blicken ganz entschwinden! Und dann war es doch unzweifelhaft, daß die Wellen sich mit jeder Minute mehr erhoben, hier und da sogar, was sie den ganzen Tag nicht getan hatten, weiße Schaumkronen zeigten und sich mit stets zunehmender Gewalt an dem unglücklichen Schiffe brachen! Dazu das greuliche Geknarre in den Rahen, das unheimliche Sausen in der Takelage, das nervenerschütternde Brausen und Zischen des Dampfes, der fast unablässig aus dem überheizten Kessel gelassen wurde! – Am Ende sprang der Kessel noch gar, und die zerschmetterten Glieder eines Menschen, der sich eben noch den Überzieher zuköpfte, flogen hierhin und dorthin in die Luft!

Dem Präsidenten wurde bei dieser Vorstellung so heiß, daß er sich den Paletot wieder aufknöpfte, und abermals zuknöpfte, weil der Wind ihn geradezu eisig anwehte.

Es ist unerträglich, murmelte er.

Else hatte längst gesehen, wie unbehaglich dem Präsidenten das Verbleiben auf dem Schiffe war, zu dem er sich offenbar nur widerwillig, aus Rücksicht auf seine Reisegefährten, entschlossen. Ihr Mutwille hatte sich eine Zeitlang an dieser Verlegenheit, die sich nichts merken lassen wollte, ergötzt; jetzt aber siegte ihre Gutmütigkeit. Es war doch immer ein älterer und augenscheinlich schwächlicher Herr, und vom Zivil! man konnte ihm natürlich weder den unerschütterlichen Mut, noch die Abhärtung des Vaters zumuten, der noch nicht einmal den Paletot angezogen hatte und jetzt, auf dem Verdeck hin und her schreitend, die gewohnte Abendpromenade machte. Aber der Papa hatte sich einmal für das Bleiben entschieden; es würde ganz vergeblich sein, ihn nun noch nachträglich zum Fortgehen zu bestimmen. – Er muß Rat schaffen! sagte sie bei sich.

Reinhold war, seitdem er zuletzt mit ihrem Vater gesprochen, verschwunden und auch jetzt nicht auf dem Hinterdeck; so ging sie denn nach vorn, und da saß er auf einer großen Kiste und blickte durch ein Taschenteleskop nach dem Lande, so eifrig, daß sie in seine unmittelbare Nähe gekommen war, bevor er sie bemerkte. Er sprang eilig auf die Füße und wandte sich zu ihr.

Wie weit sind sie? fragte Else.

Sie werden gleich landen, erwiderte er; wollen Sie sich einmal bedienen?

Er reichte ihr das Instrument. Das Metall hatte in dem Moment, als sie es berührte, noch eine Spur von der Wärme der Hand, aus der es kam. Das war ihr sonst keineswegs eine angenehme Empfindung; diesmal verspürte sie nichts davon. Sie dachte flüchtig daran, während sie die Stelle, die er ihr bezeichnete, in den Fokus des Glases zu bringen versuchte. Es wollte nicht gelingen; sie sah nichts als ein durcheinanderschwimmendes Grau. – Da verlasse ich mich lieber auf meine Augen! rief sie, das Instrument absetzend. Ich sehe es ja ganz deutlich; da dicht am Lande – in dem weißen Streifen! was ist das?

Die Brandung.

Wo ist das Segel geblieben?

Man hat es fallen lassen, um nicht zu hart aufzulaufen. Aber wahrlich, Sie haben das Auge eines Schiffers!

Else lächelte über das Kompliment, und Reinhold lächelte. Ihre Blicke begegneten sich und ruhten ineinander.

Ich habe eine Bitte an Sie, sagte Else, ohne die Augen zu senken.

Und ich wollte eben eine an Sie richten, erwiderte er, fest in die braunen Sterne blickend, die zu ihm aufleuchteten; ich wollte Sie bitten, daß Sie sich ebenfalls ans Land setzen lassen. Wir sind in einer Stunde flott; aber die Nacht wird stürmisch, und wir werden, sobald wir den Wissower Haken – er deutete auf das Vorgebirge – passiert haben, vor Anker gehen müssen. Das ist im besten Falle eine wenig angenehme Situation, im schlimmen Falle eine sehr unangenehme. Ich möchte Sie vor der einen und vor der anderen bewahrt wissen.

Ich danke Ihnen, sagte Else; und nun bedarf es meiner Bitte nicht mehr; und sie sagte Reinhold, weshalb sie gekommen.

Das trifft sich ja vortrefflich, rief er; aber es ist kein Moment zu verlieren. Ich will sogleich mit Ihrem Herrn Vater sprechen. Wir müssen unverzüglich fort.

Wir?

Ich werde Sie mit Ihrer Erlaubnis selbst ans Land bringen.

Ich danke Ihnen, sagte Else noch einmal mit einem tiefen Atemzuge. – Sie hatte ihm die Hand gereicht; er hielt die kleine, zarte Hand in der seinen; und wieder begegneten sich ihre Blicke.

Der Hand kann man sich anvertrauen, dachte Else; und den Augen auch! Und laut sagte sie: Sie müssen aber nicht denken, daß ich mich gefürchtet hätte, hier zu bleiben! es ist wirklich nur um des armen Präsidenten willen.

Sie hatte ihm ihre Hand entzogen und eilte davon, dem Vater entgegen, der sich bereits über ihr langes Ausbleiben gewundert hatte und jetzt sie zu suchen kam.

Im Begriff, ihr zu folgen, sah Reinhold zu seinen Füßen einen kleinen blaugrauen Handschuh liegen. Sie konnte ihn eben erst, als sie an dem Teleskop stellte, abgestreift haben.

Er bückte sich schnell, hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche.

Den bekommt sie nicht wieder, sagte er bei sich.


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