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Drittes Buch

Erstes Kapitel

Der General arbeitete in seinem Kabinett; Tante Sidonie schrieb vermutlich an ihrem »Hofhaushalt«; Ottomar war noch nicht vom Exerzieren zurück; Else hatte ihre Wirtschaft in Ordnung gebracht, sich angezogen und jetzt, vor dem Frühstück, Zeit, Mietings Briefe zu lesen.

Es waren heute morgen wieder einmal zwei zugleich eingelaufen. Else hatte sie, als sie ihr behändigt wurden, vorläufig ungelesen in die Tasche gesteckt – sie wußte, es war nicht so eilig mit Mietings Briefen. Nun war sie in den Garten gegangen und wandelte unter den hohen Bäumen neben der Wand nach dem Schmidtschen Garten, ihrem Lieblingsweg, den einen der Briefe, der ihr zufällig zuerst in die Hände gekommen – die Reihenfolge Pflegte gleichgültig zu sein – unter Lächeln entziffernd. Es war das keine leichte Arbeit: Mieting schrieb eine originelle, aber nicht sehr lesbare Hand. Jeder Buchstabe führte nicht nur ein separates Leben, sondern wußte sich auch mit seinen Nachbarn nach rechts oder links durchaus nicht zu stellen; dabei hatten alle eine entschiedene Abneigung gegen die Horizontale und wollten entweder leichtfertig nach oben hinaus, oder versenkten sich hypochondrisch in tiefere Regionen, die bereits der folgenden Zeile angehörten. Zwischendurch fuhren seltsame Zeichen, wie Schwerter oder Lanzen anzusehen, die vermutlich Interpunktionen sein sollten, aber, weil sie sich niemals da fanden, wo man sie vermutete, sogar in ihrem Übereifer nicht selten zwischen die Silben der Worte gerieten, die Verwirrung eher vermehrten, als verminderten.

Endlich hatte Else doch folgendes herausgebracht:

»Grausame! Ich bin mir jetzt ganz klar, ich darf sagen: zum erstenmal in meinem Leben; und Du, Du selbst, Dein letzter Brief – o, dieser letzte Brief! Wenn Menschen schweigen, werden Steine reden; wenn der stolzen Else die Begegnung, die unverhoffte, unerwartete, nach fünf langen, bangen Tagen, mit dem Manne, den sie doch zu lieben schien, nur zu einer humoristischen Schilderung eben dieser Begegnung Stoff gibt, darf die arme Miete zu hoffen wagen, hofft die arme Miete, hofft und – liebt! Ja, sie liebt, liebt ihn, den Du verschmähst, dem Du kaltsinnig den Rücken wendest, weil die Robe einer Prinzessin Deine Robe streift! Du wirst sagen: das ist Mitleid, keine Liebe! Aber sind nicht Liebe und Mitleid Zwillingsgeschwister? Ja, ich habe mit ihm gelitten, ich leide mit ihm, ich sehe seine treuen blauen Augen in Tränen schwimmen; ich sehe diese Tränen über die braunen Wangen lang und langsam niederfallen in den lockigen Bart! aber die letzte, die allerletzte – ehe sie in den Nebel sanfter Wehmut verschwebt, – ich werde sie selber trocknen – ich! Ich bin entschieden. Morgen früh muß mein Papa anspannen lassen – morgen abend wirst Du das Antlitz einer sehen, die Dich beklagt, aber entschlossen ist, Dich nicht zu schonen – das zürnende Antlitz seiner Rächerin, Deiner überglücklichen

Miete.«

Der zweite Brief lautete:

»Du wirst es nicht sehen! Geliebte, angebetete Else, verzeihe mir! jetzt in tiefer Nacht, wo alles still ist, so still, daß ich das Blut in meinen Schläfen rieseln höre und zusammenfahre, wenn unser Kastor auf dem Hofe anschlägt; wenn ein Apfel, den ich vergessen habe, oder zu dem ich nicht hinauflangen konnte, von dem Baume vor meinem Fenster durch die dürren Zweige raschelt und auf den Boden klappt – sie sehen immer wundervoll aus, aber sind stets wurmstichig – jetzt, wo ich Deinen Brief zum zweiten Male lese, verstehe ich ihn erst, vernehme ich den ernsten, schwermutvollen Ton, der durch das Schellengeklingel Deines Humors hindurchzittert. Ein Wort hat mir alles klar gemacht: ein einziges tiefes, seelenvolles Wort, wie es so tief, so seelenvoll nur aus dem Herzen und der Feder meiner Else kommen kann. Du schreibst: er ging den Korridor hinauf, die Prinzessin sprach mich an, sehr huldvoll, nach ihrer lächelnden Miene und dem gütigen Ton ihrer sanften Stimme zu schließen; aber ich gestehe zu meiner Beschämung: ihre ersten Worte waren mir »böhmisch«. – Zu Deiner Beschämung? – Else – Else! zu meiner, meiner tiefsten herzzerknirschenden Beschämung! O, mein Gott, was liegt alles in diesem einzigen »böhmisch«! Dein Schmerz, Dein Kummer, Deine Reue, Deine Liebe! Nun denn: liebe ihn! ich verzichte – ich muß es ja! – auch auf die Reise zu Dir! Papa kann morgen, sowieso, nicht für mich anspannen lassen, weil er seine Fetthammel nach Prora fahren läßt, und Mama will Pflaumenmus kochen. Laß mich meinen Kummer in Einsamkeit und Pflaumenmus ausweinen und ausschluchzen und behalte nur ein wenig lieb Deine

überunglückliche Miete.«

Was das nun wieder für dummes, lächerliches Zeug ist! sagte Else.

Aber sie lachte nicht, sagte es im Gegenteil sehr ernsthaft, las sogar die Kritzelei sehr sorgfältig noch einmal und ließ die Briefe erst in die Tasche gleiten, als jetzt Tante Sidonie in die Tür der Gartenstube trat und das Treppchen hinab in den Garten und auf sie zu kam.

Ich mußte mich etwas erholen, sagte Sidonie.

Wo stehst du jetzt? fragte Else.

Bei einem überaus diffizilen Kapitel: bei den Vermählungsfeierlichkeiten. Malortie läßt mich da positiv im Stich. Die Beispiele, die er auf Seite 181 des zweiten Bandes gibt, sind unendlich instruktiv, aber nur für die Marschälle großer Höfe: Vermählung unsrer höchstseligen Majestät – à la bonne heure! Programm der Vermählung durch Prokuration Seiner Majestät des Königs Dom Petro von Portugal und Algarbien –

Wen heiratete der doch gleich? fragte Else.

Sidonie, die, die Hände auf dem Rücken, neben ihr ging, blieb erschrocken stehen.

Aber Kind! Kind! ist es möglich? Du hast mir das Kapitel doch gestern abend noch selbst vorgelesen; ich habe die halbe Nacht wach gelegen und darüber gegrübelt, und du weißt nicht mehr, daß die durchlauchtigste Braut Ihre Durchlaucht die Prinzessin Stephanie von Hohenzollern-Sigmaringen war? – Aber die Sache ist: du hast keine Sympathie für mein Werk; du siehst nicht ein, oder willst nicht sehen, welch unermeßliche Wohltat für die kleinen Höfe ein wirklich übersichtliches, durchführbares, für ihre Verhältnisse angepaßtes Zeremoniell ist! Nun, nun, Kind! ich bin dir nicht weiter bös! Du hast diesen Verhältnissen nie so nahe gestanden – wie solltest du ihre Wichtigkeit dir ganz klar machen können, wenn du auch manchmal ganz passable Gedanken über die schwierigsten Punkte vorbringst. Nun stelle dir folgendes vor: Bei der Vermählung Sr. höchstseligen Majestät legten zwei Generalleutnants – es waren die Herren von Brauchitsch und von Kessel – die an den beiden Enden der Tafel standen, die Speisen vor, gaben sie den hinter ihnen stehenden Kammerlakaien, diese den Pagen, und von diesen erhielten sie die funktionierenden großen Hofchargen und Kavaliere. Sehr schön! wo soll ich aber an einem kleinen Hof, wie der unsrige war, zwei Generalleutnants hernehmen?

So nimm zwei Leutnants! sagte Else.

Prachtvoll! sagte Sidonie; – das – nein, das geht doch nicht! wohin gerate ich schließlich in der Rangordnung, wenn ich mit den Leutnants anfange? aber du hörst schon wieder nicht!

Doch, doch, Tante, ich dachte nur, daß wir heute abend selbst zwei Generalleutnants haben werden und daß mir ein paar Leutnants viel lieber wären. Wir haben wirklich zu wenig Tänzer.

So kann ja Ottomar noch ein paar Kameraden mitbringen; übrigens so wenig sind es denn doch nicht; da ist Graf Golm, der, wie er mir sagte, leidenschaftlich tanzt; da ist Tettritz, da ist Schönau – er sagt, er tanzt nicht mehr, aber das darf man bei einem Hauptmann zweiter Klasse nicht gelten lassen; da ist –

Die Tante nannte ein halbes Dutzend Namen; den Namen, den Else allein zu hören wünschte, nannte sie nicht.

Else hatte sich nach dem Spalier gebogen, das zwischen den beiden großen Ulmen an der Wand hinlief.

Und der Kapitän Schmidt? hat er abgesagt?

Ich habe die Einladung gar nicht abgeschickt, liebes Kind.

Nicht abgeschickt?

Else hatte sich schnell wieder aufgerichtet; auf ihrem lebhaften Gesicht lag Enttäuschung und Unmut.

Wie du dich nun gleich wieder über eine solche Bagatelle echauffierst, liebes Kind! Es ist mir in dem Moment, als ich die Briefe August übergab, eingefallen, daß wir in der nächsten Woche doch noch eine Gesellschaft geben, zu der wir Major Müller und noch einige andere Bürgerliche einladen müssen; da mag denn der Kapitän so mit unterlaufen.

Aber das hat er gar nicht nötig! rief Else; ich denke an den Abend auf Golmberg, wo er an der Tafel zuletzt fast allein das Wort führte, ohne daß er es irgend darauf angelegt, und nebenbei Graf Golm eine Lektion gab, die dieser hoffentlich noch nicht vergessen hat.

Das gerade hat mich bestimmt, erwiderte Sidonie, – gerade dieser, nach allem, was ich von deinem Papa und dir darüber gehört habe, etwas zu lebhafte Meinungsaustausch der beiden Herren, – der beiden Herren! – du hörst, Else, daß ich von jedem gesellschaftlichen Unterschiede ganz absehen will. Wir geben eine Gesellschaft, dem Grafen zu Ehren und zum Dank für die gegen euch bewiesenen Höflichkeiten. Ist es nun höflich, ja ist es nur schicklich, ihm dazu einen Herrn – merke wohl auf, Else! – einen Herrn einzuladen, mit dem er – tranchons le mot! – einen Wortwechsel an seiner eigenen Tafel gehabt hat?

Aber er hat die Lektion verdient! rief Else.

Und soll hier vermutlich eine Fortsetzung hören.

Das wird er sicher nicht; der Kapitän ist das Zartgefühl selbst. –

Sidonie war stehen geblieben; ihre gutmütigen Augen blickten beinahe forschend in Elses von der Lebhaftigkeit des Streites durchglühtes Gesicht.

Wenn ich in deinem Herzen nicht so genau Bescheid wüßte, Else, wie in einer fürstlichen Silberwaschküche – ich wüßte wirklich nicht, wie ich mir die Hartnäckigkeit erklären sollte, mit der du das Zartgefühl eines simplen Schiffskapitäns auf Kosten des Zartgefühls deiner Tante lobst. Kind, Kind! mache deinem guten Papa, der auch ohne das so düster in das Leben sieht, mache deiner Tante, die nur noch für ihren »Hofhaushalt« und für dich lebt, nicht auch noch Sorgen!

Ich weiß nicht, Tante, was du damit sagen willst, erwiderte Else, die bis in die Schläfen errötet war.

Ich, Gott sei Dank, auch nicht, erwiderte Sidonie, sich die Augen wischend; – es ist mir nur so ängstlich ums Herz, wenn ich deinen Papa so verstimmt sehe, wie heute morgen, als er mir den Brief von Tante Valerie gab – er beantwortet ja ihre Briefe nie selbst, trotzdem dieser letzte wirklich so rührend demütig ist, daß es mir ordentlich schwer wurde, wieder streng gegen sie zu sein.

Wie kann man gegen jemand streng sein, der sich so unglücklich fühlt, wie du von Tante Valerie sagst?

Kind, das verstehst du nun wirklich nicht, erwiderte Sidonie; – das mußt du nun schon mir und dem Papa überlassen. Es gibt Dinge, die ein für allemal unverzeihlich sind.

Auch wenn man sie bereut, wie es Tante Valerie doch offenbar tut? gilt denn nur von dem Bruder, daß man ihm siebenmal siebenzigmal vergeben soll? von der Schwester nicht?

Das war nun wieder einer von Elses abscheulichen Einfällen, auf die Sidonie nichts zu antworten wußte. Ihre gutmütigen Augen fuhren hilfesuchend umher und blieben zuletzt auf dem Spalier haften, an dem sie auf und nieder schritten.

Endlich habe ich doch Ordnung hineingebracht, rief sie; – siehst du, Else, seit drei Tagen das Beet nicht mehr zertreten, die Blätter am Spalier nicht abgerissen! Es ist ja nur wilder Wein, aber er fing schon an, so hübsch auszusehen; der August schwört, er sei es nicht gewesen; aber wer kann den Leuten trauen? Nun, ich habe meinen Zweck erreicht.

Es ist heute so sonderbar still drüben, sagte Else, –

Wollte der Himmel, es wäre immer so, erwiderte die Tante.

Auch raucht der Fabrikschornstein nicht, fuhr Else fort, – mein Himmel, ich bemerke das jetzt erst: es wird doch kein Unglück passiert sein? – Wissen Sie es nicht, August?

August, der die gnädigen Fräulein zum Frühstück zu rufen kam, war erstaunt, daß die gnädigen Fräulein es nicht wußten. – Der Herr Schmidt hatte ja wohl so ein zwanzig oder dreißig letzten Donnerstag weggeschickt, weil sie – mit Respekt zu vermelden – Sozialisten und Kommunisten waren, und das werden sich ja die andern, die auch wohl nicht viel besser sind, zu Nutzen machen und von dem Herrn Schmidt einen ganz erschrecklichen Lohn fordern. Na, gnädige Fräuleins, der Herr Schmidt wird ja wohl die Rädelsführer zur Tür hinauswerfen, und die werden mit den andern in hellen Haufen wiederkommen, um den Herrn Schmidt totzuschlagen, als der Herr Kapitän, der mit den gnädigen Herrschaften in Golmberg war, in der Tür steht, und – hast du nicht gesehen – ein Paar Pistolen herauszieht; und da werden sie ja wohl Fersengeld geben und hingehen und Stricke machen, wie sie es nennen, wenn sie nicht arbeiten und Schnaps trinken. Auf dem ganzen Hof ist seit gestern abend keine Katze nicht mehr, und die Arbeiter in den andern Marmorfabriken haben gleich zur Gesellschaft mit Stricke gemacht – das wird sich denn ja so wohl schicken für die Art – und das soll ja dem Herrn Schmidt täglich ein paar tausend Taler kosten, sagen sie ja, und daß er bald werde zu Kreuze kriechen müssen; aber das glaube ich nicht, denn der Herr Schmidt, müssen die gnädigen Fräuleins wissen, ist einer aus dem FF.

Schrecklich! sagte Sidonie, den Kopf wiegend, – diese Nachbarschaft! ich warnte deinen Papa, als er das Haus kaufte – man ist ja hier seines Lebens nicht sicher. Und solche Menschen soll man einladen!

Else antwortete nicht. Als der Diener Reinholds erwähnte, hatte ihr das Herz verräterisch heftig geschlagen, und sie hatte unwillkürlich nach dem Kompaß gegriffen, den sie seit der letzten Begegnung in der Ausstellung stets in der Tasche trug, um ihn bei nächster Gelegenheit wiedergeben zu können. Die Bemerkung der Tante hatte sie mit sprachlosem Unwillen erfüllt. Aber als sie wenige Minuten später dem Vater am Frühstückstische gegenübersaß, fragte sie ihn, zu Sidoniens nicht geringem Schrecken, ohne alle weitere Einleitung, ob er von den Ereignissen auf dem Schmidtschen Hofe gehört? und daß der Herr Schmidt und der Herr Kapitän, wie es scheine, in Lebensgefahr gewesen seien? und ob Ottomar nicht heute hinübergehen und dem Kapitän seinen Besuch erwidern solle, um so mehr, als die Tante die bereits ausgeschriebene Einladung für die nächste Woche zurückgelegt habe?

Gewiß! erwiderte der General; – Ottomar soll die Einladung persönlich überbringen; ich habe notwendig mit dem Kapitän zu sprechen und hatte sicher für heute abend auf ihn gerechnet.

Else blickte auf den Schoß, um die verlegene Röte nicht zu sehen, die sich in diesem Moment sicher auf den Wangen der Tante entzündet hatte.

Ist mein Sohn schon zurück? fragte der General den aufwartenden Diener.

Der Herr Leutnant waren eben vom Exerzieren gekommen und auf ihrem Zimmer, um sich umzuziehen. – Der General trug den Damen auf, Ottomar seinen Wunsch betreffs des Besuches und der Einladung mitzuteilen und ihm zu sagen, daß auf seinem Arbeitstische ein Brief für ihn liege; er für sein Teil müsse zu einer Sitzung, habe sich bereits ein paar Minuten verspätet, bitte, sich seinethalben nicht zu derangieren.

Der General erhob sich, machte den Damen seine stattliche Verbeugung und verließ das Zimmer. Er hatte gegen seine Gewohnheit nur ein Paar Bissen gegessen, und seine Miene war zerstreut und finster gewesen. Elsen war das nicht entgangen, aber sie hatte nicht zu fragen gewagt, ebensowenig, wie sie jetzt die Tante zu fragen wagte, woran sie denke, während sie schweigend mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Energie einem unglücklichen Hühnerflügel seine letzte Fleischfaser abtrotzte; daß es nicht »das diffizile Kapitel« in dem »Hofhaushalt« war, wußte sie nur zu gut. Glücklicherweise kam Ottomar bald; aber auch er brachte keine Heiterkeit mit: der Major sei einmal wieder unausstehlich gewesen – dieselben Evolutionen hundertmal hintereinander; habe die Offiziere nach dem Exerzieren abgekanzelt wie Schulbuben; der ganze Dienst sei unausstehlich, er habe die Geschichte gründlich satt; er möchte lieber heute als morgen die ganze Geschichte an den Nagel hängen.

Else hielt den Augenblick für übel gewählt, den verdrießlichen Bruder mit der Angelegenheit, die ihr so am Herzen lag, zu behelligen, und war froh, daß die Tante nicht, wie sie fürchtete, davon anfing. Aber der Brief, der für ihn auf des Vaters Tisch lag, ließ sich nicht wohl unterschlagen.

Warum hat man den Brief nicht auf mein Zimmer getragen? fragte Ottomar, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, den Diener.

Ich weiß von nichts, Herr Leutnant, erwiderte August.

Ottomar hatte bereits die Serviette hingelegt, um aufzustehen, sagte dann aber: es wird wohl nicht so wichtig sein; möchtest du mir wohl den Bratenteller reichen, Else? Ich habe einen Hunger wie ein Löwe.

Nichtsdestoweniger berührte er die Speisen kaum, schenkte sich aber wiederholt von dem Wein ein, den er mit hastigen Zügen trank.

Ich bin zu durstig, um essen zu können, sagte er; – habe vielleicht in einer Stunde besseren Appetit. Wollen wir uns gesegnete Mahlzeit wünschen?

Er rückte seinen Stuhl, ging auf die Tür zu, die in seines Vaters Arbeitszimmer führte, blieb aber auf dem halben Wege stehen und strich sich mit der Hand über Stirn und Augen. – Das verdammte Exerzieren, sagte er, – der gesundeste Mensch muß dabei nervös werden.

Er war gegangen; Elsen war sein Betragen peinlich aufgefallen; es wollte ihr nicht zu Sinn, daß das Exerzieren allein an seiner Verstimmung schuld sei: dergleichen dienstliche Scherereien hatte er früher leicht genug getragen! Aber seit einiger Zeit war er wie umgewandelt: seine herzerquickende Munterkeit und gute Laune waren wie verschwunden; besonders war ihr in den letzten Tagen sein düster-verstörtes Wesen aufgefallen. Sie glaubte zu wissen, was es war, und hatte sich wiederholt vorgenommen, mit ihm darüber zu sprechen. Es war sehr unrecht, daß sie es nicht getan, bis es nun vielleicht schon zu spät war.

Else überdachte das alles, während sie wieder ihren Lieblingsplatz in dem Gärtchen aufgesucht hatte; sie war innerlich zu aufgeregt, um eine ihrer gewöhnlichen Beschäftigungen vorzunehmen. Vielleicht kam Ottomar ebenfalls in den Garten; oder sie wollte ihn auch rufen, wenn er das Zimmer des Vaters verließ, dessen Tür sie durch die weitgeöffnete Glastür des Speisezimmers sehen konnte.

Er blieb lange für ihre Ungeduld; vielleicht beantwortete er den Brief gleich an des Vaters Tisch; und da trat er ja auch heraus, seine Uniform zuknöpfend, und kam in den Garten, – sicher hatte er sie hinten im Gange unter den Bäumen bemerkt.

Er hatte sie nicht bemerkt. Im bloßen Kopfe, die Augen gesenkt, noch immer an den Knöpfen fingerierend, kam er langsam näher. Sein schönes Gesicht war, trotz des hellen Sonnenscheins, der darauf lag, wie in Nacht getaucht; Else sah, wie es um die feinen Lippen zuckte und bebte.

Um Gottes willen, was ist dir, Ottomar?

Wie du mich erschreckt hast!

Du mich sicher noch mehr! Was gibt es, Ottomar? ich bitte dich, sage es mir! ist es der Brief? – eine Herausforderung?

Warum nicht gleich ein Todesurteil? – ein ganz gleichgültiger Brief, der – der rekommandiert gewesen war und über den Papa für mich quittiert hatte.

Ein gleichgültiger Brief – rekommandiert – aber gleichviel, wenn es der Brief nicht war, so ist es, was dich schon so lange beschäftigt und quält. Wie stehst du mit Carla, Ottomar?

Mit Carla? wunderliche Frage! Wie soll man denn mit einer Dame stehen, mit der man sich demnächst verloben wird?

Ottomar, sieh mir in die Augen: du liebst Carla nicht!

Ottomar versuchte den Blick auszuhalten, aber es gelang ihm nicht ganz. – Du bist närrisch, sagte er mit einem verlegenen Lächeln, – das sind Träume eines Mädchens.

Ist Carla nicht auch ein Mädchen? und glaubst du nicht, daß auch sie träumt? Daß sie sich ein Bild von dem Glück gemacht hat, welches sie an deiner Seite hofft? Daß für sie, wie für jedes andere Mädchen, dieses Glück nur in der Liebe bestehen kann? und daß sie, daß ihr beide unglücklich werdet, wenn diese Liebe auf einer oder der andern Seite, vielleicht auf beiden Seiten, nicht vorhanden ist? Glaubst du das nicht?

Ich glaube kein Wort von alledem, sagte Ottomar.

Er blickte jetzt die Schwester an und lächelte; aber die Augen hatten einen starren, stechenden Glanz, und das Lächeln war ironisch und traurig zugleich, daß es Elsen ins Herz schnitt.

Und doch? sagte sie tonlos.

Und doch! Sieh! liebes Kind, die Sache ist ganz einfach. Ich gebrauche für mich und zur Verzinsung, respektive Amortisation, das heißt Tilgung der Schulden, die ich machen mußte, bevor ich dieses Frühjahr in den Genuß meiner Revenue kam, zehntausend Taler jährlich. Meine Revenue ist, bei der lächerlich billigen Verpachtung der Güter, wie du weißt, fünftausend; Carla hat fünftausend jährlich, macht zusammen zehntausend; das heißt: ich werde sie heiraten, und zwar sobald als möglich.

Um deine Schulden zu bezahlen?

Einfach, um leben zu können; denn dies hier – diese ewige Abhängigkeit, dieses ewige Versteckenspielenmüssen, um nichts und wieder nichts, da einem doch jeder in die Karten sehen kann; dies – dies – die Worte wollten ihm nicht mehr aus der Kehle; er bebte am ganzen Körper. Else hatte ihn noch nie so gesehen; auch ihr zitterten die Glieder; aber sie war entschlossen, zu tun, was ihr Pflicht schien, was sie noch nie als Pflicht so klar erkannt hatte, wie in diesem Augenblick.

Lieber Ottomar, sagte sie, ich will nicht fragen, ob du wirklich so entsetzlich viel Geld brauchst – der Papa hat uns oft erzählt –

Daß er als Leutnant mit achtzehn Talern monatlich ausgekommen ist – um Himmels willen, laß mich endlich damit in Ruh! Es waren damals andere Zeiten, der Papa stand in der Linie, ich bin in der Garde, und er und ich – wir sind himmelweit verschiedene Naturen –

Gut – du sollst so viel brauchen, wie du sagst; ich bin in drei Jahren ebenfalls mündig und habe dann auch fünftausend Taler: ich will sie dir mit Freuden geben, wenn –

– ich nicht bis dahin verheiratet bin? Das wolltest du doch wohl sagen?

Dann werde ich eben nicht heiraten – ich – ich will gar nicht heiraten.

Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, die ihr nun in Strömen aus den Augen brachen; Ottomar legte den Arm um sie:

Du liebe, herzige Else, sagte er, – ich glaube wahrhaftig, du wärest dazu imstande; aber siehst du denn nicht, daß, sich auf Kosten einer Schwester retten zu wollen, die man von Herzen liebt, tausendmal häßlicher ist, als auf Kosten einer Dame, die man freilich nicht liebt, die aber sehr wahrscheinlich gar nicht einmal geliebt sein will?

Aber, Ottomar, das – das ist's ja eben! rief Else, ihre Tränen trocknend; – daß du Carla, gerade Carla heiraten willst, von der ich gar nicht sagen will, daß sie überhaupt nicht lieben könnte, ja, von der ich überzeugt bin, daß sie dich in diesem Augenblicke liebt – in ihrer Weise; aber ihre Weise ist nicht deine Weise; und das würde sich nur zu bald herausstellen, auch wenn du selbst sie liebtest, was du ja eingestandenermaßen nicht einmal tust. Ihr paßt so gar nicht zueinander. Wenn ich ausnehme, daß sie – trotz ihrer Kurzsichtigkeit – gut und leidenschaftlich reitet – ich wüßte in der Welt nicht, welche Interessen ihr noch gemeinschaftlich hättet. Ihre Musik, das heißt, ihre Wagnersche Musik, für die sie so maßlos schwärmt, ist dir ein Greuel; in ihre Bücher, die sie, davon bin ich überzeugt, größtenteils selbst nicht versteht, wirst du nie einen Blick werfen; so ist's überall, und was das schlimmste ist: die Liebe, die sie meint, das ist gar nicht deine Liebe. Du hast, was du auch dagegen sagen magst, und ein wie glänzender Kavalier du auch bist und hoffentlich immer sein wirst, ein weiches gutes Herz, das sich an eben solchem Herzen zu schlagen sehnt; Carlas Liebe ist, fürchte ich, zu sehr mit Eitelkeit vermischt, spielt, fürchte ich, zu sehr auf der schimmernden, glänzenden Oberfläche des Lebens; und wenn du dich einen tieferen Ton zu hören sehntest und diesen Ton selbst anschlügst, würdest du kein Echo in ihrem Herzen finden.

Aber, Else, du weißt ja in Herzenssachen verzweifelt gut Bescheid! sagte Ottomar. – Von wem hast du denn das alles gelernt – vom Grafen Golm?

Else errötete bis in die Schläfen hinauf; sie zog ihren Arm aus dem ihres Bruders.

Das habe ich nicht verdient, sagte sie.

Ottomar griff nach ihrer Hand und zog sie an die Lippen: Verzeihe mir, sagte er; – ich fühle es selbst, daß meine Scherze jetzt immer verunglücken; der Himmel weiß, wie das zugeht. Es sollte ein Scherz sein, zu dem mich Golm, vermute ich, selbst verleitet hat. Er schwärmt nämlich für dich, falls du es noch nicht wissen solltest, und hat noch vorhin, als er mir auf dem Nachhausereiten im Tiergarten begegnete, nur von dir gesprochen. Er ritt eines seiner Pferde, die er sich hat nachkommen lassen; es scheint also, als ob er länger hierbleiben wolle. Übrigens kann ich dir zu deiner Beruhigung sagen, daß mir Golm gar nicht so ausnehmend gefällt – ich glaube nicht, daß wir jemals sehr gute Freunde werden würden, es wäre denn, er präsentierte sich bei mir in einer Eigenschaft – aber ich will meine kleine Else nicht noch einmal bös machen. – Wer hat denn alles schon zugesagt? kommt Clemda? er war heute nicht beim Exerzieren. –

Ottomar wollte abbrechen – Else merkte es wohl, und sie wußte, daß sie vergebens gesprochen. Es war ihr weh ums Herz; vor ihr lag ein Unglück, das unsichtbar, unabwendbar sich näherte, gerade wie damals, als er ihr gesagt, daß das Schiff auflaufen würde binnen zehn Minuten, binnen einer Viertelstunde. Und da war er ihr zur Seite gewesen, ihr zur Seite geblieben; sie hatte in die mutigen blauen Augen geschaut und keine Furcht empfunden, denn sie hatte gewußt, daß dieser Mann der Gefahr gewachsen sei. Und wie sie jetzt, stumm an ihres Bruders Seite dahinschritt, – er selbst verstummt und düster und offenbar bereits wieder in seine trostlosen Gedanken versunken – da sagte ihr das treue Schwesterherz, daß der Liebenswürdige, Sorglose, Leichtfertige einer ernstlichen Gefahr unterliegen werde, unterliegen müsse, wenn nicht eine stärkere Hand, als die ihre, in sein Leben eingreife. Vielleicht – nein, gewiß würde seine Hand – nur daß ja kaum eine Möglichkeit war, die beiden jungen Männer in ein so intimes Verhältnis zu bringen – aber was war am Ende nicht alles möglich, wenn man nur den rechten Mut hatte?

Ehe ich es vergesse, Ottomar: Papa wünscht, daß du hinüber gehst und den Kapitän Schmidt zu heute abend einladest. Tante –

Und sie berichtete, wie dies so gekommen war.

Das kann ja August oder mein Bursche ebensogut besorgen, sagte Ottomar.

Nicht ebensogut, sagte Else; – der Kapitän hat uns einen Besuch gemacht, oder seine Karte abgegeben, da niemand zu Hause war – was auf dasselbe herauskommt. Es ist doch nur schicklich, daß du ihm einen Gegenbesuch machst, und wenn du bei der Gelegenheit, was ja so bequem ist, die Einladung –

Ich bin so abgespannt und müde – ich muß notwendig eine Stunde schlafen –

Dann gehe hernach hin: es ist ja noch immer Zeit.

Ich glaube, Else, du hast ein kleines Faible für den Kapitän, sagte Ottomar, stehen bleibend und seiner Schwester in die Augen blickend. Das habe ich, und das verdient er auch, sagte Else, den Blick mutig aushaltend; – er ist ein guter, edler Mensch, wie ich nicht viele bis jetzt kennen gelernt habe, und ich möchte wohl, daß du näher mit ihm bekannt würdest; ich bin überzeugt, er würde dir sehr gefallen, und vielleicht – es gibt so wenig Menschen, Ottomar, auf die man sich verlassen, auf die man in jeder Verlegenheit, jeder Gefahr sicher zählen kann.

Wie ich auf dich! sagte Ottomar.

Sein Blick ruhte nachdenklich auf dem freien, mutigen Gesichte seiner Schwester und glitt dann, wie zufällig, ab über ein paar Fenster des Schmidtschen Hauses, die man von der Stelle übersehen konnte. Die blauseidenen Gardinen an dem einen der beiden Fenster waren heruntergelassen; sie waren es schon seit drei Tagen; es hieß: ich erwarte dich heute abend nicht. Sollte er der Klugen, Mutigen, Treuen das Geheimnis sagen, das ihm das Herz abdrückte? sollte er dem gepreßten Herzen Erleichterung verschaffen durch eine offene, ehrliche Beichte, hier, wo er sicher sein durfte, wenn auch nicht Billigung, so doch Verständnis, Teilnahme, Mitleid zu finden?

Mitleid? Und wenn sie nun weiter trotzte da drüben hinter ihrem Vorhang? wenn er endgültig verabschiedet war? wenn er morgen vielleicht schon sagen mußte: quäle dich nicht weiter, Else, es ist alles vorüber und vorbei – sie hat mir den Laufpaß gegeben, mir! – so hatte er sich ganz umsonst gedemütigt, so hatte er sich ohne Not blamiert. – Nein, nein! dazu war's noch immer Zeit. Erst wollte er selbst – aus ihrem eigenen Munde –

Ich werde hinübergehen, Else, sagte er, – und ich will es gleich tun, ich kann ja hernach schlafen.

Du guter, lieber Ottomar, rief Else, den Bruder umarmend und küssend; – ich wußte es ja.

Else, auf einen Augenblick, wenn ich bitten darf! rief Sidonie aus der Tür des Speisezimmers.

Ich komme, Tante!

Else eilte davon; Ottomar schaute ihr mit düsterem Blicke nach. Die beiden Frauen verschwanden in dem Hause.

Er ging ein paar Schritte weiter, bis wo ihn die dichten Gebüsche völlig einschlossen und vor aller Augen verbargen. Dennoch blickte er sich noch einmal vorsichtig um, riß dann die Uniform auf und zog den Brief hervor, den er auf seines Vaters Tisch gefunden.

In dem Kuvert steckten mehrere Papiere, er nahm ein kleines Blatt heraus mit seines Vaters Handschrift. Auf dem Blatt stand:

»Heute morgen auf die beiden eingeschlossenen Offizierswechsel, die ich für Dich bezahlt und quittiert: 1200 Taler, mit dem Bemerken, daß es die letzten Schulden sind, die ich für dich bezahle, aus dem Grunde, weil mein eigenes Vermögen, wie Du aus einliegender Abrechnung ersiehst, bis auf einen kleinsten Rest zu demselben Zweck verbraucht ist und ich keinen Pfennig mehr bezahlen kann, ohne uns der Mittel für ein standesmäßiges Leben zu berauben oder selbst Schulden zu machen. Wonach sich zu richten bitte.

v. Werben.«

Ein schöner bunter Schmetterling wiegte sich durch die blaue Luft; ein Sperling kam aus dem Baum herbeigeschossen, haschte sich den Schmetterling, flog mit ihm auf den Rand der Gartenwand und zerpflückte seine Beute.

Ein bitteres Lächeln spielte um Ottomars Lippen.

Das hätte sich nun ausgeflattert, lieber Schmetterling. Es muß eben alles einmal ein Ende nehmen – so oder so!


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