Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Neunzehntes Kapitel.

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

In der Welt und in der Lindenhütte ging es dem Frühlinge zu. Nur noch spärliche Reste des langen weißen Winters lagen in dem Walde herum, den Vater Lindemann und Fritz Bonder allmorgendlich und allabendlich durchschritten, um nach Volkerswalde und wieder zurück nach Hilgenthal zu kommen. »Si, si!« und »Is is!« rief das winzige Goldhähnchen, das emsig an den Zweigen herumhüpfte und bald hie, bald da ins Moos pickte. Das Kommen des Alten und des Jungen scheuchte es nicht einen Zweig weiter; es kannte sie ja, sah sie nun schon so manche Woche daher und dahingehen, in den ersten Wochen den Alten allein, dann von einem Morgen ab mit dem Jungen zusammen, und es hatte noch keiner etwas Böses getan. 306

»Seht nur,« sagte Fritz, der das Vöglein mit hellem Auge verfolgte, »wie das kleine Goldhähnchen so unermüdlich an den Bäumen herumpickt!«

»Es wird wohl nicht jedes Picken etwas schicken,« meinte lächelnd Vater Lindemann und legte ein Bröckchen Brot auf den Zweig, damit das Goldhähnchen sich daran erlaben möchte.

»Was freue ich mich nur, daß ich nun wieder immer bei Euch sein kann,« sagte Fritz und blickte dankbar zu seinem väterlichen Freunde auf.

Es war ein langer und mühsamer Weg, – und doch, wie gern gingen sie ihn, wie leicht war ihnen Herz und Sinn, wenn auch die Füße manchmal schwer wurden. Manchmal gingen sie schon durch das Volkerswalder Hoftor, wenn die Sterne noch am Himmel glimmten.

Eines Morgens trat ganz unverhofft der Baron in Begleitung seiner Elfriede den beiden Hilgenthalern in den Weg. Denn sie waren Frühaufsteher und liebten das Wecken und Erwachen des Morgens. Die erste Lerche stieg in die Lüfte und sang: »Spute dich! Spute dich! Bist ja noch so weit, weit, weit!«

Wem sollte dies gelten? Den vier Menschen, die sich da an dem Schloßhofe begegneten, gewiß nicht. Ei, der Sonne sollte es gelten, die noch 307 zögernd hinter dem dunklen Kamme der Hirtenberge sich hielt.

Alle vier sahen wie in stiller Andacht der jubelnden Lerche nach, denn es war die erste dieses Jahres unterm blauen Himmel, und es ist etwas unbeschreiblich Wundersames um das erste Frühlingsregen in der Natur und Menschenbrust.

Fritz Bonder allerdings sah unwillkürlich mehr auf das Mägdlein als auf die Lerche. Wer wollte es ihm verargen? Dies Mägdlein war unbedingt das Allerschönste und Lieblichste am ganzen Frühlingsmorgen, und wenn sie einen mit ihren leuchtenden braunen Augen ansah, konnte der übrige Frühling das Spiel nur gleich aufgeben – da er schwerlich etwas anderes aufzuweisen vermochte, das einen so feinen Wuchs hatte und eine so reiche, reizvolle Anmut.

Als die ersten Strahlen der Sonne über die Hirtenberge fluteten, strich sich der Baron voll ureigenen Wohlbehagens über den goldbraunen Vollbart und sagte mit einer tieftönigen Stimme, der man anmerken konnte, daß sie die Worte aus dem Herzen holte: »Ei, da hätten wir die gute Sonne aber ganz gehörig beschämt! Aber es scheint, ihr beiden tätet mir des Guten doch ein bißchen zu viel. Ihr sollt mir nicht so früh 308 kommen; ihr sollt euch nicht um die Nacht bestehlen. Das sollt ihr nicht. Macht ihr so fort, reibt ihr euch vor der Zeit auf – zu eurem und meinem Schaden. Denn ich wünsche euch recht lange auf meinem Hofe tatkräftig zu sehen, und ich meine, auch eure Familien haben ein Recht auf einen solchen Wunsch.«

Hell und heiter entgegnete Lindemann: »Nehmen Sie's nicht für übel, Herr Baron. Die Turmuhr hat uns 'mal wieder einen Tort' gespielt. Sie tat vier Schläge, als sie nur drei hätte tun müssen.«

»Ist denn Ihre eigene Uhr nicht zuverlässiger als die Schelmin auf dem Turm?«

»Ach, lieber Gott,« seufzte Lindemann, und es spielte ein drolliger Zug um seinen Mund, »die Wanduhr, die wir haben, ist schon so alt, daß sie so rasch, wie die Uhren der heutigen Welt, nicht vorwärts kommen kann. Ist sie heute gegangen, muß sie sich morgen verschnaufen, und wenn sie am Tage geht, können wir nicht von ihr verlangen, daß sie auch die ganze Nacht noch auf den Beinen ist. Denn mit dem Alter muß man einmal nachsichtig sein.«

Elfriede lachte hell auf, guckte in ihrer lebhaften Weise dem Lindenhüttenvater dicht unter die schelmisch blinzelnden Augen und fragte 309 schalkhaft: »Ei, lieber Lindemann, wie können Sie denn aber ohne Uhr wissen, wann's Frühstücks-, Mittags-, Vesper- und Feierabendzeit ist?«

»Ja, Elfriede, danach frag' nur– das möcht' ich auch wohl wissen!« fiel sehr vergnügt der Baron ein.

Und nun kam unserm Vater Lindemann eine neue Schalkhaftigkeit an: »Das will ich Ihnen gleich sagen. Ohne Uhr kann man so sehr wichtige Dinge freilich nicht wissen. Darum habe ich auch zumeist noch drei andere Uhren im Gange: die eine steht droben am Himmel – die Sonne; die andere geht auf der Erde – der Schatten; die dritte hängt, wenn Sie's mir nicht für übel nehmen wollen, in meinem Leibe – der Magen. Und diese drei Uhren gehen immer richtig, und mit diesen drei Uhren wird es mir nie schwer, die Hauptzeiten des Tages zu bestimmen.«

Diese Erläuterung erweckte neue Heiterkeit. »Aber die dritte Uhr müssen Sie uns noch etwas genauer erklären, Lindemann,« sagte der Gutsherr. »Daß Sonne und Schatten zwei untrügliche Zeitbestimmer sind, kann ich wohl verstehen; wie aber der Magen als Uhr dienen kann, das ist mir noch ein Rätsel.«

Lindemann zögerte ein wenig und begann 310 erst mit seiner Erklärung, als der Baron mit dem Finger drohte und verlangte, daß er dreist hinterm Busche hervorspräche.

»Mit Verlaub denn zu sagen,« fing der Lindenhüttenvater nun an, »so ein vornehmer Magen geht gewöhnlich nicht so sicher und richtig und kann darum auch keine so gute Uhr sein wie so ein ausgehauter alter Holzhauermagen. So ein vornehmer Mensch ißt, wenn er will, manchmal gewiß nur aus Langeweile; der ißt sozusagen 'mal dann und 'mal dann. So ein Holzhauer oder Feldtaglöhner aber ißt nur zu seinen ganz bestimmten Zeiten, die sich immer gleich sind, sich nie ändern und die genau mit der Sonne kommen und gehen; er ißt auch gewöhnlich immer gleich rauh und schlicht vom Topfe oder vom Brette weg und weiß, wie lange es hiebei und dabei braucht, bis die Pfundstücke unten sind. Ja, und wenn er dann alles zusammen nimmt und die eine Uhr an der andern kontrolliert, stimmt's, sage ich Ihnen, auf die Viertelstunde, wenn's schon so genau stimmen müßte.«

Der Baron ließ mit behaglichem Auflachen die Hand über seinen in der Morgensonne glänzenden Bart gleiten, drohte seinem belustigten Töchterchen mit dem Finger und sagte: »Siehst du, Kleine, da hat uns der Lindenhüttenvater 311 auch gleich eine kleine Lehre eingewickelt, die es wohl wert ist, von den sogenannten vornehmen Leuten beherzigt zu werden.«

In diesem Augenblicke kamen von allen Ecken und Enden die Taglöhner herbeigeströmt. Herüber und hinüber schallten die Morgengrüße, – und mancher Gruß klang fast wie ein Aufjauchzen.

Der Baron rief den Lindenhüttenvater noch einmal an, klopfte ihn auf die Schulter und fragte: »Wie ist's, Lindemann, hätten Sie nicht Lust, Ihr Häuslein in Hilgenthal mit einem Häuslein in Volkerswalde zu vertauschen? Die langen Hin- und Herwege sind doch große Strapazen. Sie sollen hier ein Haus mit schönem Obstgarten ganz als Ihr Eigentum halten können.«

Der Baron sowohl wie seine Tochter hatten geglaubt, Lindemann würde lieber heute als morgen nach Volkerswalde herüberziehen; aber wie sahen sie sich im Irrtum!

Lindemann dankte herzlich für das große Wohlwollen und schüttelte doch zugleich bedächtig den Kopf. Der Herr Baron, sagte er, mache sich keinen Begriff davon, wie lieb ihm die Wege seien, mit welcher Lust er sie ginge. Es sei gar zu schön, so mit leichtem, frohem, frommem Herzen durch die herrliche Gotteswelt dahin und daher zu wandern. »Und wenn wir nach so 312 einem Tage wieder unter unsere Linde zurückkommen und ihr liebes Flüstern und Raunen hören – und wenn dann die Kleinen uns jubelnd entgegenspringen – und die Großen so freudig über die Heketür gucken – – o Herr, ich weiß mir kein größeres Glück als das! – Daß ich's nur gerade heraussage: Ich kann mein Häuschen nicht vertauschen, und böte man mir auch ein noch so stolzes Haus dafür. Wem's das eigene Herz nicht sagt, der begreift's nicht, wie wurzelfest wir mit der Lindenhütte und dem Lindenbaume verwachsen sind. Auf der Schwelle, über die wir heute ein- und ausgehen, ist vor mehr als zweihundert Jahren schon unser Stammvater aus- und eingegangen; und derselbe liebe Baum, der heute unsere Freude ist, ist auch seine Freude gewesen, und er hat gesagt:

›Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten!‹

»O, sehen Sie nur einmal unsere Linde an! Schon lag die Axt an ihren Wurzeln. Jetzt aber ist die Axt wieder weggenommen. Die Linde steht herrlich, neugesichert da, und der Lindenhütte kann's nun auch nicht fehlen. Gott sei Dank und Ihnen, Herr Baron, und Ihnen!«

»Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Lindemann und geben mir zu denken,« sagte der 313 Gutsherr bewegt. »Es spricht eine große und schöne Tugend, eine echt deutsche Eigenschaft aus Ihrer Seele und Ihren ehrlichen Augen: die Treue gegen die Heimat, die Liebe zu der wenn auch noch so kleinen Scholle, auf der man geboren ist, auf der einen liebe Eltern und Geschwister an der Hand führten, auf der man den Sarg der Eltern und die Wiege der Kinder stehen sah. O es ist etwas Großes, Bedeutsames um diese selbstlose Treue mit ihren stillen Opfern! Mit ihr steht und fällt das Beste unseres ländlichen Volkstums, ja, unseres Volkstums überhaupt; denn an ihr bricht sich die stürmende Macht des revolutionierenden Zeitgeistes. Ich kann einen solchen Mann nur noch um so höher achten und schätzen, je weniger ich es ihm in Anbetracht der Umstände verdenken könnte, wenn er schließlich die alte Schollentreue preisgegeben hätte. Ich fühle mich aber auch durch Ihr Beispiel aufs neue ermuntert und ermutigt, meinen Tagelöhnerfamilien zu einem Heim auf eigener Scholle zu verhelfen, in dem sie einwurzeln, sich innerlich stählen können, um gestützt und geschützt zu sein gegen solche Windmacher, wie der schwarze Jerx einer ist.«

So froh und fröhlich wie heute waren Vater Lindemann und Fritz Bonder zuvor noch nicht 314 an die Arbeit gegangen. Es konnte nicht fehlen, daß sich ihr Frohgefühl auch allen andern Tagelöhnern mitteilte. Ein helles, fröhliches Lied, das wohl schon seit hunderten von Jahren in Volkerswalde und Hilgenthal gesungen sein mochte, ward unwillkürlich angestimmt, und dabei flog die Arbeit, als wäre sie ein Frühlingsspiel.

Der Baron und sein Töchterlein blieben lächelnd und lauschend stehen, als sie das Lied erklingen hörten:

»Dort droben vor meines Vaters Haus
Da steht eine grüne Linde;
Darauf saß einst Frau Nachtigall
Und sang mit süßer Stimme.

»Frau Nachtigall, klein Vögelein,
Willst du mich lehren singen?
Ich will dir deinen Fuß mit Gold beschlan,
Deine Händ' mit goldnen Ringen.«

»Was frag' ich nach dem roten Gold,
Was frag' ich nach goldenen Ringen?
Ich bin ein klein Waldvögelein,
Kein Gold kann mich bezwingen.«

»Bist du ein klein Waldvögelein,
Kann dich kein Gold bezwingen:
So zwingt dich Reif und kalter Schnee,
Wenn ohne Laub die Linden.«

»Und zwingt mich Reif und kalter Schnee,
Wenn ohne Laub die Linden,
So hab' ich doch zwei Flügelein,
Daß ich den Frühling kann finden.« 315

Das Lied machte in seiner eigenartigen Frische und Sinnigkeit einen ergreifenden Eindruck auf die Leute des Schlosses. »Wer ist wohl das unschätzbare, unbezwingliche und doch so selbstlose Waldvögelein?« mußte der Baron unwillkürlich ausrufen.

»Sie sind es selbst, die frohen Sänger und fleißigen Arbeiter!« rief die Freiin begeistert, worauf der Baron erwiderte: »Ja, Kind, du hast recht, jenes Waldvöglein in seiner frohgemuten Anspruchslosigkeit und Festigkeit ist das echte Naturvolk, wie es unmittelbar aus Gottes Schöpferhand hervorging. – Und das sollten wir nicht hoch halten? Dafür sollten wir nicht alles tun wollen, was in unsern Kräften steht? Gott helfe uns und erhalte diesem Volke immer und ewig den Sinn des kleinen Waldvögeleins, von dem es so bezaubernd zu singen weiß.«

Wundersam erfrischt gingen Vater und Tochter in ihr schönes Schloß hinauf und sprachen bei der Frühstückstafel noch lange davon, was man tun müsse, tun könne und tun wolle, um jenen frohen Liedesklang in Hütte und Schloß zu erhalten. –

»Ein schönerer Tag wäre noch nicht dagewesen,« meinte Fritz, als er darnach mit Vater Lindemann und den andern zum Wegemachen ging. 316

Allein – man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, dachte Lindemann.

Kurz vor Mittag kam denselbigen Weg, an dem sie arbeiteten, der Holzvogt von Hilgenthal gegangen.

Lindemann erbebte vor innerer Erregung, als er im flüchtigen Hinblick den schleichenden Gang und das hämische Gesicht des Holzwächters gewahrte.

Ohne Gruß schlich der Unhold an der seiner nicht achtenden Arbeiterschar vorüber; dann sah er sich plötzlich um, zog einen Brief aus der Tasche und stieß ein kurzes, höhnisches Lachen aus.

Die Tagelöhner hoben die Köpfe und fragten wie aus einem Munde: »Wer ist der?«

Lindemann schwieg still, und Fritz Bonder schwieg; aber ein alter Mann antwortete: »Der muß ein ganzer Halunke sein, denn das ist ein Halunkenlachen!«

Langsam verging der Tag.

Mit schwermutsvollem Gesicht betrat Lindemann gegen Abend das Schloß.

Auf dem Antlitze des Barons lag ein milder Ernst, der aber einem Lächeln wich, als Lindemann vor ihm erschien. »Ei, da ist ja mein wackerer Lindenhüttenvater!« rief der Schloßherr und deutete freundlich auf einen Stuhl.

»Herr Baron,« sagte Lindemann mit 317 gepreßter Stimme, »wir haben den Holzvogt von Hilgenthal heute zu Ihnen aufs Schloß gehen sehen.«

Der Baron ging erregt durchs Zimmer, während sein frisches Gesicht einen fast zornigen Ausdruck annahm: »Deswegen machen Sie sich nur keine Gedanken, Lindemann. Ich kann es ja freilich nicht leugnen, daß ich den widerwärtigen Besuch Ihretwegen gehabt habe.«

»Ich wußte es!« seufzte Lindemann aus tiefster Brust und senkte den Kopf.

»Nur deswegen nicht den Kopf sinken lassen,« sagte der Baron mit stählerner Stimme. »Sie haben nichts zu befürchten. – Ebenso sehr wie der Herr Graf sich von Ihrer Gefährlichkeit überzeugt hält, halte ich mich überzeugt von Ihrer Rechtschaffenheit, von der völligen Tadellosigkeit Ihres Charakters. – Freilich, wenn der Brief, den mir der Kerl von dem Grafen überbrachte, nicht auch lediglich aus Anlaß völlig falscher Vorspiegelungen geschrieben ist, muß es ja unter der gräflichen Arbeiterschaft sehr bedenklich aussehen. Der Brief spricht von einer bösartigen Gärung, von einer versuchten Meuterei, von einer sozialdemokratischen Seuche und einer unbedingt zu erwartenden Katastrophe. Daran seien aber nur allein wir beide schuld, ich, weil ich Ihnen und 318 Ihrem jungen Freunde in meinem ›Zukunftsstaat‹ eine Zuflucht geboten hätte, und Sie, weil Sie die Leute mit dem Volkerswalder Zukunftsstaate kitzelten und sie dadurch mit den Hilgenthaler Verhältnissen immer unzufriedener machten.« Der Baron lachte, schüttelte den Kopf und fragte: »Steht es wirklich so arg, Lindemann? Sie dürften wohl den wahren Zustand besser kennen als der Herr Graf.«

Lindemann nickte. »Freilich ist die unter der gräflichen Tagelöhnerschaft eingetretene Gärung allmählich schlimm geworden. Die Herzen sind voll von Groll und Bitterkeit. Die Menschlichkeit, möchte ich sagen, bäumt sich unter den Rutenstreichen einer unbarmherzigen und ungerechten Behandlung. Aber es ist, als hätte der Graf – bei Gott, man muß es sagen – den Kopf immer unten im Wasser und könnte die Augen und Ohren deswegen nicht aufmachen.«

Der Baron nickte lebhaft und ging sinnend ans Fenster, deutete hinaus und schüttelte den Kopf. »So schön ist die liebe Gotteswelt! Könnte sie es nicht für alle Menschen sein, ob sie im Schlosse wohnen oder in bescheidenster Hütte? Kann sie aber für die einen so schön sein, wenn sie es für die andern nicht ist? Was kann denn nun der Graf von Hilgenthal von dieser schönen 319 Gotteswelt haben, wenn all seine Leute nichts als Kummer, Groll und Sorgen darin herumtragen? Muß sich nicht alles für ihn und für alle in ein trostloses Grau verwandeln?« Er sah den Lindenhüttenvater an, schüttelte wieder sinnend den Kopf und sagte: »Schon die plötzliche Entsendung des Bräutigams meiner Elfriede nach Ungarn ließ deutlich erkennen, daß der Graf die Auflösung des Verlöbnisses verfolgt; jetzt nun bietet Ihre Person ihm den längst gesuchten Vorwand, einen offenen Bruch mit mir herbeizuführen. So umständlich kann diese unglückliche Art Menschen sein, wenn es ihr darauf ankommt, die schönen Farben der Gotteswelt in ihrem öden, kleinen Einerleitopfe zusammenzurühren! Warum schickt er mir nicht einen stolzen Reiter, der im Galopp auf mein Schloß zujagt, den Strauß jungen Glücks uns zurückgibt und wieder davon galoppiert! Das wäre des Grafen Bote. Da schickt er mir diesen schleichenden Kerl mit der Galgenphysiognomie und mit so 'nem griesgrämigen, gewundenen Briefe! Als hätte der alte Herr auch gar kein Mark und kein Blut mehr. Ich weiß ja doch, was er will, wäre ihm auch längst in der erforderlichen Weise entgegen gekommen; halte mich nur einstweilen noch nicht für berufen, dem lieben Gott ins Handwerk zu pfuschen.« 320

Er mußte rasch abbrechen, denn die Tochter, der »Sonnenschein meines Lebens«, wie er sie lächelnd bezeichnete, trat herein.

Lindemann meinte, als sie ihn so freundlich grüßend ansah, daß ihre holde Gestalt über Tag etwas Gedrücktes bekommen hätte, daß auch ihre lieben Augen nicht so hell und klar waren wie am frühen Morgen; es schien ihm, als hätte sie geweint, darob wälzte sich eine Last auf sein Herz, daß er mühsam nach Atem ringen mußte.

Herr von Rausen aber klopfte ihm wieder freundlich auf die Schulter und sagte: »Laßt mir nur den Kopf nicht hängen, Lindemann. Was kommt, kommt mir!« und entließ ihn mit einem kräftigen Händedrucke.

Fritz Bonder war langsam vorausgegangen. Außen am Dorfe setzte er sich auf einen halb aus dem Boden ragenden Kreuzstein und wartete des väterlichen Freundes. Er wartete seiner in Hangen und Bangen, und als er ihn endlich daherkommen sah, stockte ihm fast der Atem.

»Fritz, Fritz,« rief Lindemann ihm zu, »siehst du: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – er hat ein herbes Ende genommen. Unser Dämon ruht nicht, bis er uns vernichtet, vom Erdboden weggetilgt hat.«

Fritz ballte die Faust. »Und das soll einer 321 alles so geduldig hinnehmen, als wär's ein Schicksal!«

Lindemann nickte und blickte düster. »Also ist nun unsere helle Lust und Freude schon wieder dahin. Und da kommt nun aus allen Ecken der neue Frühling, als sollte uns der traurige Zwiespalt unseres Lebens so recht, recht deutlich gemacht werden. O Gott, vergib mir, wenn ich hadre! Der Baron weist uns zwar nicht fort, das gewinnt er nicht über sich – zwei-, dreimal hat er mir gesagt, ich solle mir deswegen keine Gedanken machen; aber Fritz, – müssen wir nun auf all unsern Aus- und Eingängen und bei aller Arbeit, die wir in Volkerswalde verrichten, nicht immer denken, daß wir dem Glücke des lieben Brautpaares im Wege stehen?«

Die Amsel, die zum ersten Male aus dem jungen Unterholze jauchzte, hörten sie nicht. Als sie endlich über den Bekesteg gingen, seufzte Lindemann: »Wenn nun unsere Mutter das erfährt!«

Aber Mutter Lindemann wußte es schon. Mit verweinten Augen trat sie den Ankommenden entgegen.

Der Holzvogt hatte es im Laufe des Tages geflissentlich im ganzen Dorfe herumgebracht, daß 322 die beiden »Leichenbitter«, wie er Vater Lindemann und Fritz Bonder nannte, beim Baron von Rausen bereits wieder »ausgebacken« hätten. Der Graf hätte ihn mit einem Briefe nach Volkerswalde gesandt und darin den Baron aufgefordert, die »Jerxmänner« sofort aus der Arbeit zu entlassen, widrigenfalls das Verlöbnis als aufgehoben zu betrachten sei. Denn der Graf wolle keine Verwandtschaft, die sich so gemein mache mit Sozialdemokraten und dergleichen Leuten. Der Holzvogt benützte die Gelegenheit, um seine große Wichtigkeit und Macht vor den Leuten einmal wieder ins Licht zu rücken, so daß sie fast glauben mußten, als hätte er den Brief dem Grafen diktiert. – –

Lindemann stützte den Kopf und starrte lange schweigend vor sich hin; er fühlte sich von einem Mißmut eingenommen, wie er ihm in der ärgsten Zeit seines Lebens nicht gekommen war.

Draußen unterm Lindenbaume spielten und sangen die Kinder. Die Zeit zwischen Abendbrot und Schlafengehen gehörte dem Spiel. Die frohen Spieler wußten nichts von der neuen Wendung im Leben ihres Vaters. Das betrübte Gesicht der Mutter, die jetzt an der Tür erschien und ans Zubettegehen mahnte, gewahrten sie 323 nicht, denn dazu gab der Frühlingsabend noch nicht Helle genug.

Fröhlich sprangen die Kinder in die Stube, um Fritz und um den Vater herum, mit ihnen den Gutenachtgruß auszutauschen.

Da zuckte es durch den Körper Lindemanns; er richtete sich rasch auf und rief von ganzem Herzen: »Gute Nacht, Kinder! Schlaft wohl, Kinder!« Als sie darauf hinaustrippelten und die Leiter hinauftrappelten, atmete er tief auf und rief laut und leicht: »Gott sei Dank, daß es treibt und grünt und blüht!«

Das konnte die Mutter noch hören. Während sie nun mit den Kindern die Leiter hinaufstieg, winkte Vater Lindemann Fritz hinaus. Sie setzten sich auf eine Wurzel des Lindenbaumes. Die herbe Abendkühle, die durch die knospenden Zweige strich, tat ihnen wohl, denn drinnen im Stübchen hatte, wie es ihnen vorkam, eine drückende Schwüle geherrscht.

»Fritz,« hob der Vater leise an, »wir müssen rasch etwas beschließen, daß unsere Mutter wieder ein helles Gesicht und ein leichtes Herz bekommt. Sie wird sich's schon selbst gesagt haben, daß unseres Bleibens auf dem Volkerswalder Gute nicht mehr sein kann. Nicht wahr, wir könnten keine frohe Stunde mehr dort haben? Ist der 324 Herr Baron so edelmütig, gegen den Willen des Grafen, auf den er doch der Brautleute wegen Rücksicht zu nehmen gezwungen ist, uns im Brote zu behalten, so ist es nun an uns, zu zeigen, daß wir, obwohl arme und niedrige Leute, doch auch eine Ehre in uns fühlen, die uns verbietet, fernerhin in Volkerswalde zu arbeiten. Es ist ein schmerzliches Opfer für uns; aber bringen wir es den Baronsleuten nicht, werden sie uns ohne Zweifel noch ein viel schmerzlicheres Opfer bringen müssen. Ich habe mir's vorhin so zurechtgelegt: Es ist Frühling, der Sommer steht vor der Tür, – da kann man allerorten fleißige Hände brauchen. Nur in Hilgenthal bieten wir uns nicht wieder an. Den schweren Gang im Vorwinter vergeß' ich all meine Lebtage nicht wieder. Ich denke an das Tiefenröder Rittergut, wo sie dies Jahr so viele Polen und Eichsfelder haben.«

Seufzend stimmte Fritz zu.

»Nun, dann steuern wir auf das Tiefenröder Rittergut los,« entschied Lindemann festen Tones. »Und das morgen am Tage! Einer geht nach Volkerswalde und sagt die Arbeit auf, der andere geht nach Tiefenrode und sagt die Arbeit an!«

Sie schwiegen beide stille. Fritz sprang auf. Es war auch unter der Linde plötzlich ganz unerträglich heiß und schwül geworden. – 325

»Fritz, weinst du?« fragte der Vater. Sie konnten einander ja nicht ins Gesicht sehen. Es dauerte eine Weile, ehe Fritz eine Antwort gab. »Hanfriederpate,« schluchzte er, »es will mir das Herz abdrücken um der guten Mutter willen.«

»Junge – – es will's mir auch! Nimm dich zusammen, die Mutter kommt herab. Anlachen müssen wir sie – und wenn auch das Herz sich krampft. Beiße die Zähne aufeinander, Fritz! Knirsche einmal – stampfe einmal auf – und dann – Junge, dann kehr den Mann heraus!«

Gleich darauf trat die Mutter in die Tür. »Hört ihr droben das arge Geschimpf' und Gefluche? Die Holzhauer sind's. Ich habe sie aus der Bodenklappe hören können. Wahrscheinlich ist's wieder über den späten Feierabend, oder über eine andere Tücke des Holzvogts. – Gott mag wissen, was aus alledem noch werden soll!«

Vater Lindemann und Fritz, froh, daß die Mutter nicht auch ihr Gestöhn gehört hatte, horchten, den Atem anhaltend, nach der Straße hin und vernahmen ein wüstes Stimmengewirre, das immer näher kam, immer deutlicher wurde.

Eine grobe Stimme rief: »Ich warte nur, wenn's kracht, dann kracht's aber ordentlich!« 326

»Da müßte man ja ein Engel sein!« rief eine helle Stimme.

»Nein, Teufel müßten wir sein, ein jeder mit einer langzinkigen glühenden Forke!« schrie ein anderer dazwischen.

»Schwere Not, was müssen wir Schindluder mit uns spielen lassen um den schmalen Bissen Brot!« klagte der vierte, während wieder ein anderer ausrief: »Ja – da sollte man sich ernstlich besinnen, ob man nicht besser täte, die Hände in den Schoß zu legen und Weib und Kind verhungern zu lassen. So 'n Leben oder gar kein Leben!«

Allmählich verloren sich die Stimmen zwischen den Häusern; nur einen – es war Gottlieb Schachtebeck, wie Fritz sagte – hörten sie noch schreiend rufen: »Nach dieser Zeit kommt aber eine andere Zeit, und so bleibt's nicht in Ewigkeit!«

Die Lindenleute, die auch die andern an den Stimmen errieten, fühlten sich unwillkürlich mit ergriffen von Grimm und Schmerz und blieben unter der raunenden Linde stehen, bis die Nacht den letzten Ton verschlungen hatte.

Am andern Morgen, als die Sonne die ersten Strahlen über die Hirtenberge schoß und der graue Saatfink gerade anfing, seinen 327 Gesang vom vorigen Jahre neu einzustudieren, gingen Vater Lindemann und Fritz Bonder, beide mit zur Erde gerichtetem Blick, wieder zum Volkerswalder Hoftor herein. Vergnügt wie immer sammelten sich die übrigen Tagelöhner um sie, auf die jeder groß hielt, mit denen der eine noch lieber im Gliede stehen wollte, als der andre; aber jähe Betrübnis malte sich in vielen Gesichtern, als man hörte, daß die Hilgenthaler heute nur noch gekommen waren, um in ordentlicher Weise aufzuhören und Abschied zu nehmen. Man drang in sie, stellte ihnen vor, wie gut es in Volkerswalde wäre und daß sie es nirgends so gut wieder bekämen; allein sie mußten sich bald überzeugen, daß sie nichts vermochten. Vater Lindemann schüttelte auf all das Zusprechen und Mahnen nur den Kopf, und als der halbe Morgen herum war, legten beide die Spaten nieder und nahmen in rührender Weise von einem nach dem andern Abschied.

Während Lindemann sich anschickte, aufs Schloß zu gehen, machte sich Fritz, wie es verabredet war, sofort auf den Weg nach Tiefenrode, um sie dort anzumelden.

Der Baron, welcher sich von seinen Leuten, die ein besonderes Anliegen an ihn hatten, zu 328 jeder Stunde des Tages sprechen ließ, saß an seinem Schreibtische und prüfte die Wirtschaftsbücher, die ihm sein Rentmeister vorgelegt hatte. Es mußte das, beiläufig gesagt, jeden Morgen geschehen, und die Beamten mußten sich bei der Buchführung der peinlichsten Sorgfalt befleißigen, denn der Baron war ein sehr sorgfältiger und genauer Revisor.

In diese Arbeit vertieft, überraschte ihn die Stimme seines Arbeiters.

»Lindemann!« rief er erstaunt.

»Herr Baron,« erwiderte er mit traurigem Blick, aber in einem Tone, dem man die rechte Entschlossenheit anmerkte, »ich komme, Sie zu bitten, mich und den Jungen abzulohnen!«

»Lindemann!« rief der Baron, während jener in schwerem, seufzendem Ernste wieder anhob: »Den Dank, den ich Ihnen schuldig bin, Herr Baron, den kann ich nicht in Worte fassen.« Die Stimme versagte ihm; er tat, als müsse er husten.

»Lindemann, wie soll ich das verstehen?« Der Baron trat dicht vor ihn hin und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Hab' ich Ihnen was zu leide getan?«

»Ich wollte, Sie hätten's, Herr Baron! – Dann würde mir dieser Augenblick nicht so schwer.« 329

»Hast du etwa,« wandte sich der Baron zu der eben eintretenden Tochter, »unserm Freunde hier das Leben verleidet?«

Sie lächelte und wünschte dem Vater Lindemann in ihrer liebreizenden Weise guten Morgen. Da bemerkte sie sein verändertes Aussehen und blickte stutzend bald ihn, bald ihren Vater an.

»Ja, Kind,« sagte dieser, »verwundere dich nur, der Mann besteht darauf, sofort abgelohnt zu werden.«

»Aber Lindemann!« rief die Freiin. Und da er wie ein Schuldiger zu Boden sah, schüttelte sie den Kopf. »Haben Sie vielleicht an einem andern Orte Arbeit genommen?«

»Ja – in – Tiefenrode!« antwortete Lindemann mit stockender, stöhnender Stimme und wandte sich rasch um. »Nehmen Sie es mir nicht für übel!« stammelte er noch und ging hinaus. –

Der Baron sah ihm mit großen Augen nach und schüttelte verdrießlich den Kopf.

»Vater, was denkst du?« fragte immer noch mit erstauntem Blick die Tochter.

»Ja, was denke ich, Kind,« entgegnete er ärgerlich. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es wird mir ganz spinnwebig vor den Augen. Was soll man nun von dem Manne denken?«

»Vater, lieber Vater – hast du auf einmal 330 ein altes – – Grafenherz gekriegt? Merktest du gestern nicht, wie gewaltig es in ihm zu kämpfen begann, als du ihm andeutetest, was in dem Briefe des Grafen gestanden? Glaubst du wohl, daß er deswegen die ganze Nacht nicht hat schlafen können, daß er sich mit dem Gedanken hat plagen müssen, sein Hiersein habe es verschuldet, daß das Verhältnis zwischen uns und der gräflichen Familie sich so schlimm zu gestalten droht? Glaubst du wohl, lieber Vater, daß er lediglich der Pein dieses Gedankens ausweichen will, wenn er uns so plötzlich ohne allen Grund verläßt und Arbeit in Tiefenrode annimmt?«

Der Baron schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Wahrhaftig, du liebe Hellseherin, ich bin ein schlimmer Schwarzseher – du hast mich sehr beschämt, Kind. Sieh, so schwer fällt es einem, bei armen Tagelöhnern ein solches Feingefühl, einen solchen Adel der Gesinnung zu suchen. Ja, Elfriede, du hast recht, es ist mir wieder rein und hell geworden vor den Augen: Dieser Hilgenthaler Lindenhüttenmann ist ein Ehrenmann durch und durch. Ich habe das arme Volk von Herzen lieb und möchte aufjauchzen über diesen kostbaren Edelstein, den ich wieder aus ihm hervorglänzen sehe. Wie sagt doch dein Dichter Lenau einmal? 331

›Schön ist die Armut, wenn sie, keusch verhangen
Im rohen Sturm als eine Jungfrau schreitet,
Die Hüllen sorglich um die Blößen breitet,
Den Feind besiegend mit verschämten Wangen.‹«

»Nicht wahr, Vater?« rief das Fräulein mit leuchtenden Augen, »das paßt doch wundervoll auf die Lindenhüttenleute! Darum ist es mir auch immer eine so eigene Freude gewesen, wenn ich sie sah und mit ihnen sprechen konnte.«

Und ein Bote ward schleunigst hinter dem Hilgenthaler dreingesandt.

Allein der Bote ereilte ihn nicht mehr, denn er war gleich nach Tiefenrode hingegangen, um dort womöglich noch einen halben Tag zu machen. Armer, guter Vater Lindemann! Welchen schweren Anfechtungen solltest du nun abermals ausgesetzt werden!

Bei der Lehmgrube vor Tiefenrode, an der der Weg von Volkerswalde vorüberführt, trafen die beiden wieder zusammen. »Na, Junge?« fragte Lindemann starren Blicks.

Fritz ließ traurig den Kopf hängen. »Ach, Hanfriederpate, hier ist es nichts für uns. Hier werden nur noch Polen und Eichsfelder eingestellt, und gestern ist auch 'n ganzer Haufen Schweden angekommen. Der Herr von Tiefenrode will von den alten einheimischen Arbeitern nichts mehr 332 wissen, weil sie so anspruchsvoll und doch ganz unzuverlässig seien; er will ihnen zeigen, daß es sehr wohl ohne sie ginge und längst ohne sie gegangen wäre. Darum ziehen nun die einheimischen Arbeiter fast alle fort, die einen gehen in die Steinbrüche, die anderen ziehen nach Kassel, nach Göttingen, nach Hannover, nach Essen und noch weiter; wer so viel zusammenkriegt, daß ers Schiff bezahlen kann, zieht nach Amerika, wo auch schon viele voraus hingemacht sind.«

Lindemann lehnte sich an den Vogelbeerbaum, der am Wege stand, und ließ die Arme einen Augenblick schlaff herabhängen.

»Junge, es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen ein Gut weiter gehen. Ist's nicht hier, so ist's doch sicher dort. Nur möge Gott verhüten, daß wir den Hilgenthaler Bauern noch einmal kommen müßten.«

Sie gingen.

Es läutete zu Mittag.

Sie gingen. –

Es läutete zu Abend.

Sie gingen. –

Gingen von Herodes zu Pilatus und wurden hier wie dort kurz und schroff abgewiesen. Es zeigte sich, daß den Herren das Kommen der beiden »Sozialdemokraten« bereits sehr deutlich 333 signalisiert war. Hätte sie auch mancher gar gern angenommen, weil es hie und da schon an tüchtigen Arbeitsleuten fehlte, so wollte doch der eine es nicht mit dem Grafen von Hilgenthal verderben und der andere nicht das Risiko auf sich nehmen, seine Arbeiter mit dem »sozialdemokratischen Gifte von Hilgenthal« zu »infizieren«.

Die Turmuhr tat acht Schläge, und im Schloßpark quiquilierte die Schwarzdrossel, als unsere beiden Freunde nach Hilgenthal zurückkamen. Droben lag das Schloß, schweigend, von goldenem Mondlicht umflossen. Drunten stand des Holzvogts Haus im Hinterdorfe, dicht an dem Wege, den sie kamen, protzig aufgeputzt mit dicken, gelben Farben, die Wände wie das Försterhaus mit schwarzblauen Schiefertäfelchen behangen, und über der gelben Haustür gar ein Hirschgeweih, wie es der Oberförster an seinem Hause hatte.

Neidlos gingen die Lindenhüttenmänner daran vorüber. Ihre Seele war matt, und die Zunge klebte ihnen am Gaumen. Da hörten sie das Plätschern des Brunnens, der an dem Holzvogtgarten steht. Rasch sprang Fritz hinzu und schöpfte mit der hohlen Hand von dem Wasser.

Vater Lindemann zögerte erst; als er jedoch den Jüngling so erquicklich schlürfen hörte, trat 334 auch er rasch hinzu und neigte sich über den Brunnen. Sie taten herzhafte Züge.

Da entstand ein greulicher Tumult. Um den Garten herum kamen die Holzwächterbuben herangestoben, fünf an der Zahl, alle rot und stramm.

Plumps! warfen sie Hände voll Staub und Steine in das Brunnenwasser und johlten und schrieen dazu: »Linnemann, Pinnemann! Schinnemann! – Ist nichts dran! Bonder – kriegt 'n Donder!«

Schon hatte Fritz den Arm ausgereckt, um etliche ›Donder‹ auszuteilen; doch zog Lindemann ihn rasch mit sich fort. Und sie gingen schweigend weiter.

»So kleines Ungeziefer muß man nicht achten, Fritz, sonst müßte man es tot treten.« 335


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