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Drittes Kapitel

Indessen schienen glücklicherweise seine Befürchtungen nicht in Erfüllung gehen zu sollen. Zwar konnte Tante Rikchen nicht wohl den Mund öffnen, ohne daß Onkel Ernst ihr den Faden der Rede kurz abschnitt; auch mischte sich Ferdinande wenig in die Unterhaltung; aber das hatte im Anfang nicht so viel auf sich, oder war erklärlich, da Onkel Ernst vor allem von Reinhold einen ausführlichen Bericht seiner Schicksale und Erlebnisse wahrend der langen Jahre, die sie einander nicht gesehen hatten, verlangte und mit einer Aufmerksamkeit zuhörte, die nicht gestört sein wollte. Dabei hatte Reinhold Gelegenheit, die ganz ungewöhnliche Fülle und Genauigkeit von Onkel Ernsts Kenntnissen zu bewundern. Er konnte keine noch so entfernte Stadt nennen, über deren Lage, Geschichte und merkantile Verhältnisse jener nicht vollständig unterrichtet gewesen wäre. Er sprach dem Onkel sein Erstaunen und seine Bewunderung darüber aus.

Was willst du? erwiderte dieser. – Wenn man als ein armer Teufel geboren ist und nicht, wie du, das Glück gehabt hat, von Berufswegen in die Welt hineinschweifen zu dürfen, sondern als Junge und Jüngling und Mann an die Scholle geheftet war und an die harte Arbeit um's tägliche Brot, bis man ein alter Kerl geworden und nun, wo man's sonst wohl könnte, nicht mehr zu dem Wanderstabe greifen mag – was bleibt einem übrig, als die Karten zur Hand zu nehmen und seine Nase in die Bücher zu stecken, um zu erfahren, wie groß und schön unser Herrgott seine Welt gemacht hat?

Wenn Onkel Ernst so sprach, schwand alles Rauhe und Herbe aus seiner Stimme, alles Finstre aus seinen strengen Zügen – aber nur für einen Moment; dann lagerte sich wieder über Stirn und Augen die düstre Wolke, wie graue Nebel um die Firnen eines Gebirges, die eben noch im Sonnenschein erglänzten.

Reinhold konnte sich nicht satt sehen an dem schönen alten Gesicht, dessen Ausdruck beständig wechselte, aber nie eine leiseste Spur von Flachheit und Unbedeutendheit zeigte, sondern immer groß und mächtig blieb; an dem herrlichen Kopfe, der jetzt, wo das überreiche, lockige Haar und der buschige Vollbart stark ergraut waren, noch stattlicher, königlicher schien, als in früheren Jahren. Und dabei mußte er beständig an ein anderes Gesicht denken, dem er noch vor wenigen Abenden so gegenüber gesessen: an das des Generals von Werben, auch ein schönes, altes, strenges Gesicht, freilich in sich konzentrierter, gesammelter, ohne das gewaltige Feuer, das hier in prächtigen Garben emporschoß, um dann wieder, wie unter einer Aschendecke, weiter zu glühen und zu drohen.

Denn daß diese innere, kaum verhaltene Glut bedrohlich sei und nur einer Veranlassung bedürfe, um prasselnd und donnernd hervorzubrechen – Reinhold hatte es sich von Anfang an gesagt, und es sollte nicht lange dauern, bis er den Beweis erhielt, wie er sich nicht getäuscht.

Er war in der Erzählung seiner Fahrten und Irrfahrten bis zu dem Tage gekommen, wo er in Southampton die Nachricht von dem Ausbruch des Krieges erhielt und, alle Verhältnisse abbrechend, den sonstigen Gewohnheiten entsagend, nach Deutschland zurückeilte, die Pflichten gegen das bedrohte Vaterland zu erfüllen. – Die Begeisterung, rief er, hatte mir den Entschluß diktiert; mit voller Hingebung, mit Aufgebot aller meiner geistigen und physischen Kräfte habe ich ihn ausgeführt und durchgeführt von Anfang bis zu Ende, ohne – ich darf es sagen – nur einmal zu ermüden, zu erlahmen, ohne nur einen Moment daran zu zweifeln, daß die Sache, der ich mich geweiht, eine heilige sei, wie unheilig auch das blutig-gräßliche Gewand, in das sie gekleidet, in das sie sich kleiden mußte. – Dann, als das große Ziel erreicht, größer, schöner, voller, als ich und wohl alle, die mit mir in den Kampf gezogen, gedacht und geahnt, gewünscht und gewollt – da bin ich unverzüglich zu meiner alten Beschäftigung zurückgekehrt, habe mein Schiff wieder übers Meer gelenkt, in dem stillen, freudigen Gefühl, meine Pflicht getan zu haben; in der Gewißheit, jetzt überall, wohin mich auch das wechselreiche Geschick des Seemanns führen möchte, in dem Schatten der deutschen Flagge ein Stück Heimat zu finden; in der frohen Zuversicht, daß ihr in dem schönen Vaterlande das schwer Errungene nie wieder verloren gehen lassen und die gute Zeit benutzen würdet, das so groß geplante, so machtvoll begonnene Werk auszubauen und zu vollenden, und daß, wenn ich heimkehrte, es in ein Land sein werde, voll Freude und Frieden und Sonnenschein in allen Herzen und auf allen Gesichtern.

Ich will es nur gestehen: ich habe während der wenigen Tage, die ich jetzt in der Heimat weile, manche Erfahrung gemacht, die meiner Hoffnung zu spotten schien; aber ich habe nicht glauben mögen, daß ich richtig gesehen. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, daß mich nur der Zufall wiederholt mit Menschen in Berührung gebracht, die aus diesem oder jenem rein persönlichen Grunde mit dem Stand der Dinge unzufrieden, von den augenblicklichen Verhältnissen wenigstens nicht ganz befriedigt sind, wie verschiedene Herren, die ich bei dem Grafen Golm traf. Ich habe der hocharistokratischen Gesellschaft – zuletzt noch gestern in Sundin dem skeptischen Präsidenten gegenüber – mit meiner Meinung nicht zurückgehalten, ihr vielmehr unverhohlenen, energischsten Ausdruck gegeben.

Und nun gar hier – im Schoße der Familie – an deinem Tische, Onkel Ernst, der du für des Vaterlandes Ehre und Glück so viel gekämpft und so viel gelitten – kann doch vollends von einer Zurückhaltung nicht länger die Rede sein; darf ich doch sicher auf herzlichstes Verständnis, auf unbedingte Billigung rechnen.

Onkel Ernst hatte, die Stirn in die Hand gestützt, schweigend zugehört; jetzt plötzlich hob er das Haupt und sagte mit einer Stimme, die nichts Gutes verkündete:

Verzeihe, daß ich dich unterbreche, um dich darauf aufmerksam zu machen, daß auch ich mit dem wenigsten, was du da vorbringst, übereinstimme. Es ist immer gut, wenn, der da spricht, es weiß, daß er den Hörer nicht auf seiner Seite hat.

Es lag ein ungewöhnlich finsterer Ausdruck in den mächtigen Augen. Reinhold bemerkte es wohl; einen Moment überlegte er, ob er schweigen, ob er weiter reden solle. Aber, blieb er auch nur wenige Tage, – dies Thema mußte ja doch noch öfter zur Sprache kommen, und wenn dann, wie leider nun nicht mehr zu zweifeln, der Onkel anderer Meinung war – die Ansichten eines solchen Mannes zu hören, verlohnte sich der Mühe. So sagte er denn:

Das tut mir herzlich leid, lieber Onkel, um der Sache willen, und verzeihe, daß ich es ausspreche – um deinetwillen.

Das verstehe ich nicht.

Ich meine, die Sache ist so groß und so schwer, daß sie jedes Paares kräftiger Schultern bedarf, damit sie aus der Stelle rücke; und sie ist so gut und so heilig, daß ich den beklagen möchte, der nicht aus voller Überzeugung mitraten und mittaten will oder kann.

Oder kann! rief Onkel Ernst, – sehr richtig! habe ich nicht mitgeraten und mitgetan, so lange ich konnte: auf den Barrikaden in den Märztagen, auf den Bänken der Nationalversammlung, und überall und zu jeder Zeit, wo und wie es menschenmöglich – ich meine einem ehrlichen Menschen möglich war, die Schulter an das Rad zu stemmen, wie du sagst? Ich will nicht davon reden, daß ich mir die Schultern dabei wund gedrückt – mehr als einmal; daß sie mich schikaniert und molestiert, von einer Armensünderbank auf die andere geschleppt und gelegentlich auch ins Loch gesteckt haben – das gehört dazu, und besseren Leuten als ich, ist es nicht besser, wohl aber schlimmer, viel schlimmer ergangen. Gut! es war ein Kampf – ein mit sehr ungleichen Waffen geführter, verzweifelter Kampf – meinetwegen! aber doch ein Kampf! Was ist denn das jetzt? Ein Jahrmarkt ist's und eine Trödelbude, wo sie über den Ladentisch hinüber und herüber schachern und einen Fetzen unserer alten stolzen Freiheitsfahne nach dem anderen verganten an den Mann, der sie alle in der Tasche hat und von dem sie wissen, daß er sie in der Tasche hat.

Die Wolke auf seiner Stirn war finsterer geworden, die dunkelblauen Augen wetterleuchteten, die tiefe Stimme grollte – ein Sturm war im Anzug; Reinhold hielt es nun doch für geraten, ein paar Segel einzureffen.

Ich bin kein Politiker, Onkel, sagte er, – ich habe, glaube ich, verzweifelt wenig Anlage dazu und habe jedenfalls keine Zeit gehabt, diese etwaige Anlage auszubilden. Ich kann dir deshalb nicht widersprechen, wenn du mir sagst, daß hierzulande leider nicht alles ist, wie es sein sollte. Aber dann wirst du mir auch zugeben, wie mir die aristokratischen Herren zugeben mußten, daß die Sache, von der andern Seite – ich meine von draußen, vom Bord eines Schiffes, von einem fremden Hafen jenseits des Ozeans aus gesehen – sich ganz anders und sehr viel besser ausnimmt; und ich meine, du kannst mir nicht verargen, daß ich günstiger über den Mann denke und – gerade heraus – einen tiefen Respekt vor ihm empfinde, dem wir denn doch schließlich den Respekt zu verdanken haben, dessen der deutsche Name sich jetzt über die ganze Welt zu erfreuen hat.

Ich kenne das Lied, sagte Onkel Ernst; – er hat es ja oft genug gesungen, der schlaue Finkler, und singt es noch jeden Augenblick, wenn die Gimpel einmal nicht ins Netz wollen: wer hat 1864, wer hat 1866, wer hat 1870 gemacht? ich! ich! ich!

Und hat er nicht recht, Onkel?

Nein und tausendmal nein! rief Onkel Ernst. – Weil man die letzte Schaufel Erde wegnimmt, hat man deshalb ein alleiniges Anrecht auf den Schatz, den andere mit unsäglicher Arbeit und Mühe aus den Tiefen der Erde soweit geschürft und gehoben? Noch heute wäre Schleswig-Holstein dänisch, hätten die Junker es erobern, noch heute wäre Deutschland in tausend Fetzen zerrissen, hätten die Junker es zusammenflicken sollen; noch heute flatterten die Raben um den Kyffhäuser, hätten nicht tausend und abertausend patriotische Herzen und Köpfe von Deutschlands Einheit geschwärmt, für Deutschlands Größe gedacht Tag und Nacht – die Herzen und die Köpfe von Männern, die man dafür nicht mit Grafen- und Fürstentiteln und Dotationen beschenkt und begnadigt hat.

Weißt du, Onkel, sagte Reinhold, – ich meine: es ist mit der deutschen Einheit wie mit andern großen Dingen auch. In Gedanken waren schon gar viele westwärts nach Ostindien gefahren; in Wirklichkeit tat es schließlich nur einer, und der entdeckte – Amerika.

Mir deucht, sagte Onkel Ernst grollend, – der es entdeckte, hieß Kolumbus, und er soll zum Dank dafür in den Kerker geworfen und im Elend gestorben sein. Der hinterher kam und den Ruhm in die Tasche steckte, und nach dem der Erdteil getauft ist, war ein armseliger Schacher, nicht wert, jenem die Schuhriemen zu lösen.

Nun, wahrhaftig! rief Reinhold, wider Willen lachend – ich glaube, Onkel, so würde auf dem ganzen Erdenrund kein anderer Mensch über Bismarck sprechen.

Wohl möglich! erwiderte Onkel Ernst; – ich glaube auch nicht, daß auf dem ganzen Erdenrund ein anderer den Mann so haßt, wie ich.

Onkel Ernst stürzte das Glas, das er sich eben voll geschenkt, in einem Zuge hinunter. Reinhold fiel bei der Gelegenheit auf, daß der Onkel auch sonst der Flasche reichlich zugesprochen, und er glaubte zu bemerken, daß die Hand, die das gefüllte Glas wieder zum Munde führte, ein wenig zitterte und der vorhin so stetige Glanz der großen Augen getrübt war und unheimlich flackerte.

Das kommt von meiner Rechthaberei, sagte Reinhold bei sich selbst; – weshalb den Zorn des alten Grimmbarts reizen? mag doch jeder nach seiner Fasson sich die Dinge zurecht legen! Du hättest den ganzen Kurs ändern sollen.

Er hatte bereits während der Fahrt durch die Stadt kurz über die Strandung des Dampfers und die folgenden Ereignisse berichtet, so konnte er denn jetzt ohne Zwang daran anknüpfen und weiter erzählen, wie freundlich er in Sundin von dem Präsidenten aufgenommen sei und welche Aussichten er ihm eröffnet habe. Er schilderte die Weise des Mannes: wie er sich jetzt in diplomatische Wolken hülle, jetzt mit größtem Freimut sich über Dinge und Menschen äußere und dabei, trotz alles scheinbaren Lavierens, sein Ziel unverrückt im Auge behalte.

Du zeichnest den Mann nicht übel, sagte Onkel Ernst; – ich kenne ihn sehr gut, schon von 1847 her, wo er im Vereinigten Landtage auf der äußersten Rechten saß. Jetzt gehört er zu der Opposition: ich meine zu der versteckten des alten soliden Beamtentums, die mit dem allmächtigen Majordomus grollt und seiner genialen Wirtschaft lieber heute als morgen ein Ende machen möchte. Es ist der Schlimmsten keiner; und doch wünschte ich, du hättest dich nicht soweit mit ihm eingelassen.

Ich habe mich bis jetzt noch zu nichts verpflichtet, erwiderte Reinhold; – ich werde es auch nicht tun, bis ich mich überzeugt habe, daß ich in der Stellung, die man mir anbietet, den entsprechenden Wirkungskreis für meine Kräfte und Fähigkeiten finde. Sollte das aber der Fall sein, nun, so müßte ich sie eben annehmen.

Müßte? weshalb?

Weil ich geschworen habe, dem Vaterlande zu dienen zu Wasser und zu Lande, erwiderte Reinhold lachend; – den Landdienst habe ich absolviert; ich möchte es nun einmal mit dem Wasserdienst versuchen.

Es scheint, daß dir das Dienen zum Bedürfnis geworden ist, sagte Onkel Ernst mit einem grimmigen Lächeln. – Es sollte Spott sein – Reinhold merkte es wohl; aber er war entschlossen, da, wo es sich um ihn selbst, um seine eigensten Ansichten und Überzeugungen handelte, dem unerbittlichen Gegner auch seinerseits nicht nachzugeben.

Warum soll ich es leugnen, sagte er, daß mir die straffe, preußische, militärische Disziplin ganz gewaltig imponiert hat? Bei uns, in unserem kleinen republikanischen Gemeinwesen, geht alles ein wenig lässig zu; niemand versteht recht die Kunst zu kommandieren, und niemand will sich kommandieren lassen. Dann kommen wir auf das Schiff, wo nur einer befehlen darf, die andern gehorchen müssen. Aber keiner hat gelernt, was er nun üben soll: den Offizieren fehlt nur zu oft die Haltung; sie fahren mit Schelten und Poltern drein, wo ein ruhig-bestimmtes Wort am Platze wäre; ein andermal lassen sie wieder fünf gerade sein und die Zügel schießen, wo sie sie straff anziehen müßten. Die Leute ihrerseits können eine so ungleiche Behandlung um so weniger ertragen, als sie meistens rohe Gesellen sind, die nur auf die Gelegenheit warten, den Zwang, der auf ihnen lastet, abzuschütteln. Da geht es denn ohne Reibereien aller Art nicht ab, und man muß Gott danken, wenn es nicht zum Schlimmern und Schlimmsten kommt, wie es ja leider häufig genug geschieht und mir auch ein und das andere Mal passiert ist. Und hat man glücklich während einer langen Reise seine Autorität zu bewahren gewußt und schließlich Zucht und Ordnung in die Leute gebracht, so ist man wieder im Hafen; und bei der neuen Fahrt fängt der Tanz von neuem an. Von dem allen ist in der Armee nicht die Rede. Jeder weiß von vornherein, daß unbedingter Gehorsam seine erste und letzte Pflicht ist; ja, was viel mehr sagen will, jeder, auch der Roheste, fühlt, daß der Ungehorsam nicht bloß ein Verbrechen, sondern ein Unsinn sein würde, der, wenn man ihn auch nur im kleinsten Falle zuließe, das Ganze zerstören müßte – daß dieser ungeheure, wunderbar komplizierte Mechanismus, den man Armee nennt, nur arbeiten kann, wenn jedes kleinste Rad und jedes kleinste Zähnchen am kleinsten Rade an seiner Stelle und zu seiner Zeit genau das tut, was ihm vorgeschrieben.

Zum Beispiel Leute, die anders über das denken, was dem Vaterlande frommt, in den Wallgräben von Rastatt niederknallt – und so weiter, sagte Onkel Ernst.

Reinhold antwortete nicht. Was sollte er darauf antworten? wie durfte er hoffen, sich mit einem Manne zu verständigen, dessen Ansichten in allen Dingen den seinen schnurstracks entgegenliefen? der diese seine Ansichten stets auf die äußerste Spitze trieb? nie eine Konzession machte, nicht einmal einem Gast gegenüber, den er vor einer Stunde erst mit so großer Herzlichkeit empfangen, wie ein Vater seinen Sohn, der aus der Fremde kehrt?

Vielleicht hast du es nun für alle Zeiten mit ihm verschüttet, dachte Reinhold. – Das tut mir leid; aber du kannst dich doch nicht an Händen und Füßen gebunden dem alten Tyrannen auf Gnade und Ungnade ergeben! Wenn du sogar nicht imstande bist, Saiten zu berühren, die freundlich in der rauhen Seele widerklingen, so mögen die Frauen es versuchen, – das ist ja so wie so ihr Metier.

Tante Rikchen hatte ihm offenbar die Gedanken von der Stirn gelesen. Sie erwiderte seine stumme Aufforderung mit einem ihrer scharfen, schnellen, verstohlenen Blicke und mit einem leichten – sehr leichten Achselzucken, als wollte sie sagen: so ist er nun immer! da ist nicht zu helfen! – Ferdinande schien die Unterbrechung gar nicht zu bemerken. Sie starrte, wie sie es nun bereits fast während der ganzen Mahlzeit getan, mit einem seltsamen zerstreut-düstern Ausdruck vor sich hin und regte sich auch nicht, als jetzt die Tante, sich zu ihr hinüberbiegend, einige leise Worte sagte. Onkel Ernst, der eben das geleerte Glas wieder füllen wollte, setzte die erhobene Flasche heftig nieder:

Ich habe dich schon tausendmal gebeten, Rike, das abscheuliche Flüstern zu lassen! Was gibt es denn nun schon wieder?

Über Tante Rikchens altjüngferlich-verfallenes Gesicht war eine schnelle zornige Röte gezuckt, als der verhaßte Name ihr Ohr berührte; aber sie antwortete im Tone resignierter Gleichgültigkeit, den sie aus des Bruders Zurechtweisungen anzuschlagen pflegte:

Gar nichts! ich fragte nur Ferdinande, ob Justus heute abend nicht käme.

Wer ist Justus? fragte Reinhold, froh, daß irgend ein anderer Gegenstand berührt wurde.

Rike liebt es, die Leute möglichst familiär zu bezeichnen, sagte Onkel Ernst.

Wenn sie halb zur Familie gehören, warum nicht? erwiderte Tante Rikchen, die entschlossen schien, sich diesmal nicht einschüchtern zu lassen. – Justus oder, wie der Onkel will, Herr Anders ist ein junger Bildhauer –

Von dreißig und einigen Jahren – sagte Onkel Ernst.

Also von dreißig und einigen Jahren, fuhr Tante Rikchen fort, genauer dreiunddreißig. Er wohnt schon, wer weiß wie lange bei uns –

Weißt du es nicht, Ferdinande? fragte Onkel Ernst.

Ferdinande ist nämlich seine Schülerin, fuhr Tante Rikchen fort.

Ah! sagte Reinhold, ich mache mein Kompliment.

Es ist nicht der Rede wert, sagte Ferdinande.

Seine beste Schülerin! rief Tante Rikchen; – er hat es mir selber noch gestern gesagt, und daß dein Hirtenknabe der Kommission sehr gefallen hat. Ferdinande hat nämlich einen Hirtenknaben auf der Ausstellung, nach dem Gedicht von Schiller –

Von Uhland, Tante!

Ich bitte um Entschuldigung, – ich habe nicht das Glück einer gelehrten Erziehung gehabt, wie andere Leute, – nun weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte –

Es wird wohl nicht so viel darauf ankommen, brummte Onkel Ernst.

Du sprachst von Ferdinandes Hirtenknaben, Tante, sagte Reinhold einhelfend.

Die Tante warf ihm einen dankbaren Blick zu, aber bevor sie antworten konnte, ertönte die Klingel auf dem Flur, und sofort fragte eine helle Stimme: Sind die Herrschaften noch bei Tisch?

Es ist Justus! rief Tante Rikchen; – ich dachte es doch! – haben Sie schon gegessen?


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