Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Drittes Kapitel.

Ein Mittag in der Lindenhütte.

Wie heißt's in jenem Liede?

»Am Hüttchen klein steht groß ein Baum,
Vor welchem siehst das Hüttchen kaum;
Schützt gegen Sonne, Kält' und Wind
All', die darin versammelt sind!«

Ohne Zweifel hat sich der Dichter die Anregung zu dem Verslein aus Hilgenthal geholt; denn es läßt sich kaum denken, daß sonst irgendwo in der Welt ein solch inniges Verhältnis zwischen einem Häuschen und einem Baume bestehen könnte, wie es in Hilgenthal tatsächlich in wundersamster Weise wahrzunehmen ist.

Du stehst an der hilgen Beke und hörst von droben her einen hellen Kinderjubel herabschallen. 37 Bist du ein Kinderfreund und ein Freund armer Leute? Ei, so geh und klimme den Hügel hinan! Sieh, dort steht Baum und Hütte, die ich meine.

Lindenbaum und Lindenhütte!

Welche Pracht, solch ein uralter, in mächtiger Rundung gewachsener Dorflindenbaum!

Mit einer wahrhaft kindlichen Freude und Innigkeit sehen denn auch die Lindenhüttenleute zu ihrer Linde auf.

Es besteht ein seltsam patriarchalisches Verhältnis zwischen dem Lindenbaume und den Lindenhüttenleuten; soll doch der Pflanzer der Linde auch der Erbauer der Hütte gewesen sein. Also wäre die Linde ja ein lebendiger Zeitgenosse des Stammvaters der Lindenhüttenleute.

Und dieser Stammvater soll mit dem Sprüchlein von hinnen geschieden sein:

»So lang' die Linde bleibet stehn,
Wird mein Geschlecht zur Hütte gehn;
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.«

Und die Linde, so behauptet jung und alt in der Lindenhütte, hat zu dem Sprüchlein eine Musik gemacht, die bald leise und wehmütig tönt, bald stark und stürmisch über das Häuschen braust. 38

Aber nie ist diese Melodie vernehmbarer als in Zeiten schweren Ungemachs. Wenn der Winter einzieht, dräuend und tobend, und große, bittere Not grinsend einbricht in die Hütte, dann pocht der Baum, obgleich selbst starrend von Eis und Schnee, unaufhörlich an die kleinen Schiebfensterchen und rauscht und ruft: »So lange ich bleibe bestehen, werdet ihr nicht untergehen: Gott behüt' uns beide!«

Oder es tönt auch wohl:

»Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden,
Und streut er Eis und Schnee umher:
Es muß doch Frühling werden.

Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll' auf Erden,
Nur unverzagt auf Gott vertraut:
Es muß doch Frühling werden!«

Um die oben beschriebene Mittagszeit stand Frau Lindemann, von wallenden Dampfwolken umhüllt, am Herde im Hintergrunde der Diele und legte Späne ins Feuer. Der Wind blies scharf durch das Küchenloch, Schneeflocken sausten genugsam mit herein und schmolzen zischend auf dem Deckel des Topfes, in welchem das Mittagsmahl brodelte. Der vom Winde zurückgestoßene Rauch wallte, da ihm kein anderer Ausweg zu 39 Gebote stand, vom Herde herunterwärts auf die nachtschwarze Diele, strömte zum Oberboden hinaus und hüllte so das ganze Häuschen in seinen schwärzenden Mantel.

Unter der schwarzen Bodenleiter stand ein flachshaariger Junge, der dürres Buchenreisig vor dem gekrümmten Knie brach, um es für Herd und Ofen zuzurichten. Mehrmals mußte er sich mit dem Kittelzipfel über die rauchgebeizten Augen wischen; nichtsdestoweniger sah er mit ihnen im Geiste in den hellsten, klarsten Christbaumglanz. »Mutter, Mutter,« rief er nach dem Herde hin, »wieviel Wochen sind's noch bis Weihnachten?« Eine unverhaltene Freude lag in der hellen Stimme.

Die Mutter, eine stille, nur manchmal wie aus tiefen Gedanken aufseufzende Frau, mit weichen Gesichtszügen, holte etliches von dem gebrochenen Reisig an den Herd und antwortete, indem sie wiederum aufseufzte: »Christel, das ist noch fast lang – fünf Wochen und mehr noch!«

Christel rechnete rasch heraus, wieviel Tage das noch waren, machte einen Luftsprung und lief zum Herde, schmiegte sich an die geliebte Mutter und jubelte: »O Mutter, wenn du was wüßtest . . .!« 40

Sie strich ihm mit der Hand durch das lockige »Polkahaar« und entgegnete sanft: »Was denn, Kind?«

Der Knabe verfiel bei der Frage jedoch in einen Schelmenhusten und rief: »Ei, das Christinchen bleibt so lang, ich will 'mal den Berg 'runter gucken, ob's endlich kommt.«

Mit einem Satze beinah war der Kleine unter der Linde, spähte ein Weilchen, auf der Stelle trippelnd, unverwandt ins Dorf hinunter und sprang über die Haustürschwelle zurück mit dem Rufe: »Halloh, Mutter, sie kommt!«

Frau Lindemann schob rasch die durchgebrannten Späne unter dem Topfe zusammen, ließ den Jungen auf das Feuer achten, wischte 41 sich mit der Schürze die gebeizten Augen und eilte unter dem Lindenbaume hin der Tochter entgegen, die unter der Last einer »Reise Wasser«, die sie drunten beim »Poste« geholt hatte, mühsam heraufwankte. »Armes Kind, ist dir's schwer geworden?« bedauerte die Mutter, indem sie die Last auf ihre Schultern nahm.

Christinchen jedoch zeigte ihr lieblich lachendes Gesicht, atmete tief auf und entgegnete: »Das ist mir gar nicht schwer geworden, Mutter! Sei nur nicht böse, daß ich ein wenig zu lang' ausgeblieben bin; ich habe Bonders Dortchenwase auch erst eine volle Reise besorgt. Ach, die gute Dortchenwase sieht so schrecklich elend aus. Wenn sie nur nicht stirbt! Mutter, ich hole ihr alle Tage eine Reise.«

Die Lindenhüttenmutter nickte dem Kinde zu und sagte: »Wenn man Armen und Kranken hilft, die noch ärmer sind als wir, dann hat man's nicht schwer, weil dann die Engel Gottes das meiste tun.«

»Ei, sieh, Mutter, darum ist mir auch die Reise für Bonders Dortchenwase so leicht geworden! Die eine Hälfte hat gewiß ein Engel getragen,« rief Christinchen freudig aus und griff mit beiden Händen in den Schnee, um sich einen Ball zu backen. 42

Als sie vor die Tür kamen, schrie der kleine, drollige Koch: »Geschwind, geschwind, die Klümpe sind gar, und eben sang's aus dem Kessel: ›Schütt' mich aus, schütt' mich aus!‹«

Der Schelm hatte recht, und während die Mutter den Kessel von der Zahnstange nahm, die über den Herd herabhing, warf Christinchen dem Bruder ihren schon arg zusammengeschmolzenen Schneeball auf den Buckel, um darauf geschwind in die Stube zu hüpfen und den Tisch in Ordnung zu bringen. Das ging aber nicht so leicht, denn mitten auf dem Tische lag ein Haufen »Grottwerk«, ein wildes, wirres Gemenge vom Buchenwaldboden, und um den Tisch herum saßen die Geschwister Ludwig, Hannchen, Lorchen und August, die aus dem»Grott« schon mehrere Häuslein feiner glänzender Bucheckern (die Hilgenthaler sagen »Buchnüsse«) herausgelesen hatten. Rasch wurde nun die Auslese in einen Beutel, das Unausgelesene in eine Mulde (»Molle«) getan, worauf Ludwig das zurückgebliebene »Grottwerk« von »Döppen«, »Sprickteilen« und Laub in den schmalen Kachelofen steckte, in dem nun bald ein anheimelndes Knistern und Knacken 43 entstand. Und während Christinchen den Tisch abwischte, das blaugeblümte Tischlaken auslegte und das zwei Jahre jüngere Hannchen Teller und Löffel herbeitrug, hielten die anderen Geschwister ihre kalten Hände an den Ofen. Die Lust war frostig; an dem Zittern der Hedeflocken, die in die undichten Fensterrahmen gestopft waren, verriet sich deutlich die hereindringende Novemberkälte. Der Ofen trug einen aus Lehm gemachten schmalen Aufsatz, dessen schwarzer Anstrich die geborstenen und neu verklebten Stellen nur teilweise verdeckte; er rauchte besser als er heizte, so daß ständig ein stärkeres oder schwächeres Schwelen in der Stube war.

Ludwig, ein schmal aufgeschossener Jüngling mit eingedrückter Brust und todblassem Gesicht, bückte sich hustend über den Spänekasten und legte ein paar frische Späne ein, wobei eine Rauchwolke aus der Ofentür drang.

Unterdessen hatten sich die Kleinen schon um den Tisch herumgesetzt. Nur Christel fehlte noch, der sich's in seinem Eifer nicht nehmen lassen wollte, der Mutter beim Hereintragen zu helfen.

»Ich esse vier, neun, zwei Klümpe, denn ich will ganz groß und stark werden wie ein Vater!« rief der vierjährige August in seiner herzhaften Drolligkeit und rückte mit dem Löffel in der 44 Hand auf seinem Platze hin und her, um die nötige Ellbogenfreiheit zu gewinnen.

Hoffnung und Hunger sollten aber noch auf eine schwere Probe gestellt werden. Ihr kennt doch die Geschichte: »Hopf, Marte, hopf, – da lag der Topf!«? Nun, da lag auch der Klümpekumpf, den Christel eben in die Stube tragen wollte.

Als die harrende Tischgesellschaft den Bardauzfall hörte, saß sie einen Augenblick ganz starr und wie angewurzelt; dann stürzte sie bis auf Ludwig, der hustend sitzen blieb, Hals über Kopf zur Tür hinaus.

Ach, da lag nun der schöne weiße Kumpf in Scherben, und eine Anzahl der prächtigsten Klümpe von der Welt mitten darunter auf dem Lehmboden! Konnte es einen größeren Jammer geben? Für den kleinen August wahrhaftig und gewiß nicht!

Alle schlugen die Hände über den Köpfen zusammen, und Christinchen rief in kläglichem Tone einmal über das andere: »Ach, die schönen, schönen Klümpe! Die schönen, schönen Klümpe!«

Zerknirscht, eine Zentnerlast auf dem Gewissen, stand Christel vor den Trümmern, hielt die Hände krampfhaft geballt und glaubte vor Scham und Gram in den Boden versinken zu müssen. Darauf tat er das rührende Gelöbnis, 45 durch achttägiges Hungern den Schaden wieder ausgleichen zu wollen.

Die gute Mutter schüttelte seufzend den Kopf und mußte doch ein wenig lächeln; sie hatte schon den Zeigefinger vor dem kleinen Pechvogel erhoben, ließ ihn aber wieder sinken und sagte zu der verzweiflungsvollen Tischgesellschaft, während sie die Klümpe sorglich auflas: »Ihr wißt doch, Kinder, Brot, daran die Mäuse genagt, oder auf dem der Schimmel trabt, gibt gesunde Zähne, und so 'n bißchen Sand scheuert den Magen rein.«

Auf das Wort hin, und da das Unglück nur den kleinen Kumpf betroffen hatte mit den trockenen Klümpen, erhellten sich die trübseligen Gesichter wieder, gingen die hungrigen Gäste getröstet an ihre Plätze zurück. Doch ehe sie die hölzernen Löffel in die gefüllten irdenen Teller tunkten, beugten sie andächtig die Köpfe und beteten der Reihe nach je ein Tischsprüchlein.

Während man aß, heftete sich das kummervolle Mutterauge oft auf das fahle, abgezehrte Antlitz des ältesten Sohnes; sie konnte nur mit Not einen schweren Seufzer unterdrücken, und wenn sie in die eigentümlich schönen und so eigentümlich glänzenden Augen des Jungen sah, hätte sie laut aufweinen mögen. Und doch lächelte 46 sie und tat ganz sorglos, wenn sie mit ihm sprach.

Er klagte, daß sie in diesem Jahre so wenig »Buch« hätten fegen können und daß sie das Wenige auch noch heimlich hätten fegen müssen; was er nun tun solle, wenn das bißchen »Buch« ausgelesen sei und es noch immer nicht besser mit ihm würde? Es drücke ihn wie ein Mühlstein, daß es die Eltern so schwer hätten und daß er nicht mit dem Vater ins Holz gehen und verdienen helfen könne.

Die Mutter tröstete: »Wir wollen alles dem lieben Gott anheimstellen, Ludwig, die neuen Zustände im Dorf sowohl wie deine Gesundheit. Mußt dich nur noch eine Weile recht schonen, Junge, und recht in acht nehmen, dann wird es schon wieder besser werden mit dir. Man soll dem lieben Gott nichts abzwingen. Nur Geduld müssen wir haben, ja und viel Geduld, wie Gott selber – ach ja! Aber warte nur, Kind, bis die Hornungsblümchen erst wieder kommen . . .«

»Dann holen wir dir welche,« riefen August und Lorchen fast wie aus einem Munde und nickten ihrem großen Bruder freundlich zu. Und da Ludwig schwermütig den Kopf schüttelte, bot August ihm in edler Entsagung den besten Kloß 47 an, den er auf dem Teller hatte und sagte: »Du kannst sie alle kriegen, Ludwig!«

Ludwig lächelte und strich dem Kleinen zärtlich über den Kopf.

Nachdem der Tisch wieder abgeräumt war, machten Christinchen und Christel sich eilig zurecht, um dem Vater das Mittagessen hinaus in den Wald zu tragen. Da hatte auch Ludwig schon keine Ruhe mehr und obgleich er eben erst mit einem starken Hustenanfall kämpfen mußte, griff er doch sogleich wieder nach der Mulde mit den unsortierten Buchnüssen und schüttete sie auf dem Tische aus.

Die Mutter seufzte und mahnte: »Kind, du tust's aus Übermacht, willst dich nicht gewonnen geben. Armer Junge, ja, du willst nicht müßig sitzen, willst verdienen helfen und machst dich ganz hin.«

Er lächelte schwer. »Laß mich nur, Mutter, so lange ich noch gehen und stehen kann, lasse ich nicht von der Arbeit und schaffe ich auch noch so wenig – 's hilft doch etwas.«

Da – o allmächtiger Gott im Himmel! Der Jüngling wankte und knickte zusammen wie ein Halm. Ein purpurroter Strahl quoll über seine Lippen.

Die Mutter sah's noch zur rechten Zeit, ein leiser Schmerzensschrei rang sich aus ihrem 48 Herzen. Sie umfing den Sohn und leitete ihn nach der Butze, einem Bettverschlage, der durch einen geblümten Vorhang verdeckt war. »Ach, du armes Kind,« schluchzte sie, »welchen Jammer muß ich an dir sehen! – Ja, weint nur, Kinder, unser Elend ist sehr groß!«

Der Ärmste richtete sich wieder auf und versuchte zu lächeln. »Was jammert ihr alle so sehr?« hauchte er über die blutigen Lippen, »es ist ja schon vorüber.«

Die Mutter faßte sich und bettete ihn mit so ruhiger Sorgfalt, daß auch die Kinder darüber wieder ruhig und getrost wurden.

»So, nun ruh dich, Kind, daß du den bösen Anfall wieder überwindest,« flüsterte sie, zärtlich über den Sohn gebeugt. Er sah die Teure dankbar an, zog ihr zum Troste eine lächelnde Miene und schloß die Augen.

Christinchen und Christel wischten sich die Tränen aus den Augen und schritten Hand in Hand zu dem Hilgenholze hinaus. Die große, dickbauchige Köze, die schwer auf Christinchens Rücken hing, und das breite, vierstrippige Holzlaken, das in kreuz und quer um Christels Brust geschlungen war, verriet deutlich genug, daß die Kleinen mit der bestimmten Absicht gingen, nicht nur was in den Wald hinein, sondern auch etwas 49 heraustragen zu wollen. Was sie hineinbrachten, enthielt der von Christinchen in der rechten Hand getragene, braune Henkeltopf mit dem Töpfersprüchlein:

»Ohne Arbeit, ohne Schweiß
Keine Ruhe und kein Preis.«

Christinchen trug wie gewöhnlich einen gestreiften, unten mit einer roten Kante gewirkten Beiderwandsrock und darüber eine gedruckte Nesseljacke; Christel war mit einer aus Hede gewirkten, grauen Hose und einem blaugefärbten leinenen Kittelchen bekleidet. Die flachshaarigen Köpfe hatten außer der glänzenden Flockenmütze, die ihnen die schalkhafte Frau Holle dann und wann einmal aufsetzte, noch nie Kapuze und Kappe getragen. Trotzdem oder gerade deshalb war das Haar voll und reich.

Frisch und froh liefen die Kinder über den hell knirschenden Schnee hinweg; sie sprachen immerfort von dem heil'gen Christ und schienen trotz ihrer braunen und blauen Backen den Grimm des Winters gar nicht zu merken.

Als sie gegen den Galgenberg kamen, von dem es bis zum Hilgenholze genau so weit ist wie zum Dorfe, tönte mit einem Male ein lustiges Schellengeläute hinter ihnen vom Dorfe herauf. Sie sahen sich um und gewahrten einen 50 prachtvollen, von zwei feurigen, schönen Rappen gezogenen Schlitten; darin saßen, in dicke Pelze gehüllt, der Graf von Hilgenthal und sein blühender Sohn Erwin, der erst vor einigen Tagen heimgekommen war.

Als die feurigen Rosse gerade an den Kindern vorbeisausten, mochte der schöne Grafensohn diese wohl bemerkt haben, denn er bog den Kopf nach der Seite, wo die beiden gingen oder vielmehr sich mühsam ihren Weg durch den hohen Schnee bahnten. Ob er's der armseligen Kindergestalten wegen tat? Die Kleinen erwogen diese Frage mit großem Eifer und einigten sich schließlich glückselig dahin, daß sie der Grafensohn, den sie ja so lieb hatten, weil er so gut war, wirklich angesehen habe. 51


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