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Neuntes Kapitel

Hier hatte sich unterdessen bereits die ganze übrige Gesellschaft zusammengefunden. Die beiden jungen Mädchen waren Arm in Arm erschienen und ließen sich auch nicht los, obgleich der Graf, der ihnen mit Lebhaftigkeit entgegengetreten war, das Wort nur an Elsen richtete. Er beeilte sich, dem gnädigen Fräulein pflichtschuldigst mitzuteilen, daß der Wagen nach Prora zum Doktor bereits eine Viertelstunde unterwegs sei. Ob das gnädige Fräulein sich für Malerei interessiere und ihm erlauben wolle, ihre Aufmerksamkeit noch schnell auf einige der bedeutenderen Sachen zu lenken, die er aus der Galerie in Schloß Golm zur Dekoration des Speisezimmers, das ihm doch gar zu nüchtern erschienen, nach Golmberg übergeführt habe: hier ein Watteau, von dem Urgroßvater selbst in Paris gekauft; dort das Fruchtstück von dem Italiener Gobbo, genannt da Frutti, einem Schüler des Annibale Caracci; hier das große Stilleben von dem Niederländer Jakob van Es. Dies Blumenstück würde das gnädige Fräulein besonders interessieren, da es von einer Dame sei: Rachel Ruysch, selbstverständlich einer Niederländerin, deren Bilder außerordentlich gesucht wären. Hier auf der Etagere das Service von Meißner Porzellan, einst im Besitz August des Starken, von dem es der Urgroßvater, der einige Jahre hindurch schwedischer Gesandter am Dresdner Hofe war, gegen ein Gespann Oeländer eintauschte – die ersten, die auf dem Kontinent gesehen wurden; hier das nicht minder schöne Sevres-Service, das er selbst im vorigen Jahre in Frankreich auf dem Schlosse eines Edelmanns bewundert und von diesem zum Geschenk erhalten, als Dank für seine glücklichen Bemühungen um die Erhaltung des Schlosses, das er zu einem Hospital eingerichtet.

Sie interessieren sich nicht für altes Porzellan, mein gnädiges Fräulein? sagte der Graf, der zu bemerken glaubte, daß die dunklen Augen der Dame nur sehr flüchtig über seine Herrlichkeiten hinblickten.

Ich habe so wenig davon gesehen, sagte Else; – ich weiß die Schönheit nicht zu würdigen.

Und dann sind wir auch ein wenig sehr hungrig, sagte Mieting; – ich zum wenigsten. Wir essen zu Haus um acht, und jetzt ist es elf. Hat man den Herrn Kapitän nicht gerufen? fragte der Graf den Hausmeister.

Zu Befehl, Herr Graf, vor einer Viertelstunde.

So wollen wir nicht länger warten. Die Höflichkeit der Könige scheint nicht auch die der Schiffskapitäne zu sein. Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?

Er bot Elsen den Arm; zögernd legte sie die Fingerspitzen hinein; sie hätte dem Kapitän gern die Verlegenheit erspart, die Gesellschaft schon bei Tisch zu finden. Aber schon hatte der Vater Mietings Mutter, der galante Präsident Mieting selbst den Arm geboten; die drei Paare bewegten sich nach der Tafel, welche zwischen ihnen und der Tür hergerichtet war, als die Tür sich öffnete und die wunderliche Gestalt eines bärtigen Mannes in Frack und hohen Wasserstiefeln erschien, in der Else zu ihrem Schrecken den Kapitän erkannte. Aber im nächsten Augenblick mußte sie lächeln, wie die andern. Mieting ließ den Arm des Präsidenten los und stürzte in eine Ecke des Saales, um das konvulsivische Gelächter, in das sie bei dem unerwarteten Anblick ausgebrochen war, hinter ihrem Taschentuche zu verstecken.

Ich bitte um Entschuldigung, sagte Reinhold, aber die Eile, mit der wir heute vom Schiffe aufbrachen, ist, wie ich leider erst jetzt bemerkte, einer strengen Auswahl meiner Garderobe nicht günstig gewesen.

Und da diese Eile nur uns zu gute gekommen, so haben wir am wenigsten Ursache, dem kleinen Mißgeschick größeres Gewicht beizulegen, als es an und für sich verdient, sagte der Präsident sehr höflich.

Warum haben Sie sich nicht an meinen Kammerdiener gewendet? fragte der Graf mit sanftem Vorwurf.

Ich finde den Anzug sehr kleidsam, sagte Else mit einer verzweifelten Anstrengung, ihren Ernst wieder zu gewinnen, und mit einem strafenden Blick auf Mieting, die zwar aus ihrer Ecke hervorgekommen war, aber noch immer nicht wagte, das Tuch von dem Gesicht zu nehmen.

Das ist viel mehr, als ich irgend gehofft habe, sagte Reinhold.

Man hatte an der Tafel Platz genommen; Reinhold dem Grafen gerade und Elsen schräg gegenüber; während er zu seiner Linken Fräulein Mieting, zu seiner Rechten Herrn von Strummin hatte, einen breitschultrigen Herrn mit einem breiten roten Gesicht, dessen unterer Teil von einem breiten roten Bart bedeckt war, und dessen breite laute Stimme Reinhold um so unbequemer war, als sie fortwährend in das leise lustige Geplauder der jungen Dame zu seiner Linken hineinschallte. Das gutmütige Kind hatte sich vorgenommen, Reinhold ihr unpassendes Benehmen von vorhin vergessen zu machen, und die Ausführung dieses Entschlusses wurde ihr um so leichter, als sie jetzt, wo das Tischtuch gnädig die lächerlichen Wasserstiefeln verdeckte, bestätigt fand, was sie gleich beim ersten Blick gesehen zu haben glaubte: daß der Kapitän mit seinen großen hellen blauen Augen, seiner braunen Gesichtsfarbe und seinem krausen braunen Vollbart ein hübscher, ein sehr hübscher Mann sei. Nachdem sie Elsen diese wichtige Entdeckung durch einige bezeichnende Blicke und erklärendes Mienenspiel mitzuteilen versucht und zu ihrer Freude durch Lächeln und Kopfnicken die Bestätigung erhalten hatte, gab sie sich dem Vergnügen der Unterhaltung mit dem hübschen Manne um so eifriger hin, als sie sicher war, daß dieser Eifer von dem Grafen nicht unbemerkt bleiben würde. Wußte sie doch aus Erfahrung, daß er es durchaus nicht gern sah, ja, es als eine Art persönlicher Beleidigung empfand, wenn Damen, um deren Gunst er selbst sich nicht einmal bewarb, in seiner Gegenwart andere Herren auszeichneten! Und daß dieser Herr ein einfacher Schiffskapitän war, um dessen Gesellschaftsfähigkeit man noch kurz vorher verhandelt, machte in ihren lustigen Augen die Sache noch amüsanter und pikanter. Übrigens unterhielt sie sich auch ohne das gut genug. Der Kapitän hatte so viel Geschichten zu erzählen! und er erzählte so schlicht und treuherzig! – Du glaubst nicht, Else, wie interessant das ist! – rief sie über den Tisch herüber: ich würde ihm die ganze Nacht zuhören!

Das gute Kind ist in ihrem Geschmack nicht eben wählerisch, sagte der Graf zu Elsen.

Das tut mir leid, sagte Else; – sie hat mich eben, wie Sie hören, zu ihrer Freundin erwählt.

Das ist etwas anderes, sagte der Graf.

Die Unterhaltung zwischen den beiden wollte nicht recht in Gang kommen; wiederholt sah sich der Graf, während sich Else zu ihrem Nachbar auf der andern Seite, dem Präsidenten, wandte, auf Frau von Strummin angewiesen, mit der er dann auch sprach, um nur nicht ganz zu schweigen. Und mehr als einmal, wo diese Dame wieder von dem General in Anspruch genommen war, mußte er wirklich schweigend dasitzen und schweigend zusehen, wie gut man sich an seiner Tafel ohne ihn unterhielt. Er trank, um diese gezwungenen Pausen auszufüllen, ein Glas Wein über das andere und verbesserte dadurch seine Laune nicht, die er, weil er sonst niemand hatte, an den Dienern ausließ. Am liebsten wäre ihm freilich zu diesem Zweck der Schiffskapitän gewesen. Er fand den Menschen überaus fatal, alles an ihm: Aussehen, Haltung, Manieren, Blick, Stimme! es war die reine Ironie, daß er selbst den Menschen in seinem Wagen in sein Haus geholt! Hätte er doch vorhin nicht angefragt! und den Menschen auf seinem Zimmer gelassen!

Der Graf sagte sich, daß es lächerlich sei, sich über den Menschen zu ärgern, und doch ärgerte er sich über ihn, und ärgerte sich dann wieder, daß er dieser Empfindung nicht Herr zu werden vermochte. Er mußte um jeden Preis die Unterhaltung allgemein machen, um aus einer Stimmung, die ihm ganz unerträglich geworden war, erlöst zu werden.

Ihm gegenüber schrie Herr von Strummin dem General, der nur widerwillig zuzuhören schien, seine Ansichten über die Eisenbahn und den Kriegshafen ins Ohr. Er für sein Teil hatte sich vorgenommen, dies heikle Thema während der Tafel nicht zu berühren; jetzt war ihm jedes Thema recht.

Verzeihe, lieber Freund, sagte er, seine Stimme erhebend, – ich habe da so einiges von dem gehört, was du dem Herrn General über unser Lieblingsprojekt mitteilst. Du sagst immer: »wir« und »uns«; aber du weißt, daß unsere Ansichten in wesentlichen Punkten divergieren; ich möchte dich daher, wenn du schon einmal von der Sache sprechen mußt, bitten, es nur in deinem Namen zu tun.

Ho! ho! rief Herr von Strummin; – worin divergieren wir denn groß? darin, daß ich auf Strummin ebensogut einen Bahnhof haben will, wie du auf Golm!

Aber wir können doch nicht alle einen Bahnhof haben, sagte der Graf mit mitleidigem Achselzucken.

Gewiß nicht, aber ich! oder das ganze Projekt ist für mich keinen roten Heller wert! schrie der andere. – Was! ich soll mein Korn nach wie vor eine halbe Meile weit fahren und mir eine Stunde später den Zug an der Nase vorbeisausen lassen! Da stimme ich denn doch lieber auf dem Landstandstage für die Chaussee, die uns die Regierung angeboten hat; die läuft hinter meiner neuen Scheune weg; ich kann die Wagen von der Diele auf die Chaussee schieben. Ist es nicht wahr, Herr Präsident?

Ob die Chaussee just hinter Ihrer Scheune wegläuft, Herr von Strummin, weiß ich in der Tat nicht, sagte der Präsident, – über Ihre Feldmark kommt sie jedenfalls; im übrigen sind ja meine Ansichten den Herren längst bekannt; – und er wandte sich wieder zu Elsen, das unterbrochene Gespräch mit ihr fortzusetzen.

Der Graf war über die Zurechtweisung empört, die diese letzten Worte zu enthalten schienen, um so mehr, als er sich bewußt war, sie nicht verdient zu haben. Er hatte von der Sache nicht angefangen! Nun mochte sie, nun sollte sie auch weiter besprochen werden!

Du siehst, sagte er zu Herrn von Strummin gewandt, – welchen schlechten Dienst du uns – ich muß nun doch »uns« sagen – durch dieses ewige leidige Vorausstellen der persönlichen Interessen erweist. Natürlich wollen wir unseren Vorteil dabei haben – welcher vernünftige Mensch wollte das nicht! – aber der steht denn doch in zweiter Linie: erst der Staat, dann das übrige. So halte wenigstens ich es, und so hält es hier der General.

Gewiß halte ich es so, sagte der General, – aber wie komme gerade ich zu der Ehre?

Weil niemand durch die Ausführung des Projektes mehr gewinnen würde, als Ihre Frau Schwester, oder wer immer Warnow, Gristow und Damerow einmal besitzen wird.

Ich werde nie einen Fuß breit von den Gütern besitzen, sagte der General, die Augenbrauen zusammenziehend. – Überdies hatte ich, wie Sie wissen, Herr Graf, bis jetzt absolut nichts mit der Frage zu tun, nicht einmal eine Ansicht zu äußern, bin also gar nicht in der Lage, das Kompliment, mit dem Sie mich beehrten, akzeptieren zu können.

Und er wandte sich wieder zu Frau von Strummin. Dem Grafen stieg das Blut in die Stirn.

Die Ansichten eines Mannes in Ihrer Stellung, Herr General, sagte er mit ziemlich gut gespielter Ruhe, können, auch wenn er Ihnen keine offizielle Fassung gibt, so wenig verborgen bleiben, wie die offiziellste Kundgebung unseres verehrten Herrn Präsidenten.

Der General zog die buschigen Brauen noch finstrer zusammen.

Nun denn, Herr Graf, rief er: ja, ich bekenne mich offen als den entschiedensten Gegner Ihres Projektes! ich halte es für strategisch nutzlos, und ich halte es für technisch unausführbar.

Zwei Gründe, von denen jeder einzeln, wenn er zutrifft, zerschmetternd sein würde, erwiderte der Graf, ironisch lächelnd. – Hinsichtlich des ersten beuge ich mich selbstverständlich einer solchen Autorität, obgleich wir ja nicht immer einen Krieg mit dem seeuntüchtigen Frankreich, sondern gelegentlich auch mit dem seetüchtigen Rußland haben könnten und uns dann ein Hafen mit der Front nach dem Feinde sehr nötig sein dürfte. Aber die Ausführbarkeit, Herr General! da glaube ich in aller Untertänigkeit ein Wort mitsprechen zu dürfen in meiner amphibischen Eigenschaft als wasseranwohnender Landedelmann. Unser Sand, so sehr er auch, zu unserm eigenen und unseres Herrn Präsidenten Leidwesen, die Wegebauten erschwert, ist ein vortreffliches Material für einen Eisenbahndamm und wird sich auch als ein guter Baugrund für die Fundamente unserer Hafenmauern erweisen.

Bis auf die Stellen, wo wir wieder zu Pfahlbauern werden müßten, sagte der Präsident, der um des Generals willen nicht länger schweigen durfte.

Es mögen dergleichen Stellen vorkommen, rief der Graf, der trotz des empörenden Widerspruchs von seiten der beiden Herren jetzt wenigstens die Genugtuung hatte, daß jede weitere Unterhaltung am Tisch verstummt war und er für den Augenblick allein sprach: ich gebe es zu. Aber was würde damit anders bewiesen sein, als daß der Hafenbau ein paar Monate oder Jahre länger dauert und ein paar Hunderttausende, meinetwegen ein paar Millionen mehr kostet? Und was wollen die bei einem Werke sagen, das, wenn es einmal vollendet, ein unüberwindliches Bollwerk ist gegen jeden Feind, der von Osten droht? –

Bis auf einen! sagte Reinhold.

Der Graf hatte gar nicht daran gedacht, daß der Mensch sich ebenfalls in die Unterhaltung mischen könnte. Eine zornige Röte stieg ihm in die Stirn; er warf einen finstern Blick auf den neuen Widersacher und fragte in scharfem, wegwerfendem Ton:

Und der wäre?

Eine Sturmflut! erwiderte Reinhold.

Wir hierzulande sind der Stürme und der Fluten zu gewohnt, um uns vor den einen oder den andern zu fürchten, sagte der Graf, sich zur Ruhe zwingend.

Ich weiß es, erwiderte Reinhold, – ich spreche aber auch nicht von den gewöhnlichen atmosphärischen und maritimen Ausgleichungen und Störungen, sondern von einem Ereignis, das nach meiner Überzeugung seit Jahren vorbereitet ist und nur auf die gelegentliche Ursache wartet, die nicht ausbleiben wird, um mit einer Gewalt hereinzubrechen, von der die kühnste Phantasie sich wohl keine Vorstellung machen kann.

Sind wir noch im Gebiete der Wirklichkeit oder bereits im Reiche der Phantasie? fragte der Graf.

Wir sind in dem Bereiche der Möglichkeit, erwiderte Reinhold, – jener Möglichkeit, von der ein Blick auf die Karte uns belehrt, daß sie einmal oder mehrere Male bereits eine Wirklichkeit gewesen und nach menschlicher Berechnung in nicht allzulanger Zeit wieder eine solche werden wird.

Sie machen uns äußerst neugierig, sagte der Graf.

Er hatte es ironisch gesagt; aber er hatte nur der Stimmung der Gesellschaft den richtigen Ausdruck gegeben. Aller Augen hatten sich auf Reinhold gerichtet.

Ich fürchte die Damen mit diesen Dingen zu langweilen, sagte Reinhold.

Nicht im mindesten, sagte Else.

Ich schwärme für alles, was mit dem Meere zusammenhängt, rief Mieting mit einem schelmischen Blick zu Elsen hinüber.

Sie würden mich in der Tat verbinden, sagte der Präsident.

Bitte fortzufahren! sagte der General.

Ich will mich möglichst kurz fassen, sagte Reinhold, seine Blicke bald auf den General, bald auf den Präsidenten richtend, als ob er nur für diese spräche: die Ostsee scheint, nachdem sie einmal unter Revolutionen ungeheuerster Art entstanden war, eine Welt für sich zu sein. Sie hat keine Ebbe und Flut; ihr Salzgehalt ist viel geringer, als der der Nordsee und nimmt nach Osten immer mehr ab, so daß die Fauna und Flora –

Was ist das? fragte Mieting.

Die Tier- und Pflanzenwelt, mein gnädiges Fräulein, – des finnischen Meerbusens fast einen Süßseecharakter hat. Nichtsdestoweniger findet, wie ja denn auch sichtbar die Verbindung noch besteht, eine beständige Wechselwirkung zwischen dem Binnenmeere und dem Weltmeere statt: ein Zufluß und Abfluß von diesem in jenes, von jenem in dieses, unter der höchst komplizierten Zusammenwirkung und Mitwirkung der verschiedensten Ursachen, deren eine ich hervorheben muß, weil sie es gerade ist, von der ich spreche. Es ist die Regelmäßigkeit der von West nach Ost, von Ost nach West wehenden Winde, die das Ab- und Zuströmen des Wassers in seinen unterseeischen Kanälen, freundschaftlich gleichsam, auf der Oberfläche begleiten und befördern. Der Schiffer rechnete auf diese Winde fast mit der Sicherheit, mit der man auf das Eintreten ein für allemal feststehender Naturerscheinungen rechnet, und er durfte es, denn seit Menschengedenken war keine wesentliche Veränderung eingetreten, bis vor einigen Jahren plötzlich der Ostwind, der in der zweiten Hälfte des August einzutreten und bis in die Mitte des Oktober zu wehen pflegte, ausblieb und nicht wiedergekommen ist.

Nun? und die Folge davon? fragte der Präsident, der mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte.

Die Folge davon, Herr Präsident, ist, daß sich in der Ostsee im Laufe dieser Jahre ganz ungeheure Wassermassen angesammelt haben, die wir um so weniger bemerken, als sie sich ja selbstverständlich nach allen Seiten gleichmäßig auszubreiten streben, der Hauptdruck aber nach Osten in immer gesteigerter Proportion stattfindet, so daß im Frühling des vorigen Jahres bei Nystad in Süd-Finnland vier Fuß über dem gewöhnlichen Wasserstand normiert waren, bei Wasa, zwei Grad nördlicher, bereits sechs Fuß und bei Torneo in dem nördlichsten Ausläufer des Bottnischen Busens sogar acht. Das allmähliche Steigen und die fast ausnahmslos hohen Ufer haben die Bewohner jener Gegenden einigermaßen gegen die größten Kalamitäten geschützt. Für uns aber, die wir fast ebenso ausnahmslos flache Ufer haben, wird ein plötzlicher Rückstau dieses jahrelang ununterbrochen nach Osten drängenden Stromes furchtbar werden. Der Rückstau muß aber bei einem starken Nordost- und Oststurm, besonders wenn er tagelang anhält, eintreten. Die von der Gewalt des Sturmes nach Westen gedrückten Fluten werden vergebens durch die schmalen Straßen der Belte und des Sundes in das Kattegat und Skagerrack einen Ausweg in den Ozean zu finden suchen, und, wie ein gehetztes Raubtier in die Hürde, sich über unsere Küsten stürzend, meilenweit in das Land hineinwälzend, niederreißend, was ihrer blinden Wut sich entgegenstemmt, Äcker und Wiesen mit Sand und Geröll bedeckend, eine Verwüstung anrichten, von der noch Enkel und Enkelkinder schaudernd erzählen werden.

Während Reinhold so sprach, war dem Grafen nicht entgangen, daß der Präsident und der General sich wiederholt verständnisvolle, bestätigende Blicke zugeworfen, daß Herrn von Strummins breites Gesicht vor Erstaunen und Schrecken ordentlich in die Länge gegangen war und – was ihn vor allem ärgerte – die Damen mit einer Aufmerksamkeit zuhörten, als handelte es sich um eine Ballgeschichte. Er wollte dem Menschen wenigstens nicht das letzte Wort lassen.

Aber diese famose Sturmflut ist denn doch im besten – ich meine für Sie günstigsten Falle – eine Hypothese! rief er.

Nur für die, die nicht von ihrer Notwendigkeit überzeugt sind, wie ich es bin, erwiderte Reinhold.

Nun gut, sagte der Graf; ich will einmal annehmen, daß der Herr mit seiner Überzeugung nicht isoliert dasteht; ja, noch mehr, daß er recht hat, daß die Sturmflut heute oder morgen oder irgend einmal kommen wird: so scheint es doch, daß sie nicht alle Tage, daß sie nur in Jahrhunderten einmal kommt, – nun, meine Herren, ich habe den tiefsten Respekt vor der weit in die Zukunft ausschauenden Fürsorge unserer Behörden; aber dergleichen jahrhundertelange Perspektiven dürften denn doch auch der fürsorglichsten unabsehbar dünken, sie jedenfalls nicht bestimmen, zu unterlassen, was der nächste Augenblick erheischt.

Da die letzten Worte des Grafen offenbar an den General und den Präsidenten, nicht an ihn, gerichtet waren, glaubte Reinhold sich der Antwort enthalten zu müssen. Aber es antwortete keiner von den beiden Herren; auch die andern schwiegen; eine verlegene Pause entstand. Zuletzt hüstelte der Präsident in die schlanken, weißen Hände und sagte:

Sonderbar! während der Herr Kapitän hier mit jenem vollen Tone, den nur die Überzeugung gibt, uns eine Sturmflut prophezeit, die unser liebenswürdiger Wirt, der freilich der Nächste dazu sein würde, – wie unser Fritz Reuter sagte – am liebsten in das Fabelland verweisen möchte, habe ich bei jedem Worte einer andern Sturmflut denken müssen –

Noch einer! rief Mieting.

Einer andern Sturmflut, mein liebes Fräulein, und auf einem ganz andern Gebiet; ich brauche den Herren nicht zu sagen: auf welchem. Auch hier ist der gewöhnliche Lauf der Dinge auf die unerwartetste Weise unterbrochen worden, auch hier hat eine Aufstauung von Fluten stattgefunden, die sich in einem ungeheueren Strom – einem Goldstrom, meine Damen – von Westen nach Osten ergossen haben. Auch hier prophezeien die Kundigen, daß so unnatürliche Verhältnisse nicht von Dauer sein können, daß sie die längste Zeit gedauert haben, daß ein Rückstau eintreten müsse, eine Reaktion, eine Sturmflut, die – um in dem Bilde zu bleiben, das der Sache so sonderbar entspricht, – sich, eben wie jene andere, zerstörend, vernichtend über uns stürzen und mit ihren trüben, unfruchtbaren Wassern die Stätten bedecken wird, auf denen die Menschen bereits für alle Zeiten ihr Reich und ihre Herrschaft fest gegründet zu haben glaubten.

In seinem Eifer, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, und in der Freude über den gelungenen Vergleich hatte der Präsident nicht bedacht, daß er doch eigentlich bei der Sache geblieben war, ja, das Thema in dieser neuen Fassung dem Grafen noch unbequemer sein mußte, als in der ersten. Er wurde seiner Unbedachtsamkeit inne, als der Graf in einem Tone, durch den seine Erregung durchzitterte, rief:

Ich hoffe, Herr Präsident, Sie werden unsere, ich darf wohl sagen, vom reinsten Patriotismus diktierte Idee nicht mit jenen heutzutage so beliebten Gründungen zusammenwerfen, die meistens keine andere Quelle haben, als die allerordinärste Gewinnsucht.

Aber ich bitte Sie, lieber Graf! wie können Sie mir dergleichen imputieren, was mir doch nicht einmal im Traume einfallen würde! rief der Präsident.

Der Graf verbeugte sich. – Ich danke Ihnen, sagte er, denn ich gestehe, nichts wäre für meine Empfindung verletzender gewesen. Ich habe es allerdings immer für eine politische Notwendigkeit gehalten und für einen Beweis seiner eminenten staatsmännischen Begabung, daß Fürst Bismarck sich zur Ausführung seiner großen Ideen gewisser Mittel bedient hat, deren er sich gewiß lieber nicht bedient hätte, schon deshalb, weil er so den allzu genauen Kontakt mit Personen nicht vermeiden konnte, deren Berührung ihm früher wenigstens herzlich odiös war. Ich betrachte es auch als eine notwendige Konsequenz dieses Unglücks, daß er, um jene Personen abzulohnen, die neue Ära des Schachers und der ungemessenen Gewinnsucht durch die unseligen Milliarden inauguriert hat, hat inaugurieren müssen. Indessen –

Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, sagte der General; ich halte dieses Paktieren des Fürsten mit jenen Personen, Parteien, Schichten der Bevölkerung, Klassen der Gesellschaft – nennen Sie's, wie Sie wollen – allerdings mit Ihnen, Herr Graf, für ein Unglück, aber keineswegs für ein notwendiges. Im Gegenteil! Der rocher de bronze, auf welchem das preußische Königtum stabiliert ist: ein loyaler Adel, ein eifriges Beamtentum, ein treues Kriegsheer – sie waren stark genug, das deutsche Kaisertum zu tragen, wenn es doch schon einmal ein deutsches und kein preußisches, oder überhaupt ein Kaisertum sein mußte.

Ja, Herr General, es mußte eines sein, und ein deutsches dazu, sagte Reinhold.

Der General schoß unter den buschigen Brauen einen finsteren Blick auf den jungen Mann; aber er hatte vorhin seinen Auseinandersetzungen mit Befriedigung zugehört, er fühlte, daß er ihn auch jetzt, wo er ihm widersprach, zu Worte kommen lassen müsse. – Weshalb meinen Sie? fragte er.

Ich folge nur meiner Empfindung, erwiderte Reinhold; aber ich bin gewiß, daß es die Empfindungen aller sind, die jemals, wie ich, viel und lange fern von der Heimat in der Fremde gelebt haben; die, wie ich, erfahren haben, was es heißt, einem Volke anzugehören, das keine Nation ist, und, weil es keine ist, von den anderen Nationen, mit denen wir verkehren, nicht für voll angesehen, ja geradezu verachtet wird; was es heißt, in schwierigen Lagen, in die der Seemann so leicht gerät, nur auf sich selbst angewiesen zu sein, oder, was noch schlimmer ist, sich den Beistand, den Schutz, dessen man bedarf, von anderen zu erbitten, die widerwillig und lieber noch gar nicht helfen. Ich habe das alles erfahren und durchgemacht, wie tausend und tausend andere; und habe zu all dem Unrecht, zu all der Unbill schweigend die Faust in der Tasche ballen müssen. Und dann bin ich wieder draußen gewesen im vorigen Jahre nach dem Kriege bis vor wenig Wochen. Da brauchte ich nicht mehr zu antechambrieren und beiseite zu stehen; da durfte ich so fest auftreten, wie andere, und, meine Herrschaften, da dankte ich Gott aus vollem Herzen, daß wir einen Kaiser – einen deutschen Kaiser haben; denn nicht weniger als ein deutscher Kaiser mußte es sein, wenn dem Engländer, dem Amerikaner, dem Chinesen und Japanesen ad oculos demonstriert werden sollte, daß sie fürder nicht mehr mit Hamburgern und Bremern, mit Oldenburgern und Mecklenburgern, oder selbst mit Preußen Handel treiben und Verträge schließen, sondern mit Deutschen, die unter einer und derselben Flagge segeln, einer Flagge, die den Willen und die Macht hat, den Letzten und Ärmsten zu schützen und zu schirmen, der der Ehre und des Glückes teilhaftig ist, ein Deutscher zu sein.

Der General, an den die letzten Worte gerichtet waren, starrte vor sich hin – offenbar war eine Saite in seinem Herzen sympathisch berührt; der Präsident hatte seinen Kneifer aufgesetzt, den er den ganzen Abend nicht benutzt; die Damen verwandten fast keinen Blick von dem Manne, der so lebhaft und treuherzig sprach – der Graf sah, bemerkte das alles; die Abneigung gegen den Menschen wuchs mit jedem Worte, das aus seinem Munde kam; er mußte den fatalen Schwätzer zum Schweigen bringen.

Ich gestehe, sagte er, wenn es sich um weiter nichts gehandelt hätte, als den Herren, die in Baumwolle und Zucker spekulieren, oder uns unsere Tagelöhner exportieren, ihr Profitchen sicherer in die Tasche zu leiten, mich das edle Blut dauern sollte, das auf so vielen Schlachtfeldern vergossen ist.

Ich habe nicht gesagt, daß es sich um weiter nichts gehandelt habe, entgegnete Reinhold.

Freilich, fuhr der Graf fort, indem er sich den Anschein gab, diese Unterbrechung nicht zu beachten; – weit davon ist gut vor dem Schuß! und man sonnt sich ganz behaglich in dem Ruhm und der Ehre, die andere für uns erobert haben.

Der General runzelte die Stirn, der Präsident ließ den Kneifer fallen, die beiden jungen Damen warfen sich einen erschrockenen Blick zu.

Ich zweifle nicht, sagte Reinhold, daß dem Herrn Grafen von dem deutschen Ruhme sein vollgemessen Teil gebührt; ich für mein Teil begnüge mich gern mit der Ehre, nicht weit von dem Schusse gewesen zu sein.

Wo waren Sie an dem Tage von Gravelotte, Herr Kapitän?

Bei Gravelotte, Herr Graf.

Der General zog die Augenbrauen in die Höhe, der Präsident setzte den Kneifer wieder auf, die jungen Damen blickten sich abermals an; – Else diesmal in freudigem Schrecken, während Mieting über das verblüffte Gesicht des Grafen fast in das ungenierteste Lachen ausgebrochen wäre.

Das heißt, fuhr Reinhold sich an den General wendend fort, dem die Aufmerksamkeit, die sein rasches Wort erregt hatte, das Blut in die Wangen trieb, genau gesprochen: am Morgen des Tages auf dem Marsche von Rezonville auf St. Marie. Dann, als sich herausstellte, wie der Herr General weiß, daß sich der Feind nicht auf der nördlichen Straße im Abmarsch befand und die zweite Armee die große Rechtseinschwenkung auf Verneville und Amanvilliers ausgeführt hatte, kamen wir – die achtzehnte Division – um ein halb zwölf Uhr mittags in der Nähe von Verneville ins Feuer. Die Division hatte, wie der Herr General sich erinnert, die Ehre, die Schlacht zu eröffnen.

Reinhold strich sich über die Stirn. Die ungeheuren Bilder jener schicksalsschweren Tage traten wieder vor seine Seele. Er hatte den beleidigenden Hohn vergessen, der in der Frage des Grafen gelegen und den er durch den Bericht seiner Teilnahme an der Schlacht hatte zurückweisen wollen.

Sie haben die ganze Kampagne mitgemacht? fragte der General, und es lag ein eigener, fast herzlicher Ton in seiner tiefen Stimme.

Zu Befehl, Herr General, wenn ich die zwei Wochen mitrechne, vom achtzehnten Juli bis ersten August, während deren ich in Koblenz einexerziert wurde. Ich hatte, als geborener Hamburger und Seemann, nicht das Glück gehabt, in meiner Jugend das Waffenhandwerk regelrecht zu erlernen.

Wie kamen Sie in die Kampagne?

Es ist eine kurze Geschichte, die ich kurz erzählen will. Ich lag am 15. Juli mit meinem Schiffe auf der Reede von Southampton, bestimmt nach Bombay, – zum ersten Male Kapitän eines Vollschiffes. Am 16. abends sollten wir unter Segel sein. Aber am 16. morgens kam die Nachricht von der Kriegserklärung; am Mittag hatte ich – es fand sich alsbald ein passender Ersatzmann – das Verhältnis zu meinen Reedern und dem Schiffe gelöst; am Abend war ich in London; in der Nacht vom 16. auf den 17. auf dem Wege nach Ostende über Brüssel den Rhein hinab nach Koblenz, wo ich mich als Freiwilliger meldete, angenommen, ein wenig einexerziert, nachgeschickt und – ich weiß nicht, wie das kam – dem 9. Korps, 18. Division, zugeteilt wurde.

Avanciert?

Bei Gravelotte zum Unteroffizier; am 1. September, dem Tage nach dem großen Ausfalle Bazaines, zum Vizefeldwebel – am 4. Dezember –

Das war am Tage von Orleans?

Zu Befehl, Herr General – am Tage von Orleans zum Offizier.

Gratuliere zum raschen Avancement, sagte der General lächelnd; aber alsbald verfinsterte sich sein Gesicht wieder. – Weshalb haben Sie sich mir nicht als Kamerad vorgestellt?

Der Schiffskapitän bittet für den Reserveleutnant um Entschuldigung, Herr General.

Dekoriert?

Zu Befehl! ich erhielt das Kreuz mit meinem Patent.

Und Sie tragen die Dekoration nicht?

Mein Anzug ist heute so wenig ajustiert – erwiderte Reinhold.

Mieting brach in ein Gelächter aus, in das Reinhold ganz unbefangen einstimmte; auch die andern lächelten, ein höfliches, beifälliges – schmeichelhaftes Lächeln, wie dem Grafen dünkte.

Ich fürchte, daß wir die Geduld der Damen zu lange in Anspruch nehmen, sagte er mit einer bezeichnenden Bewegung.


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